Die Zeitreise in die hippologische Vergangenheit Österreichs führt diesmal in die 60er- und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als eine kleine Gruppe engagierter Enthusiasten dem heimischen Fahrsport neues Leben einhauchte.
Eine kalte, kraftlose Jännersonne sank hinter den Hügeln im Westen hinunter. Der alte Herr schaute dem Verschwinden des Lichts eine Weile zu und schloss dann mit energischer Geste die Fensterläden – er mochte Untergänge, auch die der Sonne nicht, sie bereiteten ihm Unbehagen und Wehmut. Mit einem Ruck drehte er sich um und schickte sich an, das Kaminfeuer zu bereiten – seine jungen Gäste hatten ihr Kommen angekündigt und er wollte aus seinem Archiv noch Fotografien vorbereiten – Pferdegeschichte und auch Geschichten um Pferde beim Fahren sollte heute das Thema sein.
Pünktlich erklang die Glocke – die junge Dame war als Avantgarde, als Vorhut des Besuches gekommen, trat ein, legte ab und wurde in die wohlig-warme Bibliothek geführt.
Der alte Herr eröffnete das Gespräch:
Kürzlich ist mir eine Plakatwand aufgefallen, auf der eine NGO, die sich um verwaiste Kinder kümmert, mit dem Foto eines kleinen Buben, ein Lamm am Arm, wirbt, dem die Worte
Du wirst Pat*in und ich werde Tierarzt
in den Mund gelegt werden. Jedes Mal, wenn ich an dieser Wand vorbeifahre, stößt mir der hier angeschlagene, fordernde Ton sauer auf. Hätte ich so mit meinen Eltern gesprochen, so wäre wohl die Antwort mit King Lear „Mend your speech, mein Sohn, Du hast Dich wohl im Ton vergriffen“ gekommen – zu Recht! Kann der Plakattext denn nicht lauten: Ich würde gerne Tierarzt werden, wenn Sie bitte meine Patenschaft übernähmen!“
Ich habe den Eindruck, dass der „Herzens- und Türöffner BITTE“ verschwunden ist – die Welt scheint nur noch aus Forderungen und Forderern und – nicht zu vergessen – ForderInnen zu besteht. Das Ärgernis beginnt bei mir, wenn Fernsehmoderatoren jedweden Geschlechts am Ende ihrer Sendung im Befehlston des Empathie-freien Imperativs „Machen Sie`s gut!!“ ins Mikrophon bellen und dabei auf ihren Schwindelzettel schauen.
„Sie haben recht, mit dem BITTE ist aber auch das DANKE abgekommen!“ gab die junge Dame zurück, als die Glocke neuerlich erklang und der junge Herr eintraf. Mit einem etwas spöttischen Lächeln trat er in den Raum. „Wird hier schon wieder die Welt beklagt oder gar verbessert und ….“ Indem er an das letzte Gespräch anknüpfte, fügte er Mephistos Worte hinzu „… ist auf der Erde ewig Euch nichts recht?“
„Scheitern, Probieren, Wehleidigkeit, hochgejubelte Startups, die nach drei Monaten Konkurs anmelden ist eine Grundeinstellung geworden – denken Sie doch, werte Gäste, jedes Pferd, das zu Beginn einer Dressur oder Springprüfung einen Fehler gemacht hat, würde sofort resignierend aufgeben; weiterzukämpfen – bei Pferden nennen wird diese Eigenschaft des zügig und zielstrebigen Vorwärtsstrebens SCHWUNG!“
Und indem er die Lichtbilder auf den Tisch blätterte, leitete der alte Herr zum gewünschten Thema des Abends über.
Zu Beginn des Wiederaufkommens von Fahren in der Freizeit – und später als geregelter Pferdesport, also Anfang bis Mitte der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, war die „Materialfrage“ dominierend – nur in wenigen guten Häusern hatten Fahrzeuge die Kriege, die Zeit und – allen Voran – die Besatzer unbeschädigt überstanden – Räder und Deichseln waren die Schwachpunkte, die so manche Ausfahrt oder so manche „forcierte Ausfahrt“ – also den Beginn von Marathonprüfungen - nicht überstanden haben. Als dann später Material keine Schwachstelle mehr darstellte, wurden die Begriffe „Radbruch“ oder „Deichselbruch“ zur Metapher für einen ungeplanten Halt bei einem gastlichen Hause.
