Florians Blog: "Problempferde" aus guten Händen 08.03.2024 / Blogs
Unangemessener Druck oder schlechte Behandlung hinterlassen oft sogenannte „Problempferde“. Doch nicht immer ist dies der Grund für problematisches Verhalten beim Pferd: Florian Oberparleiter erklärt, warum auch umsichtige und fürsorgliche Pferdebesitzer vor großen Herausforderungen mit ihrem Pferd stehen können.
Trotz fürsorglicher Behandlung entwickelte die Appaloosa-Stute Lena problematische Verhaltensweisen – und versuchte u.a. durch Steigen die Nähe zum Menschen einzufordern.
Ein Blick auf problematische Verhaltensweisen
Grasen, schnauben, wälzen, laufen – das Verhalten von Pferden ist vielfältig. Einige Verhaltensweisen
können im Umgang mit dem Menschen aber problematisch sein. Das kann beim Beißen, Buckeln, Steigen oder Losstürmen beispielsweise der Fall sein. Auch wenn diese Verhaltensweisen zu erheblichen Schäden führen können, werden sie – der Sichtweise des Pferdes entsprechend – als schadenvermeidende Reaktionen bezeichnet.
Darüber hinaus stellen echte Verhaltensstörungen wie Koppen, Weben oder Fortbewegungsstereotypien eine eigene Kategorie dar.
In diesem Artikel werden wir uns mit den problematischen Verhaltensweisen im Umgang mit dem Menschen beschäftigen. Viele Pferde leiden unter den negativen Emotionen, die solches Verhalten auslösen oder begleiten. Und doch stecken sie in ihren Verhaltensmustern fest, mit denen sie nicht selten sich und ihre Besitzer in Gefahr bringen.
Wie aber kommt es zum Verhalten von sogenannten „Problempferden“?
Das andere Ende des Führstricks?
„Das einzige Problem das Pferde haben, befindet sich am anderen Ende des Führseils.“ So, oder so ähnlich reagieren Pferdefreunde häufig, wenn der Begriff „Problempferd“ fällt. Denn Pferde haben sich den Umgang mit dem Menschen nicht ausgesucht und sind ihrem Gegenüber somit leider ausgeliefert. Behandelt der Mensch das Tier schlecht oder passen die Haltungsbedingungen nicht, ist das psychische Gleichgewicht des Pferdes beeinträchtigt und Verhaltensauffälligkeiten sind vorprogrammiert.
Als ich anfing mich näher mit sogenannten „Problempferden“ zu beschäftigen, erwartete ich vor allem Pferde, die schlecht behandelt oder falsch gehalten wurden. Doch stattdessen kamen viele Pferde aus guter Haltung mit fürsorglichen und umsichtigen Besitzern zu mir. Ich begann zu verstehen, dass die Pferd-Mensch-Beziehung auch bei großen Bemühungen von Seiten des Menschen manchmal zur Herausforderung werden kann.
Wie sich Verhaltensweisen entwickeln
Pferde sind von Natur aus unterschiedlich. Jedes Pferd bringt andere angeborene Neigungen mit. Es gibt heißblütige Pferde, gemütliche Pferde, jene die übermäßige Angst zeigen, tendenziell dominante Pferde usw. Entsprechende Tendenzen sind oft schon bei Fohlen erkennbar.
Wie sich die Youngsters weiter entwickeln, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Dazu zählen unter anderem die Haltung, die Sozialkontakte, die Erlebnisse und die Menschen im Leben eines Pferdes. Um sein Verhalten verstehen zu können, müssen wir die angeborenen Tendenzen eines Pferdes im Licht von allen Einflussfaktoren betrachten.
Lenas Geschichte
Lena ist ein wunderbares Beispiel für ein Pferd mit problematischen Verhaltensweisen, das aus guten Händen kommt. Die kleine Appaloosa-Stute wurde in Frankreich geboren und durfte ihre ersten Monate in guter Haltung an der Seite ihrer Mutter und anderer Stuten mit Fohlen verbringen. Im Vergleich zu den anderen Fohlen zeigte sich Lena besonders sensibel. Neuem gegenüber war sie skeptisch und reagierte unter Umständen sehr heftig, wenn sie Angst bekam. Die Tierärztin musste sich für Lena immer besonders viel Zeit nehmen.
Glücklicherweise fand Lena bald ihren Herzensmenschen Sybille und zog nach einem stressarmen Absetzen nach Deutschland um. Dort durfte sie im Herdenverband aufwachsen. Im Umgang mit dem Menschen zeigte sich Lena hier sehr liebevoll, aber reagierte auch immer wieder explosionsartig auf kleine Umweltreize.
Sybille zeigte Lena daher bald „die Welt“ und ging viel mit ihr spazieren. Das klappte schnell sehr gut. Lena war achtsam und vorsichtig im Umgang mit dem Menschen. Beim Menschen zu sein schien ihr die Sicherheit zu geben, die ihr fehlte. Auch mit anderen Pferden schien sie sich wohl zu fühlen. Allein sein konnte sie hingegen gar nicht. Das ist für Pferde von Natur aus nicht vorgesehen und somit oft nicht einfach. Lena reagierte aber überdurchschnittlich heftig auf jede Form von kurzzeitiger Separation.
Als Lena zwei Jahre alt wurde, stellte sich heraus, dass ihre Separationsängste auf den Umgang mit dem Menschen übergeschwappt waren. Das bedeutete, dass bereits zwei bis drei Meter Abstand zum Menschen für Lena Separation bedeuteten. Forderte man Lena auf, Abstand zu halten, geriet sie in Panik. Auch versuchte sie durch Steigen die Nähe einzufordern. Ihr Verhalten wirkte dabei in keiner Weise respektlos, sondern „nur“ panisch. Da Longieren Abstand erfordert, mündeten Longierversuche in hysterischen Anfällen.
