… doch das ist nicht das einzige bedenkliche Ergebnis einer Untersuchung britischer Wissenschaftlerinnen. Sie konnten zeigen, dass Richter bestimmte subtile Zeichen von Konfliktverhalten bei Turnierpferden kaum beachten und daher auch in ihrer Benotung zu wenig berücksichtigen.
Die im angesehenen ,Journal of Veterinary Behavior’ veröffentlichte Untersuchung wird wohl noch für einige Diskussionen sorgen – in der Reitercommunity insgesamt, aber hoffentlich auch bei Pferdesportverbänden und Richtervereinigungen, denn sie ganz besonders können mit den Befunden und Schlussfolgerungen der Autorinnen Kathryn L. Hamilton, Bryony E. Lancaster und Carol Hall alles andere als zufrieden sein. Das zentrale Resümee ihrer Arbeit lautet, dass es – überspitzt formuliert – im modernen Dressursport mit dem vielzitierten „glücklichen Athleten" Pferd nicht weit her ist, dass nahezu in jeder untersuchten Lektion Konfliktverhalten des Pferdes zutage trat (was auf ein beeinträchtigtes Wohlbefinden hinweist), was von den Richtern nur in einigen Fällen auch bemerkt und in der Benotung entsprechend berücksichtigt wurde – und dass zu allem Überdruss mitunter sogar das falsche Verhalten mit hohen Noten belohnt wurde, z.B. eine Kopfposition an oder hinter der Senkrechten, die lt. FEI eigentlich nicht erwünscht ist.
Die Autorinnen formulieren es in ihrer Zusammenfassung so neutral, wie es Wissenschaftlerinnen geziemt – aber die Botschaft ist klar genug und in ihrem Inhalt ernüchternd: „Konfliktverhalten trat in fast allen analysierten Dressurlektionen auf, aber der einzige Zusammenhang mit der vergebenen Wertnote war, wenn das Verhalten den ganzen Körper des Pferdes und/oder Kopf und Hals betraf. Verhaltenszeichen von Konflikten weisen auf ein beeinträchtigtes Wohlergehen bei gerittenen Pferden hin, und die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass in der Dressurrichterausbildung und Leistungsbewertung ein größerer Fokus auf solches Verhalten gelegt werden sollte.“ Soviel vorweg – doch es lohnt ein Blick ins Detail.
Wie die Autorinnen einleitend festhalten, sollte in der Dressur „das durch das Richten geförderte Verhalten auf korrekten und pferdegerechten Trainingstechniken basieren“. Aus unklaren, verwirrenden oder widersprüchlichen Hilfen bzw. Signalen des Reiters können jedoch bestimmte Verhaltensweisen beim Pferd resultieren, die verallgemeinernd als „Konfliktverhalten“ bezeichnet werden – und genau auf die Untersuchung derartigen Konfliktverhaltens konzentrierten sich Kathryn Hamilton und ihre Kolleginnen. Ihre Studie zielte darauf ab, das Auftreten derartiger Verhaltensweisen bei offiziellen Dressurprüfungen von British Dressage (BD) zu beobachten und zu analysieren.
Es wurden Daten von 75 Dressurprüfungen im November und Dezember 2019 gesammelt, wobei Bewerbe auf leichtem bzw. mittlerem Niveau (Preliminary, Novice und Elementary – vergleichbar mit Bewerben der Klassen E, A und L in Deutschland bzw. Österreich) berücksichtigt wurden; anschließend wurden die Daten mit den vergebenen Wertnoten der Richter in Verbindung gesetzt. Jede Prüfung wurde gefilmt, die Punktzahlen der Richter wurden gesammelt. Zwischen fünf und sieben Einzellektionen innerhalb jeder Prüfung wurden analysiert – was insgesamt eine Anzahl von 447 untersuchten Lektionen ergab. Die dabei beobachtete Häufigkeit des gezeigten Konfliktverhaltens wurde herangezogen, um eine Verhaltensbeurteilung für jede Lektion zu vergeben, wobei diese Verhaltensreaktionen den jeweiligen Körperregionen zugeordnet wurden, nämlich Kopf, Ohren, Maul, Schweif sowie Verhaltensweisen des ganzen Körpers.
Das schon zuvor erwähnte ernüchternde Resümee der Auswertungen: Konfliktverhalten wurde in 97,6 % der analysierten Lektionen beobachtet, was bedeutet, dass lediglich in 2,4 % – also einem verschwindend geringen Anteil – der Lektionen kein Konfliktverhalten registriert wurde. In 83 % der Lektionen wurden zumindest zwei oder sogar mehr derartiger Verhaltensweisen nachgewiesen.