Eine Entwicklung des begeisterten Ballonfahrers Oskar Radl, der eine Zeitlang im Fahrsport schnupperte, waren die „Segment-Räder“ – hier bei einem der ersten Tauglichkeitsprüfungen am Gespann von Helmut Schick aus Thürnthal. Die rasante Entwicklung im Wagenbau – Kühnle, Hoffmann, Schlagbauer – brachte es mit sich, dass diese Räder keinen Durchbruch schafften.
Der individuellen Intuition von „Hobby-Konstrukteuren“ waren keine Grenzen gesetzt – hier wurden „Baumabweiser“ aus Eisen auf ein an sich schon sehr martialisches Gefährt montiert, um das gefürchtete „Einfädeln“ zu vermeiden.
Radverstärkungen und „Turngeräte für Beifahrer“ wurden obligat.
Über Geschmack lässt sich streiten, nicht aber über Geschmäcker. Einer der weltbesten Fahrer seiner Zeit am Beginn seiner Fahrerlaufbahn – Johann Wolfmayer – „Onkel Hans“ – mit seinem damals noch ganz jungen Beifahrer Stefan Leibetseder, der im Jahre 2009 bei einem Kutschenunfall sein Leben verlor.
Mit dem Kladruber-Schimmel „Max“ im Gespann von Hans Wolfmayer zogen dann die ersten Repräsentanten dieser altösterreichischen Pferderasse aus den Kronländern nach Altenfelden, um dort mit den beiden weltberühmten Stuten „Susi“ und „Lenka“ (Gespann Wolfmayer) oder am Kladruberhof von Josef Leibetseder heimisch zu werden.
Essentieller Bestandteil seiner Fahrkurse: Dr. Rudolf Rautschka an der Doppel-Longe.
Ein Neubeginn, ein Anfang bedarf immer enthusiastischer und mitreißender Lehrer - „der Rautschka“, wie der Inhaber vieler akademischer Abschlüsse, unter anderem auch Doktor der Veterinärmedizin, in Kurzform genannt wurde, war ein Markenzeichen – gebildet, witzig, fünf Sprachen beherrschend und trinkfest – aber manchen auch ein Gräuel. Heute würde er vermutlich in die verachtete Kategorie „alter weißer Mann“ eingeordnet – dennoch, und dies Zungenspiel sei erlaubt –er war ein „alter weiser Mann“ mit enzyklopädischem Wissen über Pferde – seine zweibändige Dissertation zu Erlangung des „Doktorgrades der Philosophie“, die der Dipl. Ing. Mag. Mag. Dr. techn. Dr. med. vet. im Juni 1999 abschloss, umfasst nahezu 600 Seiten und trägt den Titel „Studien zum Pferd im Militärdienst“.
Im Rahmen von Fahrkursen konnte er, gelinde gesagt, sehr pointiert sein. Einer jungen Dame, die mit den Leinen nicht auf gutem Fuße stand, sagte er: „Gnädigste, Sie mögen ja mit Ihren Patschhändchen alles Mögliche und Angenehme bewirken – mit Pferden zu Fahren gehört nicht dazu!“
Mit manchen seiner Sprüche lebt er in seinen Schülern weiter:
„Geritten und gefahren wird bei jedem Wetter!“ oder „Ein Fahrer kann Vater und Mutter verlieren, aber nie die Leinen!“.
Peter Gartner war mit Zweispännern und Vierspännig vertreten – stets in tadelloser österreichisch – ungarischer Adjustierung – Füchse in ungarischer Anspannung waren sein Markenzeichen – meist war seine Frau als Lady Groom am Wagen – häufig aber auch, wie auf diesem Bilde – Harald Aigner (rechts hinten), der sich später zu einem der meisteingesetzten Parcoursbauer, Richter und Prüfer entwickelte. Mit seinen Töchtern und seinem Enkelsohn Philipp, der „Fahren“ bereits mit der Muttermilch einsog, verkörpert die Familie Aigner drei Generationen österreichischen Fahrsport.