Die Ausprägung des Verhaltens war enorm. Lena konnte bei Abstand zum Menschen nicht zur Ruhe kommen.
Gründe für Lenas Verhalten
Lässt man Lenas Geschichte Revue passieren, kann man die Kombination von Lenas natürlichen Tendenzen und der Nähe zum Menschen schnell als Auslöser für Lenas bizarre Reaktion auf das Abstandhalten identifizieren.
Die natürliche Tendenz allein hätte dem Menschen gegenüber wahrscheinlich keine Separationsängste verursacht, da Lena anfangs eher skeptisch auf Zweibeiner reagierte. Die Nähe zum Menschen als solche hätte wiederum ebenfalls nicht zu den Separationsängsten geführt, sonst hätten viele Pferde dieses Problem. Vieles spricht also für die Kombination der beiden Faktoren.
Der Fall von Lena zeigt, dass Verhaltensausbildung komplex ist. Ein Beschuldigen der Pferde oder der Besitzer ist in Problemfällen meist nicht angemessen.
Vielfältige Herausforderungen
In den letzten Jahren konnte ich mit sehr unterschiedlichen Pferd-Menschen-Paaren an individuellen Lösungen für problematische Verhaltensmuster arbeiten. Jeder Fall war für mich einzigartig. Die Hintergründe dafür, wie sich die jeweiligen Verhaltensweisen entwickelt hatten, waren immer andere.
Cody buckelte, wenn er einen Bauchgurt spürte, weil er als Jungpferd mit einem Bauchgurt in Panik geraten war. Die gesunde Josy wurde beim Reiten bitterböse, weil sie einmal einen Tumor hatte. Jupiter war aggressiv, weil er gelernt hatte, dass es für ihn die beste Option war. Jedes dieser Pferde kam „aus guten Händen“.
Ja, leider gibt es auf dieser Welt viele arme, misshandelte Pferde, die keine andere Chance haben als „Problempferde“ zu sein. Indem sie beißen, treten oder den Menschen niederrennen, wirken sie schadensmindernd für sich selbst.
Darüber hinaus gibt es aber auch scheinbar harmlose Einflussfaktoren, die das Gleichgewicht zwischen Mensch und Pferd erheblich beeinflussen können. In manchen Fällen kann es dann zur Entwicklung von problematischen Verhaltensweisen kommen, obwohl die Besitzer ihr Bestes gegeben haben.
Warum die Anführungszeichen?
Ein Pferd als „Problempferd“ zu bezeichnen, kann manchmal Teil des Problems sein. Denn die Bezeichnung wird schnell Programm. Nicht selten stempeln wir das Tier damit als Problem ab. Wie wir über unser Pferd denken, kann Auswirkungen auf sein Verhalten haben. Hintergrund-Infos dazu gibt’s in meinem Blog zum Pygmalion-Effekt.
Ich habe die Bezeichnung „Problempferd“ in diesem Artikel verwendet, weil sie trotzdem sehr verbreitet ist und die meisten Pferdeleute wissen, was damit gemeint ist. Die Anführungszeichen mögen ausdrücken, dass ich das Pferd nicht als Problem sehe.
Wie es mit Lena weiterging
Bevor der Artikel zu Ende geht, möchte ich noch berichten, dass Lena ihre Separationsängste in den Griff bekommen hat. Durch Zerlegung in kleine Schritte konnte Lena über einen Zeitraum von ca. sechs Wochen lernen, dass keine Gefahr besteht, wenn man Abstand zum Menschen hält. So war entspannte Bodenarbeit möglich und der Grundstein für die weitere Ausbildung zum Reitpferd gesetzt.
Beim Anreiten profitierten wir davon, dass die Nähe zum Menschen Lena Sicherheit gab. So konnte sie aufkommende Ängste überwinden. Trotzdem brauchte Lena besonders viel Zeit und Geduld bis sie mit dem Reiten zurechtkam.
Sybille und ich sahen Lena dabei aber nicht als „Problempferd“, sondern als besonders feinfühliges und sensibles Pferd – so fiel es uns leicht, ihr die Zeit zu schenken, die sie brauchte.
Florian Oberparleiter
März 2024
ZUR PERSON
Florian Oberparleiter ist international bekannter Pferdetrainer und hat sich sein ganzes Leben lang intensiv mit Tieren beschäftigt. In seinen Horsemanship- und Kommunikations-Kursen vermittelt er einen Umgang mit Pferden, der auf Körpersprache und Energie beruht. Er hat sich jahrelang mit verschiedenen Trainingskonzepten, Arbeitsweisen und Denkansätzen befasst und mit Pferdeexperten in den USA und Europa gearbeitet. Er schulte unablässig sein Gefühl und seine Wahrnehmung und entwickelte ein eigenständiges Trainingskonzept, das auf Kommunikation und nicht auf Konditionierung basiert und auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt.
Weitere Infos über ihn, seine Arbeit und seine Kurse findet man auf www.florian-oberparleiter.com. Apropos: Kurse mit Florian Oberparleiter können auch auf der eigenen Anlage – egal ob in Österreich, Deutschland, der Schweiz oder einem anderen Land – organisiert werden (Kontakte und Anfragen kann man über die Website, seine Facebook-Seite und seine Instagram-Seite an ihn richten). Er nimmt auf seiner Anlage auch Problempferde auf. Zudem bietet Florian Online-Kurse an, die sich großer Beliebtheit erfreuen – siehe www.florian-oberparleiter.com/online-schule/!