Nicht weniger ernüchternd: Es zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen den Wertnoten der Richter und der Gesamtbewertung des Verhaltens – es zeigte sich aber eine negative Korrelation zwischen den Ganzkörperwerten (darunter fielen Verhaltensweisen wie Gangfehler, Steigen, Buckeln, Scheuen, Stolpern oder unpassendes Stehenbleiben etc. ) und den Beurteilungen der Richter. Das bedeutet, dass sich derartiges Verhalten auch in entsprechend niedrigeren Wertnoten niederschlug. Die Erklärung dafür ist laut den Autorinnen naheliegend: „Diese Verhaltensweisen sind deutlich sichtbar, was erklären könnte, warum sie bei der Notenvergabe durch die Richter berücksichtigt wurden."
Bei anderem Konfliktverhalten war dies jedoch nicht bzw. nicht immer der Fall war. Hier konnte man – zumindest in bestimmten Kategorien – sogar das Gegenteil beobachten, dass nämlich Konfliktverhalten sogar mit höheren Wertnoten verbunden war, was zweifellos eine nicht wünschenswerte Korrelation darstellt.
Das signifikanteste Beispiel dafür ist die immer wieder heftig diskutierte Kopf-Hals-Position: Pferde mit der Nasenlinie vor der Senkrechten erhielten niedrigere Richternoten als solche mit der Nasenlinie an oder leicht (= weniger als 30°) hinter der Senkrechten. Dazu die Autorinnen: „Dieser Befund deutet darauf hin, dass sich die Richter nicht an die FEI-Dressurregeln halten, die besagen, dass die Nasenlinie des Pferdes „leicht vor der Senkrechten“ liegen sollte (FEI, 2020). Darüber hinaus stimmt diese Studie mit einer Studie bei Elite-Dressurpferden überein, bei der eine Kopfposition hinter der Senkrechten signifikant mit höheren Punktzahlen von den Richtern verbunden war und diese Kopfposition in der Dressur immer häufiger zu beobachten ist. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Richter eine falsche, hinter der Senkrechten liegende Kopfhaltung fördern.“
Auch ein anderer Punkt fiel den Autorinnen kritisch auf: Die Wertnoten der Richter standen in keinerlei Verbindung mit dem Maulverhalten des Pferdes, was darauf hindeutet, dass die Richter weder die Spannung noch die Bewegungen des Mauls bei der Notenvergabe berücksichtigten. Dies sorgte bei den Autorinnen durchaus für Verblüffung: „Dieses Ergebnis war unerwartet, da laut den Reglements (z. B. FEI, 2020), Dressurprüfungsbögen (z. B. BD-Tests: British Dressage, 2020) sowie in theoretischen Ausführungen die ,Akzeptanz des Gebisses’ hohen Stellenwert hat. Daher sollte jeder Widerstand gegen das Gebiss vom Richter bestraft werden.“
Möglicherweise sei es für Richter schwierig, sich während eines Ritts auf einen anatomisch so kleinen Bereich wie das Maul zu konzentrieren, so die Autorinnen: „Da das Maul ein derart kleiner Teil des Pferdekörpers ist, legen die Richter möglicherweise ihren Fokus auf größere, besser erkennbare Körperteile (z. B. Kopf und Hals oder die Gliedmaßen). Für jede Lektion hat der Richter zudem nur eine begrenzte Zeit, um die Pferd-Reiter-Kombination zu beurteilen, daher können kleine Teilbereiche eher übersehen werden.“ Diese Ergebnisse deuten jedenfalls „auf einen Mangel an Aufmerksamkeit für das unbehinderte Maulverhalten durch die Richter hin“, so die Autorinnen – es brauche aber weitere Untersuchungen, um das Maulverhalten zu untersuchen, das während des Trainings gezeigt wird.
Auch die Verhaltensweisen bzw. Bewegungen des Schweifs fanden in den Richterbögen kaum Berücksichtigung, so die Autorinnen: „Dass es keinen Zusammenhang zwischen Schweifverhalten und Richternoten gab, deutet darauf hin, dass Richter die Position oder Bewegungen des Schweifs bei der Notengebung nicht berücksichtigen.“ Zwar gebe es Hinweise darauf, dass verstärktes Schweifschlagen bei Pferden mit Stress, Schmerz oder Irritation verbunden sein kann – doch sei eine eindeutige Bewertung dieser Verhaltensweise problematisch: „Da es eine Vielzahl von Gründen für das Schweifschlagen beim Pferd geben kann, ist es kein nützlicher Verhaltensindikator für Konflikte an sich, und es kann schwierig sein, zwischen der natürlichen Bewegung des Schweifs und dem Schweifschlagen zu unterscheiden. Allerdings kann Schweifschlagen dann einen Stellenwert haben, wenn es zusammen mit anderen Verhaltensparametern herangezogen wird, um Konflikte beim Pferd zu bewerten.“
Bemerkenswert erschien auch ein anderes Ergebnis der Studie: Die Richternoten waren für Pferde mit nach vorne gerichteten Ohren signifikant höher als für solche mit nach hinten gerichteten Ohren. Dazu die Autorinnen: „Dies könnte darauf hindeuten, dass Richter Pferde mit nach vorne gerichteten Ohren für entspannter halten als solche mit nach hinten gerichteten. Diese Vorstellung wurde möglicherweise aus dem natürlichen Verhalten des Pferdes abgeleitet: Pferde legen ihre Ohren an, wenn sie Aggression signalisieren, Widerstand zeigen bzw. wenn sie unter körperlicher Erschöpfung oder Unbehagen leiden.“
Insgesamt ergab sich für die Autorinnen ein durchaus bedenkliches Bild: Während sich bestimmte Verhaltensweisen, wie z. B. Buckeln und Nicht-mehr-vorwärts-Gehen in niedrigeren Richternoten niederschlugen, waren andere sogar mit höheren Richterwerten verbunden (z. B. Nasenlinie an oder hinter der Senkrechten). Bei subtileren Verhaltenszeichen wie z.B. angespannten Maulbewegungen konnte sogar „keinerlei Zusammenhang mit den Richterbeurteilungen" nachgewiesen werden, so die Forscherinnen.