Im Jahre 1981 fand eine Europameisterschaft für Vierspänner in der Schweizer Stadt Zug statt, Ing. Helmut Kolouch nahm mit Erfolg dort teil und gewann einen Preis für die Eleganz seines Gespannes – HRH Prince Philip war einer seiner Konkurrenten. Kolouch war eine prägende Gestalt im österreichischen Fahrsport, bis er dann die Leinen durch sein Cello ersetzte.
Eine Reihe von Persönlichkeiten begannen den Fahrsport zu prägen, Fahrer, die aber auch Fahren konnten und nicht nur materiell gut gestellt waren – was der ständige Vorwurf bei gewonnenen Präsentationen war. Diese Gespann-Kontrolle im Stehen vor den Richtern war vielen Fahrern ein Dorn im Auge und wurde später abgeschafft – was dem „Stil“ nicht gut tat.
Komm. Rat Sepp Michelfeit war mit seinen Füchsen in vorbildlicher Aufmachung immer eine Augenweide, aber auch ein sehr beherzter Fahrer. Als ich in einem Turnierbericht einmal schrieb „Sepp Michelfeit fuhr wie der Kutscher des Santa Fe- Express“ - nahm er mir das übel, obwohl es als Kompliment gedacht war. Als Zeichen der Würde des Gespann-Eigners fuhr er immer mit Aufhalteketten.
Immer an seiner Seite Freddy Steinacher, damals Kutscher im Stalle Michelfeit, heute gesuchter Fahrrichter.
Auf Sepp Michelfeit geht auch eine bemerkenswerte Episode, die „Turnier-Firmung“ zurück – also ein „Backenstreich“: Beim gefürchteten Viechtwanger Wassergraben blieb Michelfeits Gespann über einen längeren Zeitraum hängen, die Pferde wurden vom Fahrer mit sanfter Peitsche motiviert, wieder anzuziehen. In der Menschenmenge, die sich regelmäßig rundum dieses sensationsträchtige Hindernis versammelt hatte, befand sich auch ein Tiroler, der das Amt eines Fahrrichters anstrebte und vor versammelter Menge brüllte „Tierquäler“. Das Gespann wurde wieder flott, beendete den Marathonkurs und als ich mich eben anschickte, das nächste Hindernis aufzusuchen, kam mit hochrotem Kopf Sepp Michelfeit daher und rief, um sich blickend, „Wo ist der Ingo B.??“ – dieser trat etwas kleinlaut aus dem Gebüsch, folgte willig Michelfeits Aufforderung „Nimm die Brille ab!“ und empfing eine schallende Ohrfeige. „In meinem Hause wird keiner Fliege etwas zu Leide getan, mich schimpft keiner Tierquäler!“
Ewald Welde, der Grandseigneur, war mit seinen selbstgezüchteten Pferden immer eine Augenweide an Stil und Elegance – „Satchmo“ und „Richmond“ waren Kladruby-Cobs, also aus Kladruber-stuten und Cob-Hengsten hervorgegangen, die er zu Ehren des unvergesslichen Pferdemannes Podhaisky – Schimmel nannte. Eine Reihe von Vier- und Sechsspännern dieser Zucht taten Dienst in einigen Königshäusern. Ewald Welde verlor sein Leben bei einem Gespannunfall am heimatlichen Gschwendthof.
Albert Pointl, damals noch mit den Haflingern „Wiegand“ und „Willi“ lehrte so manchem Bockrichter das Fürchten. Für „Wiegand“ – hier rechts im Bild, bzw. als Vorauspferd im Tandem, hätte man wohl den Begriff „EI“ erfinden müssen – Equestrische Intelligenz – dieser Wallach, der bis in sein hohes Alter unzählige Jungspunde lehrte, was er, der Professor längst wusste, hatte sämtliche Dressuraufgaben- unter dem Sattel und an der Deichsel- fehlerfrei gespeichert und verhalf dergestalt so manchem oder mancher zu Turniermeriten.
Eine schillernde, stets lustige und gastfreundliche Gestalt in der frühen Turnierszene war der Burgenländer Rudolf Hicker – in pannonischer Aufmachung. Sein – nicht nur grammatikalisch - eigenwilliger Wahlspruch „ohne mir kein Turnier“ war Programm – vor seinem Zelt hing eine Liverpool-Kandare – als Halter für Papierrollen, deren widmungsgemäßer Gebrauch sich aus der Form ergab.