KommentareBevor Sie selbst Beiträge posten können, müssen Sie sich anmelden...Weitere Artikel zu diesem Thema:11.07.2023 - Florians Blog: So tückisch ist die "Erwartungsfalle" beim Pferdetraining
Florians Blog: So tückisch ist die "Erwartungsfalle" beim Pferdetraining 11.07.2023 / Blogs
Vor Kurzem hat Pferdetrainer Florian Oberparleiter in seinem Blog darüber berichtet, wie uns spezifische Erwartungen im Umgang mit Pferden in die Quere kommen können. Heute zeigt er anhand eines selbst erlebten Falles: Auch wenn man die „Erwartungsfalle“ gut kennt, ist man nicht davor gefeit, in sie hineinzutappen ...
Abel und Dynni sind zwei Isländer-Wallache, mit denen ich gelegentlich arbeiten darf. Sie haben mir kürzlich wieder einmal bewusst gemacht, wie unsere Erwartungen an Pferde den Trainingserfolg beeinflussen können.
Sowohl Dynni (auf dem Foto links zu sehen) als auch Abel (rechts) sind beide fortgeschritten in der Bodenarbeit. Abel hat sich aber immer besonders kooperativ gezeigt. Er ist daher auch schon länger „Professor“ in meiner Online-Schule. Als ich mit ihm mit Freiarbeit begonnen habe, stellte er sich ziemlich gut an. Vielleicht nicht ganz so gut, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber immerhin.
Bei Dynni hatte ich eine weniger hohe Erwartungshaltung. Er zeigte aber besondere Freude an der Freiarbeit und bot viele Dinge von selbst an. Schnell machte er große Fortschritte und hängte Abel im Niveau ab. Ich hatte damit – offen gesagt – nicht gerechnet und freute mich über jede Kleinigkeit, die er anbot. Aus den vielen Kleinigkeiten bauten wir ein schönes, großes Ganzes. Das fühlte sich einfach toll an!
Bald begann ich mich schon vor dem Training auf das tolle Gefühl mit ihm zu freuen. Ich begann vorauszusetzen, dass wieder alles so wunderbar wie die letzten Male sein würde. Aber als wir dann begannen, lief es aber nicht mehr so rund. „Naja, es kann ja auch nicht immer bergauf gehen …“, dachte ich und wartete darauf, dass sich das tolle Gefühl in der nächsten Trainingseinheit wieder einstellen würde. Aber leider hielt mich meine Erwartungshaltung auch in den nächsten Einheiten vom Erfolg ab. Beim Versuch, die Verbindung zu reproduzieren, die wir in der Vergangenheit hatten, entging mir, was gerade im Moment passierte: Ich war nicht mehr offen, kleine Versuche seinerseits zu sehen, sondern erwartete das große Ganze in der gleichen Qualität wie in der Vergangenheit zu erhalten. Ich war nicht mehr im Hier und Jetzt bei Dynni. Und so verflog der Zauber …
An Abel hatte ich an denselben Tagen keine großen Erwartungen. Ich wusste ja, dass er seine Sache im Großen und Ganzen gut macht und die Fortschritte langsam kommen würden. Ich nahm ihn unbewusst also an jedem Tag an, wie er gerade drauf war und machte das Beste daraus. Ich stimmte meine Hilfengebung auf seinen jeweiligen Zustand ab, ohne einem Gefühl aus der Vergangenheit nachzujagen. Dabei entging mir nicht, wenn er sich bemühte. Und so zeigte Abel dann auch sein Bestes! Bald war die Arbeit mit ihm richtig cool und machte viel Spaß. Davon gibt es ein Video, das ich kürzlich auf Social-Media veröffentlicht habe.
Zu diesem Zeitpunkt begann ich endlich zu realisieren, dass ich mir mit Dynni selbst im Weg stand – genau das, was ich anderen Menschen oft versuche aufzuzeigen. Es soll mir eine Lehre sein: Auch wenn man die „Erwartungsfalle“ gut kennt, ist man im eigenen Tun manchmal „betriebsblind“ …
Als mir diese Einsicht endlich dämmerte, begann ich, es mit Dynni wieder langsamer anzugehen. Ich startete damit, ihn nur zu bewegen, statt ihn zu trainieren. Dabei versuchte ich, mich in ihn hineinzufühlen und Kleinigkeiten zu belohnen. Ich begann, meine Energie wieder auf seine abzustimmen, statt nach einem Gefühl aus der Vergangenheit zu suchen. Ich ließ Dynni wieder Dynni sein.
Und dreimal dürft ihr raten … Dynni zeigte sich wieder von seiner besten Seite! Oder besser gesagt: von einer noch besseren, als ich sie schon kannte. Denn als ich endlich wieder offen für ihn war, konnte er sich noch weiter entfalten.
Ich hab mich so gefreut und mir gedacht, das muss ich euch erzählen! Vielleicht steckt der eine oder die andere ja gerade auch in einer solchen Falle fest, ohne sich dessen bewusst zu sein …?
Florian Oberparleiter
Juli 2023
ZUR PERSON
Florian Oberparleiter ist international bekannter Pferdetrainer und hat sich sein ganzes Leben lang intensiv mit Tieren beschäftigt. In seinen Horsemanship- und Kommunikations-Kursen vermittelt er einen Umgang mit Pferden, der auf Körpersprache und Energie beruht. Er hat sich jahrelang mit verschiedenen Trainingskonzepten, Arbeitsweisen und Denkansätzen befasst und mit Pferdeexperten in den USA und Europa gearbeitet. Er schulte unablässig sein Gefühl und seine Wahrnehmung und entwickelte ein eigenständiges Trainingskonzept, das auf Kommunikation und nicht auf Konditionierung basiert und auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt.
