Ein bisschen Stress ist grundsätzlich akzeptabel und auch bei einem Leben in freier Natur für Pferde unvermeidlich. Doch wo verläuft die Grenze zwischen „nützlichem“ und „krankhaftem“ Stress, der die Gesundheit und das Wohlbefinden von Pferden negativ beeinträchtigen und zum Sicherheitsproblem werden kann? Zwei renommierte Forscherinnen geben Antwort.
Stress ist ein natürlicher Mechanismus, der dafür sorgt, dass bestimmte Situationen besser bewältigt werden können – dies gilt für Menschen und Pferde und auch die meisten anderen Lebewesen. Stress setzt ein Pferd in Bewegung, wenn die Gefahr besteht, dass es angegriffen wird. Außerdem „kann Lernen nicht ohne Stress stattfinden“, wie Katrina Merkies, außerordentliche Professorin und Verhaltensforscherin für Pferde an der University of Guelph in Ontario, Kanada, gegenüber dem Portal TheHorse.com erklärt. Dennoch gibt es eine Grenze für „nützlichen“ Stress, so Prof. Merkies – und ab einer bestimmten (noch undefinierten) Schwelle kann Stress sogar höchst problematisch, ja, gefährlich werden.
Grundsätzlich ist Stress nicht mehr in Ordnung, wenn er entweder im Moment zu groß ist oder über zu lange Zeit anhält, so Natalie Waran, PhD, Professorin für ,One Welfare’ am Eastern Institute of Technology in Hawke’s Bay, Neuseeland. Intensiver „akuter“ (kurzfristiger) und „chronischer“ (langfristiger) Stress kann Gesundheit und Wohlbefinden von Pferden erheblich beeinträchtigen – und sollte daher tunlichst vermieden werden, so Prof. Waran: „Wir haben gegenüber unseren Pferden die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie ein gutes Leben haben, und wir können dazu beitragen, indem wir ihren Stresspegel auf ein Minimum reduzieren.“
Nicht zu vergessen: Stress bei Pferden kann auch die Sicherheit der Menschen in ihrer Umgebung beeinträchtigen. Gestresste Pferde können gefährlich werden, wenn sie sich mit abrupten Bewegungen wie Ausschlagen, Treten, Beißen, Bocken und Durchgehen verteidigen. „Ich habe viel zu viele Fälle von Verletzungen gesehen, die darauf zurückzuführen sind, dass Menschen die Anzeichen von Stress zu lange ignoriert haben, während sie immer weiter eskalierten“, so Prof. Waran.
Mit anderen Worten: Wenn Ihr Pferd leicht gestresst ist, kann das völlig ok sein. Man sollte aber nicht zulassen, dass das Pferd „total gestresst“ wird, erklären die Forscher. Die Wissenschaft kann zwar noch nicht die genaue Grenze zwischen akzeptablem und inakzeptablem Stress bestimmen, doch Pferdebesitzer können und sollen auf bestimmte Signale achten, die verraten, ob Pferde mit Stress gut zurechtkommen – oder eben nicht.
Gestresstes Verhalten von Pferden ist nicht normal
Laut einer unlängst veröffentlichten Studie sind nur wenige Pferdehalter in der Lage, diese Signale zu erkennen – und wenn sie es tun, ignorieren sie diese mitunter sogar, so Prof. Merkies: „Menschen können gestresste Pferde als normal akzeptieren, so wie sie akzeptieren, dass ein Pferd eigensinnig oder stur ist, obwohl in Wirklichkeit ein ernsthaftes Stressproblem vorliegt.“
Daher ist es wichtig zu erkennen, wenn ein Pferd eine bestimmte kritische Stressschwelle überschritten hat – und man entsprechende Schritte setzen sollte, um seinen Stresspegel zu senken. Dadurch wird seine Gesundheit und sein Wohlbefinden erhöht und auch die Mensch-Pferd-Beziehung verbessert. Doch woran kann ich erkennen, dass diese ,kritische Schwelle’ erreicht ist? Dafür gibt es – noch – kein Patentrezept, aber immerhin einige wichtige Anhaltspunkte, wie die beiden Forscherinnen erklären.
Die fünf häufigsten Anzeichen von akutem Stress
1. Das „Stressgesicht“. Pferde haben ihre eigenen Gesichtsausdrücke, und Wissenschaftler untersuchen mittlerweile intensiv, welche Ausdrücke was bedeuten. Die ,Horse Grimace Scale’ (HGS) wird für die Erkennung von Schmerzen bei gerittenen und ungerittenen Pferden immer weiter verfeinert, es gibt jedoch noch keine wissenschaftlich abgesicherte Skala zur Erkennung von Stress, so Prof. Merkies. Dennoch sind sich die Forscher im Allgemeinen einig, dass klare Anzeichen von Stress im Gesicht eines Pferdes geweitete Nüstern, weit geöffnete Augen mit sichtbarem Weiß, ein zusammengezogenes Maul (das schwerer zu erkennen ist, wenn das Pferd ein Gebiss im Maul hat) und eine hohe Kopfhaltung sind.