Das Resümee aus all dem fällt daher ernüchternd aus: „Die Ergebnisse zeigen, dass die Leistungsbeurteilung in der Dressur derzeit nicht konsequent auf der Grundlage der FEI-Richtlinien (FEI, 2020) erfolgt, wobei einige Verhaltensanzeichen von Konflikten ignoriert oder, was noch besorgniserregender ist, sogar belohnt werden. In Übereinstimmung mit früheren Forschungsergebnissen unterstreichen die Ergebnisse dieser Studie die Notwendigkeit, dass Leitungsgremien wie die FEI und British Dressage ihre Richterausbildung und berufliche Weiterbildung neu bewerten, um diese Verhaltenskriterien besser zu integrieren. Ein stärkerer Fokus auf die genaue Interpretation des Verhaltens und dessen Berücksichtigung in der Leistungsbewertung würde zu einem verbesserten Training und Wohlbefinden des Pferdes führen und eine nachhaltige Zukunft des Pferdesports begünstigen.“ Bis dorthin ist aber wahrlich – wie diese Untersuchung zeigt – noch viel zu tun …
Die Studie „Equine conflict behaviors in dressage and their relationship to performance evaluation" von Kathryn L. Hamilton, Bryony E. Lancaster und Carol Hall ist im September 2022 in der Zeitschrift ,Journal of Veterinary Behavior' erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden. (https://doi.org/10.1016/j.jveb.2022.07.011)
Ergänzung: Kopf-Hals-Position bei Elite-Dressurpferden
Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis – jedoch auf dem Level absoluter Weltklasse-Dressurpferde – kam eine im Vorjahr von deutschen und Schweizer ForscherInnen vorgestellte Untersuchung unter der Leitung von Dr. Kathrin Kienapfel-Henseleit vom Schweizer Kompetenzzentrum Agroscope: Für die Studie wurden insgesamt 49 Starter (83 %) eines Grand-Prix Spezials (CDIO5*) im Rahmen des CHIOs in Aachen 2018 und 2019 untersucht. Für jedes Pferd-Reiter-Paar wurden die verwendeten Kopf-Hals-Positionen sowie die Konfliktverhaltensweisen für jeweils 3 Minuten auf dem Abreiteplatz und in der Prüfungssituation analysiert. Insgesamt wurden für die Prüfung 5.085 Einzelframes und für den Abreiteplatz 1.486 Einzelframes analysiert.
Das Resümee sprach Bände: „Die Nasenlinie wurde in der Prüfung signifikant weniger stark hinter der Senkrechten getragen als auf dem Abreiteplatz. Die Pferde zeigten in der Prüfung insgesamt signifikant weniger Konfliktverhalten als auf dem Abreiteplatz. Auf Letzterem konnten sowohl engere Kopf-Hals-Positionen als auch mehr Abwehrverhalten der Pferde beobachtet werden als in der Prüfungssituation. Dieser Zusammenhang lässt den Winkel der Nasenlinie hinter der Senkrechten ins Interesse eines objektiv messbaren Tierwohlindikators beim gerittenen Pferd rücken. Zudem konnte eine Korrelation zwischen der Benotung und der Kopf-Hals-Position festgestellt werden, je weiter hinter der Senkrechten geritten wurde, desto höher war die Chance auf eine gute Bewertung.“
Die Studie „Comparison of different head and neck positions and behaviour in ridden elite dressage horses between warm-up and competition" von Kathrin Kienapfel-Henseleit, Lara Piccolo, Annik Gmel, Dominik Rueß und Iris Bachmann ist am 17. Dez. 2021 als Preprint auf dem Portal biorxiv.org erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden. (https://doi.org/10.1101/2021.12.17.473217 )