Weitere Infos über ihn, seine Arbeit und seine Kurse findet man auf www.florian-oberparleiter.com. Apropos: Kurse mit Florian Oberparleiter können auch auf der eigenen Anlage – egal ob in Österreich, Deutschland, der Schweiz oder einem anderen Land – organisiert werden (Kontakte und Anfragen kann man über die Website, seine Facebook-Seite und seine Instagram-Seite an ihn richten). Zudem bietet Florian auch Online-Kurse an, die sich großer Beliebtheit erfreuen – siehe www.florian-oberparleiter.com/online-schule/!
31.05.2023 - Florians Blog: Wie Erwartungen uns in die Quere kommen können
Florians Blog: Wie Erwartungen uns in die Quere kommen können 31.05.2023 / News
Was erwarten wir von unserem Pferd? Wie hat es sich zu verhalten, zu sein, sich anzufühlen? Wenn unsere Vorstellungen dazu sehr konkret sind, kann das problematisch sein. Spezifische Erwartungen können zu Stolpersteinen werden, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind.
Durch unsere Erwartungshaltung können sich mentale und körperliche Spannungen aufbauen, die wir unbewusst auch aufs Pferd übertragen. Foto: Florian Oberparleiter
Heute genauso toll wie gestern?
Es gibt diese Tage, an denen sich im Pferdetraining alles perfekt entwickelt. Völlig unerwartet sind wir plötzlich eins mit dem Pferd. Alles geht leicht von der Hand, die Trainingseinheit ist eine Freude.
Am darauffolgenden Tag möchten wir dasselbe noch einmal erleben. Wir erwarten, dass sich das gleiche tolle Gefühl einstellt. Doch seltsamerweise will und will die heutige Trainingseinheit nicht so gut verlaufen. Egal wie sehr wir uns anstrengen – Leichtigkeit bleibt unerreichbar. Das tolle Gefühl von gestern ist dahin.
Unterschiede in der Erwartungshaltung
Eine häufige Ursache für solche Phänomene ist unsere unterschiedliche Erwartungshaltung an verschiedenen Tagen. Im obigen Beispiel sind wir am ersten Tag ohne Erwartungen zum Pferd gekommen und haben die Situation und das Tier so angenommen, wie sie gewesen sind. Wir haben uns auf alles eingelassen, uns vom Gefühl für das Pferd tragen lassen und dann dankend angenommen, was uns das Pferd geschenkt hat.
Am zweiten Tag haben unsere Erwartungen mentale und körperliche Spannungen aufgebaut. Während wir nach dem Gefühl vom Vortag Ausschau halten, entgeht uns, was das Pferd heute anbietet und wie es sich heute anfühlt. Mit dem Versuch, das Gefühl vom Vortag zu reproduzieren, verschließen wir uns der Realität und versäumen anzunehmen, was tatsächlich da ist.
Positiv ist nicht gleich positiv
Eine allgemeine positive Grundhaltung gegenüber unserem Pferd zu haben, kann sehr hilfreich sein. Die damit verbundene Erwartungshaltung erlaubt uns, den Fokus auf die Qualitäten des Pferdes zu legen und diese zu fördern (mehr dazu kann man in meinem Blog zum Pygmalion-Effekt nachlesen).
Positive Erwartungen können aber dann problematisch sein, wenn sie spezifisch sind. Das ist dann der Fall, wenn wir erwarten, wie unser Pferd oder die Beziehung zu ihm genau zu sein hat. Unsere Vorstellungen, wie sich das Pferd verhalten, bewegen oder anfühlen soll, können zum Hemmschuh werden.
Die Kunst besteht also darin, eine positive, aber zugleich offene Erwartungshaltung zu pflegen. Denn nur wenn wir das Pferd annehmen wie es ist und seine aktuelle Situation erfassen, können wir die richtigen Hilfen – wohl dosiert und gut getimt – geben.
Erwartungen bei hohem Ausbildungsniveau
Selbstverständlich kann mit zunehmendem Ausbildungsniveau vom Pferd mehr erwartet werden. Es würde etwas falsch laufen, wenn man von einem sorgsam ausgebildeten Pferd nicht mehr als von einem rohen Pferd erwarten könnte.
Interessanterweise verschwindet das „Erwartungs-Problem“ aber nicht mit steigendem Ausbildungsniveau von Mensch und Pferd. Es findet nur auf einem anderen Level statt. Von dem Pferd, das heute toll piaffiert, wird dies auch morgen erwartet. Morgen liefert es auch eine Piaffe – es ist ja kein Anfänger – aber vielleicht halten es unsere Erwartungshaltungen davon ab, die Qualität vom Vortag zu liefern.
Neues Pferd, neues Gefühl
Auf das „Erwartungs-Problem“ treffe ich auch häufig bei Menschen, die ein geliebtes Pferd verloren haben und sich schließlich für ein neues Tier entscheiden. Sie sind oft auf der Suche nach demselben wunderbaren Gefühl, das sie mit ihrem Vorgänger-Pferd hatten.
Man muss sich aber vergegenwärtigen: Ein neues Pferd wird nie GENAUSO gut sein, wie ein geliebter Vorgänger, aber es kann mit Sicherheit ANDERS gut sein – auf seine Weise! Dazu muss man sich aber auf das Pferd einlassen und aufhören zu vergleichen. Das ist jedoch oft ein großer Schritt, für den wir Menschen manchmal über den eigenen Schatten springen müssen.
