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Todesserie in der Vielseitigkeit: Reiter und Veranstalter wollen abwerfbare Hindernisse!
08.03.2020 / News

Der MIM-Clip sorgt dafür, dass Hinderniselemente bei einem bestimmten Vorwärts- oder Aufwärtsdruck nachgeben – das System wurde eigens dafür entwickelt, Rotationsstürze zu verhindern.
Der MIM-Clip sorgt dafür, dass Hinderniselemente bei einem bestimmten Vorwärts- oder Aufwärtsdruck nachgeben – das System wurde eigens dafür entwickelt, Rotationsstürze zu verhindern. / Foto: FEI

Eine Initiative von Veranstaltern und Reitern für die flächendeckende Ausstattung aller VS-Strecken mit abwerfbaren Hindernissen bringt die Verbände in Zugzwang – und das ist gut so! Ein Kommentar von Leo Pingitzer.


Solange man zurückdenken kann, hat es eine solche Todesserie im Vielseitigkeitssport noch nie gegeben: Seit dem Juli des Vorjahres sind acht ReiterInnen bei Stürzen im Training oder auf Turnieren ums Leben gekommen. Das entspricht – und man erschaudert angesichts dieser erschreckenden Zahl – nahezu ein tödlicher Unfall pro Monat. Man könnte aber auch erschaudern angesichts der Tatsache, dass – von kurzfristiger Betroffenheit abgesehen – der Pferdesport insgesamt von diesem grauenhaften Blutzoll wenig berührt erscheint. Zum letzten tödlichen Sturz der kanadischen Eventerin Katherine Morel am 29. Februar 2020 in Altoona/USA (siehe auch unseren Bericht darüber) gibt es noch immer keine offizielle Stellungnahme der FEI – und auch keine breite Diskussion darüber, was in der Vielseitigkeit generell falsch läuft und wie man die tödlichen Gefahren, die ganz offensichtlich in dieser Disziplin lauern, endlich und nachhaltig in den Griff bekommen könnte. Es scheint, als habe man seitens des Weltverbandes das Thema in den letzten Jahren gleichsam zu Tode diskutiert, ohne zu einer wirklichen Lösung gekommen zu sein. Und das gilt wohl auch für viele nationale Verbände – sie scheinen vor dem Sicherheitsproblem in der Vielseitigkeit kapituliert zu haben, neue Initiativen oder entschlossene Maßnahmen sucht man vergebens.

Glücklicherweise aber hat sich die Agonie der Verbände nicht auf die gesamte Szene übertragen – wie ein bemerkenswerter Vorstoß einer Gruppe von engagierten ReiterInnen und Veranstaltern in den USA beweist. Sie können und wollen dem Status quo nicht länger zusehen – und auch nicht länger auf eine Lösung „von oben“ warten, sondern haben selbst eine Initiative in Form einer Crowdfunding-Kampagne „Frangible Fences for Eventing in US" gestartet. Man habe sich zusammengefunden, heißt es in der Erklärung auf Gofundme, „um eine zweite Plattform zusätzlich zur USEA (United States Eventing Association, Anm.) zu etablieren und so finanzielle Mittel für den Bau abwerfbarer Hindernisse zur Verfügung stellen zu können. Denn die bestehenden Hindernisse müssen landesweit durch diese sichere Technologie ersetzt werden“, so die Initiatoren.

„Es ist an der Zeit, etwas zu verändern!“

In der Erklärung heißt es weiter: „Jetzt ist es an der Zeit, etwas zu verändern und unseren Sport sicherer zu machen. Wir haben die Technologie dafür – und brauchen jetzt die finanziellen Mittel, um sie auch zu realisieren. Die Veranstalter wollen es – haben aber nicht die finanziellen Möglichkeiten, dies allein umzusetzen.“