Gründungvorstand der Austrian Driving Society: v.l. Hans A. Krasensky, Ing. Wilfried Past (Schatzmeister), Ewald Welde (2. Präsident), Charly Iseli (IN MEMORIAM ACHENBACH), Ing. Peter Höppler, HR Dr. Heinrich Lehrner (Präsident), HR Dr. Georg Kugler, KR Sepp Michelfeit, Dr. Reinhard Kaun (Generalsekretär).
Als erkennbar wurde, dass die sportliche Seite die traditionell-kulturelle des „Fahrens mit Pferden“ verdrängen würde, wurde – nach dem Vorbild der British Driving Society – die „Österreichische Gesellschaft zur Erhaltung und Förderung der Gespannkultur“ (Austrian Driving Society) im Jahre 1985 gegründet. Zur Gründungs-Generalversammlung war auch Sir John Miller gekommen, Stallmeister im Dienste von HRH Queen Elisabeth II.
Die „Gesellschaft“ hatte in ihren Statuten einen numerus clausus von 50 Personen festgeschrieben, die jeweils unterschiedlichen Zugang zum Fahren und Pferden haben sollten: Geschirrmacher, Wagenbauer, Hufschmied, Fahrer, Journalismus, Turnierrichter, Züchter usw. Die Society veranstaltete Tagungen, Exkursionen und Concours d`elegance mit Paraden in Wien (Prater, Ringstraße, Rennbahn Freudenau) und Bad Ischl sowie die Villen- und Schlösserfahrt in Gmunden, anlässlich derer am Abend eine Lesung mit den berühmten Burg- Schauspielern Fred Liewehr und Erich Auer stattfand, die Altösterreichische Militärgeschichten vortrugen.
Personen, deren Leistung für den Fahrsport in Verbindung mit Fahrkultur besonders zu würdigen erschien, vergab die Austrian Driving Society einmal jährlich die „Goldene Peitsche“ – erster Preisträger im Jahre 1985 war der Schweizer Heiner Merck, letzter im Jahre 2000 der Österreicher Albert Pointl.
Um die Jahrtausendwende begann sich abzuzeichnen, dass das angestrebte Niveau im Sinne des Vereinsziels aus verschiedensten Gründen nicht mehr aufrechtzuhalten war, manche plädierten für eine Öffnung, also mögliche Mitgliedschaft für Jedermann, die Mehrheit aber entschied sich unter dem damaligen Präsidenten Peter Panuschka für eine Auflösung – nach 15 Jahren niveauvoller Tätigkeit sollte keine Inflation der Werte eintreten.
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Tradition und Neubelebung der österreichischen Fahrkultur samt deren Beziehung zur heimischen Pferdezucht
Erschienen in „Plattform“ – Zeitung der ÖH an der Universität für Bodenkultur Dezember 1985. Autor Dr. Reinhard Kaun
Das alte Österreich, insbesondere nach dem Wiener Kongress, war das Mekka des europäischen Fahrwesens, insoweit es Chic, Elegance und Noblesse sowohl bei herrschaftlichen Equipagen, als auch bei den sich nur zögernd durchsenden Selbstfahrern anbetraf. Nach Wien sah die damalige Welt, wenn man wissen wollte, was en vogue war.
Dabei steht der Purist verwundert vor zeitgenössischen Darstellungen jener Epoche – kreuzt wie Beckmesser Punkt um Punkt an, der nicht seinem System entspricht, ja, er kann die damalige Dominanz österreichischer Gespanne nicht erfassen – wie er die Schönheit eines Menschen in seinem Auge nie erfassen wird können. Sieht er doch eklatante Stilbrüche – ja aus der Sicht des Dogmatikers – krasse Fehler!
Aber wie in so vielen Belangen des täglichen und alltäglichen Lebens liegt der Reiz des Österreichertums in seinem klugen Ecclectizismus, gepaart mit Charme und gutem Geschmack. Und ich hoffe doch sehr, dass der geneigte Leser Ecclectiker* von Epigonen* zu unterscheiden weiß!?