„Unglaublich, was mir bisher entgangen ist!“
Karin, eine passionierte Wanderreiterin aus der Steiermark, führte mir einmal die Kraft der Erwartungshaltung besonders gut vor Augen. Als ich sie kennenlernte, hatte sie ihr jahrelanges Verlasspferd Lucky verloren und nahm mit ihrem neuen Pferd Charley bei einem meiner Kurse teil.
Lucky war Karins Traumpferd gewesen. Mit ihm hatte sie jeden unwegsamen Pfad gemeistert, Kreuzungen überquert und war tapfer an großen Fahrzeugen vorbei geritten. Die Latte lag somit hoch für das Nachfolger-Pferd Charley. Als tendenziell eher unruhiges und nervöses Pferd erfüllte er Karins Erwartungen mehr schlecht als recht.
Charley ständig mit Lucky zu vergleichen, hielt Karin davon ab, Charleys wunderbare, aber ganz andere Eigenschaften zu erkennen. In der gemeinsamen Arbeit richteten wir daher den Fokus darauf, Charley wahrzunehmen wie er war. Dabei nutzten wir eine einfache Übung, bei der man beim Reiten alles kommentiert, was das Pferd gerade gut macht, auch wenn man es für eine unbedeutende Kleinigkeit hält. Am Anfang fällt einem dabei vielleicht nicht viel auf, was man positiv kommentieren könnte. Doch je mehr man sich auf die Situation einlässt, umso mehr Positives bemerkt man. Und ehe man es sich versieht, hat man seine Erwartungen hinter sich gelassen und ist ganz beim Pferd im Hier und Jetzt.
Als Karin von ihrem Pferd abstieg, strahlte sie mich an und meinte: „Heute habe ich zum ersten Mal Charley geritten. Bisher bin ich in mein Kopf immer noch auf Lucky gesessen und hab mich nie auf Charley eingelassen! Unglaublich, was mir bisher entgangen ist!“
In den Moment kommen
Unsere Erwartungen können sich manchmal zwischen uns und den Moment stellen. Doch genau dort, im Moment, im Hier und Jetzt sollten wir sein, wenn wir bei Pferden sind. Dort sind Pferde zuhause – dort schenken sie uns alles was sie haben.
Florian Oberparleiter
Mai 2023
ZUR PERSON
Florian Oberparleiter ist international bekannter Pferdetrainer und hat sich sein ganzes Leben lang intensiv mit Tieren beschäftigt. In seinen Horsemanship- und Kommunikations-Kursen vermittelt er einen Umgang mit Pferden, der auf Körpersprache und Energie beruht. Er hat sich jahrelang mit verschiedenen Trainingskonzepten, Arbeitsweisen und Denkansätzen befasst und mit Pferdeexperten in den USA und Europa gearbeitet. Er schulte unablässig sein Gefühl und seine Wahrnehmung und entwickelte ein eigenständiges Trainingskonzept, das auf Kommunikation und nicht auf Konditionierung basiert und auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt.
Weitere Infos über ihn, seine Arbeit und seine Kurse findet man auf www.florian-oberparleiter.com. Apropos: Kurse mit Florian Oberparleiter können auch auf der eigenen Anlage – egal ob in Österreich, Deutschland, der Schweiz oder einem anderen Land – organisiert werden (Kontakte und Anfragen kann man über die Website, seine Facebook-Seite und seine Instagram-Seite an ihn richten). Zudem bietet Florian auch Online-Kurse an, die sich großer Beliebtheit erfreuen – siehe www.florian-oberparleiter.com/online-schule/!
02.03.2023 - Florians Blog: Pass auf, wie du über dein Pferd denkst!
Florians Blog: Pass auf, wie du über dein Pferd denkst! 02.03.2023 / Blogs
Wie wir unser Gegenüber sehen, so behandeln wir es auch – bewusst oder unbewusst, und das kann direkten Einfluss auf die Entwicklung und das Verhalten unseres Gegenübers haben. Diesen sogenannten Pygmalion-Effekt gilt es auch im Umgang mit Pferden zu beachten. Denn was wir über unser Pferd denken, könnte Wirklichkeit werden!
Foto: Hannah Assil
Vom „sturen Gaul“ zum sensiblen und intelligenten Pferd
Die meisten Pferd-Mensch-Beziehungen sind emotional. Dazu gehören sowohl positive als auch negative Emotionen. Bei der – beim Reiten im wahrsten Sinne des Wortes – engen Zusammenarbeit von Mensch und Pferd, neigen wir Menschen dazu, unserem Pferd bestimmte Attribute zuzuschreiben, und die sind nicht immer positiv.
In den Augen der Menschen gibt es da nicht nur „brave“, sondern auch „sture“, „dumme“, oder gar „A…loch-“ Pferde. Diese Zuschreibungen sind selten fair – und können sogar sehr problematisch sein.
Einerseits halten wir – unbewusst – ständig Ausschau nach Verhaltensweisen, die unsere Zuschreibung untermauern und sehen über gegenteilige Indizien hinweg. In der Psychologie nennt man das den Bestätigungsfehler.
Andererseits beeinflusst unsere Bewertung des Pferdes die Behandlung des Tieres: Behandeln wir unser Pferd als „sturen Gaul“, wird es ein solcher bleiben (oder eher werden!). Behandeln wir es als sensibles und intelligentes Lebewesen, wird es uns als solches begegnen. Ob positive oder negative Zuschreibungen, das Pferd wird sich ihnen anpassen!