Und man habe bereits einen detaillierten Plan, wie man konkret vorgehen möchte: „Wir haben berechnet, dass jedes neue Tisch-Hindernis (da die meisten Tisch-Hindernisse nicht einfach nachgerüstet werden können) ungefähr 1.000,– US-Dollar kostet, abhängig von den Holzkosten für den jeweiligen Standort. In den USA haben wir insgesamt 108 Vielseitigkeits-Strecken auf Einsteiger-Niveau, 50 auf mittlerem Niveau und 19 auf fortgeschrittenem Niveau. Darüber hinaus gibt es mehrere FEI-Kurse, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Wenn wir annehmen, dass es mindestens zwei Tische für Einsteiger-Strecken, drei für mittlere Strecken und vier für fortgeschrittene Strecken gibt, würde dies einer Investitionssumme von ca. 450.000,– US-Dollar entsprechen. Dies wäre das Minimum – weshalb wir als unser Ziel 500.000,– US-Dollar definiert haben.“

Und weiter: „Zunächst werden wir uns mit dem Austausch der Tisch-Hindernisse mit den geeigneten MIM-Sicherheits-Kits befassen. Sobald dies abgeschlossen ist, möchten wir diese Plattform nutzen, um sämtliche abwerfbaren Hindernisse (einschließlich Oxer, Steilsprünge, Gatter etc.) samt der dazugehörigen Sicherheits-Kits finanzieren zu können. Alle über diese Crowdfunding-Kampagne organisierten Mittel werden direkt an die Veranstalter im ganzen Land weitergegeben.“

Die Kampagne ist zwar noch weit von ihrem Ziel entfernt – hat aber in den USA ein großes Echo gefunden und konnte innerhalb von fünf Tagen bereits mehr als 77.000,– US-Dollar an Spenden erzielen, was bedeutend mehr als nur ein Achtungserfolg ist. Die breite Unterstützung beweist, dass auch viele andere mit der aktuellen Situation unzufrieden sind – und wollen, dass sich in der Vielseitigkeit Grundlegendes ändert. Das zeigen auch manche Postings von Unterstützern: „Wir müssen zusammenhalten, um diesen wunderbaren Sport so sicher wie möglich zu machen! Meine Tochter ist eine Eventerin und es gibt nichts, was ich nicht tun würde, damit sie und ihr Pferd so sicher wie möglich unterwegs sind. Machen wir das möglich!“

Und eine andere meinte: „Die Verantwortung liegt in unserer Hand – als Reiter gegenüber unseren Pferden und gegenüber unseren Mitreitern und ihren Pferden. Es gibt keinen Grund, hier nicht zu spenden, da das Geld direkt für die Sache verwendet wird und nicht für irgendwelche Verwaltungsaufgaben. Denkt bitte nach: Es könnte Eure Tochter oder Euer Sohn, Eure Frau oder Euer Ehemann, Euer Trainer oder Freund oder Euer Pferd sein! Aber denkt nicht nur darüber nach – tut es einfach! Lasst uns gemeinsam etwas verändern!“

Video zeigt den eindrucksvollen Unterschied

Worum es konkret geht und welch großen und bisweilen lebensrettenden Unterschied die Verwendung von abwerfbaren Hindernissen in der Vielseitigkeit bedeuten kann, das zeigt nichts besser und eindrucksvoller als ein kurzes Video, das der Olympiastützpunkt Westfalen vor etwa zwei Jahren auf Facebook gepostet hat. Zu sehen ist dabei eine bemerkenswerte Szene beim Vielseitigkeitsturnier von 25.–27. Mai 2018 in Warendorf – und wie ein Teilnehmer auf ein Tisch-Hindernis zureitet. Doch die Distanz passt nicht, der Absprungpunkt ist viel zu nahe beim Hindernis, in der Aufwärtsbewegung stößt das Pferd mit den Vorderbeinen gegen den Tisch: Unter ,normalen’ Umständen wäre ein Sturz nicht zu vermeiden gewesen – und es wäre wohl genau einer jener gefürchteten Rotationsstürze geworden, bei denen sich das Pferd, das am festen Hindernis hängenbleibt, in hohem Bogen überschlägt. Die Energie des Sprungs würde nach oben geleitet, das Pferd in die Höhe katapultiert werden – mit der Gefahr, dass es sich bei der Landung selbst verletzt und/oder den Reiter unter sich begräbt.