2. Reduziertes Blinzeln und verstärktes Augenflattern. Aktuelle Studien zeigen, dass Pferde je nach Art des Stresses bei akutem Stress deutlich weniger blinzeln könnten, so Prof. Merkies. Dazu gehören vollständiges Blinzeln (Augenlider ganz nach unten) und halbes Blinzeln (Augenlider halb geschlossen). Und unabhängig von der Art der Belastung neigen sie dazu, stärker mit den Augen zu flattern – also schnelle Muskelbewegung im Augenbrauenbereich zu zeigen. Wenn Sie wissen möchten, ob Ihr Pferd weniger blinzelt oder mehr als sonst mit den Augen flattert, müssen Sie natürlich auch darauf achten, was für das Pferd normal ist, wenn es nicht gestresst ist, fügte sie hinzu.
3. Häufiges Misten. Stress scheint das Verdauungssystem von Pferden anzuregen und die Darmbewegung zu beschleunigen. Wenn Pferde gestresst sind, misten sie häufig, so Prof. Merkies: „Wenn ein Pferd anhält und einen wirklich großen Apfel fallenlässt, könnte das tatsächlich bedeuten, dass es entspannt ist. Wenn es aber häufig mistet, der Kot immer flüssiger wird oder sogar herabläuft, dann deutet das darauf hin, dass es wahrscheinlich eine kritische Schwelle erreicht hat und zu gestresst ist.“
4. Erhöhte Herz- und veränderte Atemfrequenz. Stress führt nicht nur zu Veränderungen im Verhalten eines Pferdes. Es verursacht auch physiologische Reaktionen, einschließlich einer erhöhten Herz- und Atemfrequenz, wie mehrere Untersuchungen nahelegen. Während diese Informationen für Wissenschaftler, die den Stresspegel von Pferden erforschen, nützlich sind, können sie auch ein praktischer Maßstab für Pferdehalter sein, so Prof. Waran. „Wenn Sie mit ihrem Pferd stark verbunden sind, können Sie hören, wie sich seine Atemfrequenz ändert, und Sie können spüren, wie sich seine Herzfrequenz direkt unter Ihnen erhöht“. Pferdehalter sollten in einer stressfreien Situation viel Zeit mit ihren Pferden verbringen und einfach herausfinden, was für sie normal ist, erklärte sie. Dabei sollte man aber die Verwendung eines Stethoskops oder die Messung des Pulses mit der Hand am Fesselgelenk vermeiden, da diese Methoden bei akut gestressten Pferden gefährlich sein können (wie auch im folgenden Punkt 5 erklärt wird). Tragbare Messgeräte sind deutlich besser geeignet und liefern Wissenschaftlern kontinuierliches Echtzeit-Feedback über diese physiologischen Anzeichen bei Pferden.
5. Nervosität, Durchgehen und Erstarren. Als Beutetiere reagieren Pferde auf Stress häufig mit dem Versuch, der vermeintlichen Gefahr zu entkommen. Wenn der Stress zunimmt, könnten sie zunächst nervös sein, Angst vor Gegenständen haben oder nicht bereit sein, ruhig zu stehen, so Prof. Merkies. Aber wenn der Stresspegel zunimmt, wird wahrscheinlich auch die Unruhe steigen, und dies kann für Menschen eine Gefahr darstellen, da sie durch diese plötzlichen, unvorhersehbaren Bewegungen umgeworfen, getreten oder weggeschleudert werden können. In Situationen mit extremem, akutem Stress könnten Pferde abrupt zurückweichen und ein Halfter zerreißen, sie könnten versuchen, aus einem Pferdeanhänger zu springen, durch einen Zaun zu brechen oder in den Verkehr zu laufen. Am anderen Ende des Spektrums könnten gestresste Pferde einfach erstarren, erklärte sie. „Das ist fast schlimmer als unruhige Bewegungen, denn man weiß, dass sie jeden Moment explodieren können.“
Das Ziel: Pferd soll ein gutes Leben haben
Pferde erleben viele Arten von akutem und chronischem Stress und sie können jeweils unterschiedliche, einzigartige Reaktionen auf Stress haben, so das Resümee der Forscherinnen. Diese fünf Anzeichen sind zwar nützliche Anhaltspunkte, aber der beste Weg, Stress bei Ihrem Pferd zu erkennen, besteht darin, es gut genug zu kennen und Veränderungen in der Art und Weise, wie es sich verhält, klingt oder fühlt, wahrzunehmen. „Im Idealfall können Menschen gleichsam ein Profil ihrer eigenen Pferde erstellen, indem sie die Anzeichen positiver Emotionen wahrnehmen und sich dann bewusst werden, wann diese weniger häufig auftreten oder sich ändern“, so Prof. Waran. „Sobald Sie über dieses Wissen verfügen, können Sie fundierte Entscheidungen darüber treffen, wie Sie mit Stresssituationen umgehen, um diesen Stress so weit wie möglich zu reduzieren, sodass Sie am Ende des Tages von Ihrem Pferd sagen können: „Mein Pferd hat ein gutes Leben!“