Wissenschaftlicher Hintergrund
Dieser Effekt ist in der Psychologie als Rosenthal oder Pygmalion-Effekt bekannt. Er geht auf eine bahnbrechende Studie in den 1960er Jahren zurück. Dabei wurde Lehrkräften mitgeteilt, dass einige Kinder in ihren Klassen besonderes Potenzial in ihrer intellektuellen Entwicklung hätten. Diese Kinder waren jedoch nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden. Doch siehe da, acht Monate später wiesen genau diese Kinder ein signifikant höheren IQ auf.
Die Forscher, die diese Studie durchgeführt hatten, Robert Rosenthal und Lenore Jacobson, zogen aus diesem Ergebnis den Schluss, dass die Lehrer diese Schüler durch ihre positive Erwartung unbewusst anders behandelt hatten und so ihre Entwicklung besonders positiv beeinflussten.
Dieses Prinzip wurde im Vorfeld schon mit Ratten getestet und es folgten viele Nachfolge-Studien. Immer korrelierte die Erwartungshaltung der Lehrenden mit der Leistung der Schülerinnen und Schüler.
Mein erster Kontakt mit dem Pygmalion-Effekt im Pferdetraining
Zu Beginn meiner Trainertätigkeit wurde mir in meinen Horsemanship-Kursen die Relevanz des Pygmalion-Effekts im Umgang mit Pferden zum ersten Mal bewusst. In den Vorstellungsrunden zu Beginn der Kurse beschrieben die BesitzerInnen ihr Pferd häufig als „blöd“, „stur“ oder „böse“, untermauert von diversen Anekdoten.
Ich ließ mich von diesen scheinbaren Fakten beeinflussen und erwartete vierbeinige Gegner. Überraschenderweise traf ich später aber immer „nur“ auf Pferde. Auf liebe, nette Pferde sogar, die nur noch nicht ganz verstanden worden waren.
Behandelte ich dann die Pferde so, wie ich sie empfand, merkte ich in vielen Fällen nichts von den beschrieben negativen Tendenzen. Ließ ich die Worte aus der Vorstellungsrunde jedoch nachhallen, ertappte ich mich dabei, genau diese Eigenschaften in den Tieren hervorzurufen.
So wurde ich erstmals für dieses Thema sensibilisiert, ohne es benennen zu können. Bis heute erlebe ich regelmäßig, wie das Verhalten von Pferden sich mit der Einstellung ihrer Besitzer verändern kann.
Leichter gesagt als getan
In der Praxis ist es nicht immer einfach, nur das Gute in seinem Pferd zu sehen. Je unerwünschter sein Verhalten wird, umso schwerer fällt uns das in der Regel. Das erlebe ich beispielsweise oft bei aggressivem Verhalten.
Hat ein Pferd einmal gelernt zu beißen, zu buckeln oder gar den Menschen zu attackieren, neigen viele Menschen dazu, es für „böse“ zu halten. Warum das Pferd sich so verhält, wird dabei leicht aus den Augen verloren. Stattdessen behandeln wir das „böse“ Pferd natürlich auch als solches. In der Regel trägt aber genau solch eine Behandlung dazu bei, dass das Pferd „böse“ ist.
Der böse Normen
Vor nicht allzu langer Zeit durfte ich mit Normen arbeiten. Der große Warmblüter zeigte sich alles andere als kooperativ. Er hatte gelernt, den Menschen anzusteigen, wenn ihm etwas gegen den Strich ging oder sich seines Reiters durch Steigen zu entledigen. Ging man hinter ihm vorbei, lief man Gefahr, einen Tritt abzubekommen.
In seinem Stall galt Normen als „A…loch“. Wurde mit ihm gearbeitet, versuchte man durch entsprechenden Druck, eine Eskalation zu verhindern. Dies hatte den Anschein zu funktionieren, denn wenn der Druck stark genug war, beugt sich ihm Normen. Allerdings geschah dies mit großem Widerwillen und hatte zur Folge, dass Normens Toleranzgrenze für jegliche Einwirkung auf ihn immer niedriger wurde. Mit der Zeit reichte es aus, dass der Mensch die Richtung anzeigte, um Normen ausrasten zu lassen.
Unbeteiligten Dritten fällt es in einem Fall wie diesem leichter, die Schuld nicht beim Pferd zu suchen – ganz anders sieht es aber aus, wenn man tatsächlich einem großen Kerl wie Normen gegenübersteht. Schuldzuweisungen sind daher nicht angebracht.
Als Normen in meine Obhut kam, begann ich sukzessive daran zu arbeiten, ihm den Grund für seine Reaktion (zu viel Druck) zu nehmen. Dass ich ihn als sensibles, missverstandenes Pferd mit weichem Herzen sah, half mir, die Mittel und Wege zu finden, die er brauchte, um auf den richtigen Weg zu kommen.
Richtig verstanden
Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass durch eine positive oder gar naive Sichtweise Probleme einfach verschwinden – dies zu glauben, könnte sehr gefährlich werden, denn selbstverständlich ist ein achtsamer Umgang mit unerwünschten Verhaltensweisen des Pferdes geboten. Es geht vielmehr darum, auch die positiven Seiten des Pferdes zu sehen und diese vielleicht sogar in den Vordergrund zu rücken.
Dazu gehört, das Potential des Pferdes zu erkennen, aber auch nicht zu überschätzen. Jedes Pferd hat natürliche Grenzen. Sich nicht von der Vergabe negativer Attribute hemmen zu lassen, aber auch nicht die natürlichen Grenzen des Pferdes zu übergehen, ist die Kunst bei der Sache.
Halte ich meinen leicht erregbaren Vollblüter für hysterisch, wird er wohl auch so sein und bleiben. Behandle ich ihn im Gegenteil gleich wie ein nervenstarkes Pferd, das weder Großvieh noch Mähdrescher fürchtet, kann es auch schnell mal gefährlich werden. Die Lösung liegt in der Mitte: Sehe ich ihn als ein hochsensibles Pferd mit wunderbaren Fähigkeiten, gelingt es mir am ehesten, mich an sein wahres Potential heranzutasten.