Um eben in dieser reizvollen Kombination von kluger Auswahl und erlesenem Eigenstil liegt die Gracie, Leichtheit, Beschwingtheit bei voller Funktionalität der Anspannung und Gesellschaftsfuhrwerke im 19. und angehenden 20. Jahrhundert.
Wagenbauer und Stellmacher waren nicht bloße Techniker, sie waren Stilisten und Proportioneure, Geschirrmacher waren Künstler, die Schneider mehr als nur „Kleidermacher“. Und die Pferde? Ja, die Pferde waren elegant und chic, gracil, federnd, beschwingt vorwärtseilend mit „viel Musik von hinten“. Die Peitsche war Zierat für Kutscher und Fahrer, kaum je benötigt für treibende Hilfen.
Naturgemäß war Ungarns Einfluss bedeutend, doch auch Pferde aus Kladruby und Lipizza fanden geeignete Verwendung, doch hatte man sich dem Westen und Süden keineswegs verschlossen. Somit ist dem sehenden Auge der österreichische Fahrstil – nicht als Ausdruck der Leinentechnik, sondern in der Aufmachung – sehr wohl klar! Gut ist, was der Funktion und dem guten Geschmack entspricht! Man sage mir eine bessere Maxime! (Außerdem: Geschmacklose Menschen hat es immer gegeben und wird es immer geben, häufig werden sie Dogmatiker und schreiben „gelahrte“ Bücher!)
Das Schrumpfen Österreichs und zwei Weltkriege reduzierten das Gespannwesen im Wesentlichen auf militärische Fuhrparks, wie wohl auch in den Offizierskorps beider Kriege bedeutsame Ansätze zu sportlicher Fahrkultur erkennbar waren.
So wurde auch die Achenbachleine als „Leine 22“ (weil im Jahre 1922 ins Heer eingeführt) im Deutschen Militär der Nationalsozialistischen Zeit nach HDV verwendet. Nur mit dem Spiritus rector des Fahrsystems wollte man aus bekannten Gründen nichts mehr zu tun haben.
Die traurigen Zwischen- und Nachkriegszeiten bedeuteten den Verlust – aber nicht den Verfall – der Gespannkultur; Wägen wie Geschirre waren verkommen, zerstört, geplündert, umgebaut und somit verstümmelt.
Das Pferdematerial bestand weitgehend aus „Ausgemusterten“, da alles „Brauchbare“ rekrutiert worden war. Zogen doch 1,4 Millionen Pferde in den Ersten und 2,7 Millionen in den Zweiten Weltkrieg. Allein in Stalingrad kamen 52.000 Pferde um!
Nennenswerte Anfänge einer Neubelebung des Fahrwesen und sportlicher Gespannverwendung finden wir in Österreich erst Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Mühsam und schleppend ging der Aufbau vor sich, lag doch ein halbes Jahrhundert der Unterbrechung und des Substanzverlustes, wie der geistigen Verdurstung, dazwischen.
Offiziere, Fahrmeister, Mannschaftsgrade der Bespannten, Landstallmeister – kurz: Menschen, die lebende Urkunde sind, begannen mit Jungen, Begeisterten und Begüterten mit dem Neuaufbau. Zunächst galt es, gegen die irrige Anschauung anzukämpfen, dass fährt, wer zum „Reiten“ nicht mehr in der Lage sei – dies galt für Pferd und Mensch.
Als nächstes stellte sich die Materialfrage: Alte Wägen wurden aufgetrieben und zuschanden gefahren, Geschirre gingen massenhaft zu Bruche!
Da besann man sich, nun zwar westlich, aber nicht mehr politisch ausgerichtet, der Dogmen Herrn von Achenbachs, dessen Grundsätze ein gutes und logisches, vor allem aber pferdefreundliches Fahrsystem bilden.
Geschirrmacher und Wagenbauer erlebten eine Wiedergeburt, die Materialfrage war quo ad functionem gelöst.
Doch als Pendant des Achenbachstiles traten sofort die Anhänger des ungarischen Fahrstiles auf den Plan, und zur Erstarrung der Szene und zum Teil auch zum Verlust der Sitten machten beide aus ihrem Fahrstil eine Weltanschauung! Und wie wir weiland wissen, sind Fanatiker immer von Übel, ungeachtet dessen, was sie vertreten.