Doch diesmal läuft es anders – der Tisch ist mit dem MIM-System ausgestattet, das auf einen bestimmten Druck hin nachgibt und den gesamten Tisch in einem Sekundenbruchteil nach vorne kippen lässt: Die Energie des Sprungs bleibt dadurch nach vorne gerichtet – Pferd und Reiter straucheln zwar, doch sie kommen nicht zu Sturz und können sogar ihren Ritt fortsetzen. Es war eine Schrecksekunde – das MIM-System hat verhindert, dass sich daraus eine Tragödie entwickelt. Das eindrucksvolle Video ist hier unter diesem Link zu sehen – und spricht in der Tat für sich (unbedingt ansehen, weil es wirklich beeindruckend ist und die Augen öffnet) ...

Das revolutionäre MIM-System

Das MIM-System wurde bereits in den 1990er Jahre vom schwedischen Erfinder Mats Bjornetun entwickelt, ist seit 2012 auch von der FEI anerkannt und seither bei zahlreichen Vielseitigkeitsturnieren im Einsatz. Der MIM-Clip sorgt dafür, dass Hinderniselemente bei einem bestimmten Vorwärts- oder Aufwärtsdruck nachgeben – das System wurde eigens dafür entwickelt, Rotationsstürze zu verhindern. Das nachgebende Element kann nach einer Kollission binnen einer Minute wieder in seine alte Lage zurückgesetzt werden. Der MIM-Clip hat auch einen Indikator, der anzeigt, wann er ersetzt werden muss, um korrekt zu funktionieren.

Das MIM-System kann zweifellos nicht alle Stürze in der Vielseitigkeit verhindern – aber es könnte wohl gerade die besonders gefährlichen Rotationsstürze in vielen Fällen unterbinden. Und es ist nach langjähriger Entwicklung und Erprobung mittlerweile soweit ausgereift, dass es flächendeckend im internationalen Vielseitigkeitssport eingesetzt werden könnte. Trotz vieler Appelle und Aufrufe hat sich die FEI bislang nicht dazu durchringen können, diese abwerfbaren Technologien (ebenso das in Großbritannien entwickelte PINS-System, das eine ebenfalls erprobte Alternative darstellt) verpflichtend bei Geländehindernissen vorzuschreiben – obwohl dies seit Jahren diskutiert wird.

Auch in diversen nationalen Föderationen zögert man vor diesem Schritt zurück. Dass man nun von der Basis – sprich: von Reitern und Veranstaltern – überholt wird, ist in gewisser Weise auch für diese Verbände ein Armutszeugnis und beschämend, denn es zeigt, dass die eigenen Mitglieder offenbar weiter sind als die Spitzengremien der Verbände. Klar ist aber auch: Letztlich wird es nur gemeinsam gehen – nur dann, wenn alle an einem Strang ziehen, wird es gelingen, die Todesspirale in der Vielseitigkeit anzuhalten und den Sport nicht nur sicherer zu machen, sondern auch in seinem weiteren Bestehen abzusichern. Die Verbände sind durch die Initiative der US-Eventer und Veranstalter, die allergrößten Respekt verdient und hoffentlich auch international Unterstützer und Nachahmer findet, unter Zugzwang geraten – und verstehen dies hoffentlich als positiven Impuls, selbst tätig zu werden. Die Zeit des Diskutierens ist nun endgültig vorbei – es muss gehandelt werden. Keine Geländestrecke mehr ohne abwerfbare Hindernisse – dies muss das Motto und das mittelfristige Ziel in der Vielseitigkeit sein,
meint Ihr

Leopold Pingitzer

PS: Sagen Sie mir ruhig Ihre Meinung: redaktion@propferd.at

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