Die positiven Seiten des Pferdes zu sehen, schenkt uns die Geduld, ihm die Zeit zu geben, die es braucht und die Bereitschaft, unser Training auf das Pferd abzustimmen.
Ein positiver Nebeneffekt
Es ist ein tolles Gefühl, ein liebes, feines, sensibles oder gemütliches Pferd zu reiten. Meistens macht es mit bösen, sturen, unsensiblen oder faulen Gäulen nicht so viel Spaß. Dabei sind das alles nur Zuschreibungen, mit denen wir unsere Pferde versehen.
Das Pferd negativ abzustempeln, nimmt uns die Freude am Umgang mit ihm. Das Gute im Pferd zu sehen, tut auch uns Menschen gut.
Florian Oberparleiter
März 2023
Quellenangaben:
Rosenthal, Robert; Jacobson, Lenore (1966). Teachers' Expectancies Determinants of Pupils' IQ Gains, in: Psychological Reports, 19, S. 115-118
Rosenthal, Robert; Fode, Kermit L. (1963), The Effect of Experimenter Bias on the Performance of the Albino Rat, in: Behavioral Science 8, S. 183-189
ZUR PERSON
Florian Oberparleiter ist international bekannter Pferdetrainer und hat sich sein ganzes Leben lang intensiv mit Tieren beschäftigt. In seinen Horsemanship- und Kommunikations-Kursen vermittelt er einen Umgang mit Pferden, der auf Körpersprache und Energie beruht. Er hat sich jahrelang mit verschiedenen Trainingskonzepten, Arbeitsweisen und Denkansätzen befasst und mit Pferdeexperten in den USA und Europa gearbeitet. Er schulte unablässig sein Gefühl und seine Wahrnehmung und entwickelte ein eigenständiges Trainingskonzept, das auf Kommunikation und nicht auf Konditionierung basiert und auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt.
Weitere Infos über ihn, seine Arbeit und seine Kurse findet man auf www.florian-oberparleiter.com. Apropos: Kurse mit Florian Oberparleiter können auch auf der eigenen Anlage – egal ob in Österreich, Deutschland, der Schweiz oder einem anderen Land – organisiert werden (Kontakte und Anfragen kann man über die Website, seine Facebook-Seite und seine Instagram-Seite an ihn richten). Zudem bietet Florian auch Online-Kurse an, die sich großer Beliebtheit erfreuen – siehe www.florian-oberparleiter.com/online-schule/!
26.01.2023 - Florians Blog: Präsenz - weil der Moment für das Pferd zählt
Florians Blog: Präsenz - weil der Moment für das Pferd zählt 26.01.2023 / Blogs
Kommunikation zwischen Mensch und Pferd passiert im Augenblick – sind wir in unseren Gedanken nicht im Hier und Jetzt, laufen wir Gefahr, Signale auszusenden, derer wir uns nicht bewusst sind. / Foto: Hannah Assil
Kommunikation mit Pferden passiert im Augenblick. Ob der Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen dabei im Hier und Jetzt ist, spielt eine entscheidende Rolle. Warum aber ist das so? Was genau passiert, wenn wir nicht präsent sind? Welche Möglichkeiten gibt es, sich besser auf den Moment einzulassen? Und kann man es mit der Präsenz auch übertreiben?
Unterschiedliche Tendenzen von Pferd und Mensch
Menschen habe die wunderbare Fähigkeit, sowohl über die Vergangenheit, als auch über die Zukunft nachzudenken. Somit sind wir in der Lage, in Erinnerungen zu schwelgen und unsere Zukunft zu planen. Dabei kann es passieren, dass wir auf das Hier und Jetzt vergessen. Das geht so weit, dass wir manchmal nicht mehr in der Lage sind, uns auf den Moment einzulassen.
Für Pferde hingegen ist das Hier und Jetzt das Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie leben jeden Moment in voller Intensität. Dabei werden frühere Erfahrungen zwar genutzt, um Geschehnisse und Dinge einzuordnen, der Fokus liegt aber auf dem Augenblick.
Ich erlebe diese unterschiedlichen Tendenzen in Pferd und Mensch als Ursache für viele Missverständnisse im Umgang miteinander.
Was passiert, wenn wir nicht präsent sind
Pferde sind auf nonverbale Kommunikation angewiesen. Wollen wir mit ihnen kommunizieren, müssen wir uns unserer eigenen Körpersprache bewusst sein. Sind wir in unseren Gedanken nicht im Hier und Jetzt, laufen wir Gefahr Signale auszusenden, derer wir uns nicht bewusst sind.
Wenn unsere Gedanken beispielsweise um etwas kreisen, das uns nervt oder stresst, drückt dies auch unser Körper aus. Auch wenn die Ursache unserer negativen Gedanken fernab der aktuellen Situation liegen, nimmt sie das Pferd in diesem Moment wahr.
Neben dem Senden von Signalen betrifft nicht vorhandene Präsenz auch das Empfangen solcher. Denn Pferde selbst senden sehr subtile Signale, die von uns wahrgenommen werden wollen. Sind wir in unseren Gedanken woanders, werden uns feine Anbahnungen des Pferdes entgehen.
Auch unser Timing leidet, wenn wir nicht präsent sind. Denn selbst wenn wir unseren Körperausdruck kontrollieren und jenen des Pferdes im Auge behalten würden, wird sich unsere Reaktionszeit erhöhen, wenn wir nicht bei der Sache sind. Um ein Pferd erfolgreich zu trainieren, braucht es aber punktgenaue Reaktionen auf sein Verhalten und Signale.