Gottlob aber verfügt unsere Republik noch immer über Männer und Frauen – besser: Damen und Herren – mit dem Wissen der „guten alten Zeit“. Diese sind nun im Begriff, zusammen mit jungen Richtern und orientierten Gesellschaften, traditions- und stilbewusste Vielfalt bei erhaltener Individualität zu fördern und zu festigen – als österreichischen Stil!
Die Nachfrage nach guten Gespannpferden wurde immer größer, es scheinen auch die letzten Traber und ausrangierten Reitpferde die Turnierscene endlich zu verlassen. Doch ermangelt es dem Fahrer hierzulande an einem adäquaten Angebot an Gespannen. Durch ihre größeren Populationen, aber auch, weil sie die Zeichen der Zeit früher erkannt hatten, zählen heute Ungarn, CSSR, Ostdeutschland und Holland zu den begehrtesten Lieferanten für heimische Gespannfahrer. Sie haben sich eben darauf eingestellt, „Passer“ und „Teams“ zu offerieren, während der inländische Pferdezüchter immer noch den solitären „Kracher“ züchten möchte.
Heuer gelang erstmals einem österreichisch gezogenen Warmblutgespann die Qualifikation für die Weltmeisterschaft, wo es sich in der Weltspitze im ersten Drittel plazierte.
Gespannpferde müssen zu allervorderst in Gängen und Aufsatz zusammenpassen, Egalität in den Farben ist – von Braunen abgesehen, die immer farbgleich bespannt sein sollen – sekundär. Die Größendifferenz soll eine halbe Faust nicht überschreiten. Der Trend zu übergroßen „Bombern“ wurde – wie auch im Reitsport – als falsch anerkannt und verlassen.
Mittelrahmige, wendige Pferde mit solider Grund- und Reitausbildung, mit Biegung und Bascule, viel Ausdruck, gutem Aufsatz und „viel Musik von hinten“, wesensstark und mutig wie Militarypferde – Fahrsport ist Vielseitigkeitssport – das wünscht sich der Fahrer. Peitsche, Stimme und Leine sind seine Hilfen, kein Schenkel, keine Sporen!
Genügend Geschirrlage, starke Fundamente, anatomisch und psychisch klare Köpfe, Konditionsstärke, kadenzierte Gänge ohne übertriebene Aktion wären weitere Attribute eines Fahrpferdes.
Verlässt der Züchter die fehlerhafte Vorstellung, ein Fahrpferd („Wagerlpferd“) wäre in eine niedrige Kaste einzuordnen, ja, beginnt er mit Züchterfreunden Gespanne zusammenzustellen, so kann bald bei den Auktionen sehr belebend die Vorstellung junger Remonten im Geschirr erfolgen und so das geist- wie extremitätentötende Freispringen ablösen!?
In der Adjustierung von Fahrer und Beifahrer – gegebenenfalls auch von operettenhaft aufgeputzten Bockdamen – muss die Logik und der gute Geschmack zum Zuge kommen. Nicht jeder Pferdetyp passt in jedes Kummet, nicht jeder in die Siele. Die Wagonette war ein Gebrauchswagen in der herrschaftlichen Fuhrhalterei, mit der der Kutscher die böhmische Köchin abholte, wenn sie vom Verwandtenbesuch aus Budweis zurückkehrte. Dazu aber trug er Interimslivree. Wenn der Gutsherr am Dogcart zur Jagd fuhr, wäre der Frack äußerst unpassend gewesen.
Damit will ich sagen, dass es von der Funktionssicherheit abgesehen, der Gesamteindruck ist, der das Gespann prägt: nobel, graciös und elegant – dann ist es ein gutes österreichisches Gespann – unabhängig von Siele und Kummet!
„So möchte ich nach diesem bebilderten Ausflug in Anfänge und Entwicklungen des Fahrsports unseren heutigen Abend mit einem sehr klugen Satz beenden, den ich kürzlich in einem Gespräch des Archäologen Nicholas Conard mit den ZEIT-Redakteuren Salome Müller und Urs Willmann (Nr. 3,11.01.2024) fand:
„Unsere individuelle Kompetenz ist winzig, aber wir sind groß in unserem kulturellen Wissen.“
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