Nach der Arbeit zum Pferd
Pferde werden oft als Entspannungsfaktor gesehen. So wird der Besuch beim Pferd nach einem stressigen Arbeitstag von vielen sehnlichst erwartet. Im Stall angekommen ist unser Geist noch mit den Dingen beschäftigt, die uns heute passiert sind, uns geärgert oder gestresst haben. Vielleicht sind wir aber auch schon beim morgigen Arbeitstag: was wir da zu tun haben, was heute liegen geblieben ist und morgen erledigt werden muss.
In solch einer Verfassung sein Pferd zu trainieren ist nicht immer die beste Entscheidung. Denn Pferdetraining erfordert sowohl Präsenz als auch Geduld und Einfühlungsvermögen – alles Dinge, an denen es fehlt, wenn wir uns in schwachem Gemütszustand befinden. Dies ist leider auf vielen Reitplätzen dieser Welt ab spätem Nachmittag täglich zu beobachten …
Einfach Zeit mit dem Pferd zu verbringen, statt es trainieren zu wollen, ist da eine mögliche Lösung. Ich habe mir daher vor gut zehn Jahren angewöhnt, dass ich in solch einer Verfassung mit dem Pferd spazieren gehe oder es grasen lasse. Dabei fordere ich nichts und erwarte nichts. Ich versuche das Pferd zu fühlen und lasse meinen Gedanken zur Ruhe kommen.
Statt meinen Gemütszustand aufs Pferd zu übertragen, versuche ich jenen des Pferdes auf mich zu übertragen. Erst wenn es mir gelingt die Verbindung zum Pferd und somit mich selbst wieder zu spüren, ziehe ich das Training in Erwägung. Manchmal starte ich dann eine Trainingseinheit, manchmal auch nicht. Mit dieser Strategie habe ich meinen Pferden und mir viel Frustration erspart.
Das richtige Maß finden
Immer wieder treffe ich Menschen, die das Gebot zur Präsenz jedoch zu ernst nehmen. Da ist dann eine Meditation im Rahmen des Pferdebesuches unumgänglich. Da wird jedes unerwünschte Verhalten des Pferdes auf sich bezogen. Da muss man zuerst in seine Mitte kommen, bevor man mit dem Pferd interagiert.
Hier ist für mich das gesunde Maß verloren gegangen. Denn um eine gute Horsewoman oder ein guter Horseman zu sein, müssen wir nicht perfekt sein. Ein bisschen Unaufmerksamkeit, ein bisschen Gedanken schweifen, ein bisschen Mensch sein, ist dem Pferd in meinen Augen schon zumutbar. Die Grundlagen im Training sollten auch funktionieren, wenn wir nicht im perfekt ausgeglichenen, mentalen Zustand sind!
Streben wir aber nach einem langfristigen, harmonischen Miteinander, müssen wir so gut es geht Vergangenheit und Zukunft hintanstellen und in den Moment eintauchen. Je feiner wir werden wollen, umso wichtiger wird das. Wollen wir nach den Sternen greifen und ganz besondere Momente mit unseren Pferden erleben, wird unsere Präsenz unumgänglich.
Eine einfache Übung, um sich auf den Moment einzulassen
Die Bewegungen der Pferdebeine unter dem Sattel zu differenzieren, ist eine einfach Möglichkeit, um ins Hier und Jetzt zu kommen. Dabei konzentriert man sich beim Reiten jeweils auf ein Pferdebein und versucht zu erspüren, wann genau es auf- oder abfußt. Kommentiert man laut mit („Jetzt fußt das rechte Hinterbein ab, jetzt, jetzt, jetzt, …“) kann ein Helfer vom Boden aus unsere Angaben überprüfen und Feedback geben.
Diese Übung schult grundsätzlich unsere reiterlichen Fähigkeiten (exzellente Reiter wissen genau, wo welches Bein ist). Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass sie den Menschen eine große Hilfe dabei sein kann, ihre Gedanken und Gefühle auf den Moment zu lenken. Das körperliche Fühlen (Wie fühlt sich die Bewegung an?) stellt eine Tür ins Hier und Jetzt dar. Nützen wir sie, sind wir einem harmonischen Miteinander einen Schritt näher gekommen.
Florian Oberparleiter
Jänner 2023
ZUR PERSON
Florian Oberparleiter ist international bekannter Pferdetrainer und hat sich sein ganzes Leben lang intensiv mit Tieren beschäftigt. In seinen Horsemanship- und Kommunikations-Kursen vermittelt er einen Umgang mit Pferden, der auf Körpersprache und Energie beruht. Er hat sich jahrelang mit verschiedenen Trainingskonzepten, Arbeitsweisen und Denkansätzen befasst und mit Pferdeexperten in den USA und Europa gearbeitet. Er schulte unablässig sein Gefühl und seine Wahrnehmung und entwickelte ein eigenständiges Trainingskonzept, das auf Kommunikation und nicht auf Konditionierung basiert und auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt.
Weitere Infos über ihn, seine Arbeit und seine Kurse findet man auf www.florian-oberparleiter.com. Apropos: Kurse mit Florian Oberparleiter können auch auf der eigenen Anlage – egal ob in Österreich, Deutschland, der Schweiz oder einem anderen Land – organisiert werden (Kontakte und Anfragen kann man über die Website, seine Facebook-Seite und seine Instagram-Seite an ihn richten). Zudem bietet Florian auch Online-Kurse an, die sich großer Beliebtheit erfreuen – siehe www.florian-oberparleiter.com/online-schule/!
|