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Gastkommentar: Die Gefahr der Verharmlosung – über die typische und atypische Tiergefahr beim Pferd
06.09.2016 / News

Univ.Lektor VR Mag. Dr. Reinhard Kaun ist Fachtierarzt für Pferdeheilkunde, Fachtierarzt für physikalische Therapie & Rehabilitationsmedizin sowie Allgemein beeideter & gerichtlich zertifizierter Sachverständiger.
Univ.Lektor VR Mag. Dr. Reinhard Kaun ist Fachtierarzt für Pferdeheilkunde, Fachtierarzt für physikalische Therapie & Rehabilitationsmedizin sowie Allgemein beeideter & gerichtlich zertifizierter Sachverständiger. / Foto: privat

In verschiedenen einschlägigen Medien ergehen sich Rechtskundige und andere Personen zur Zeit über das Urteil des OGH zur RS  2 Ob 70/16 g und zur Gefährlichkeit des Reitsports, die angeblich bei Weitem überschätzt wird.

Ein Rechtsanwalt, der auch als Sachverständiger für die Nomenklatur „Reiten und Pferdesport im Allgemeinen“ eingetragen ist, gipfelt seine Ansicht in dem Satz: „Pferde sind jedenfalls keine gefährlichen Haustiere!“ (Dr. Peter Lechner, Pferderevue September 2016) Dieser verharmlosenden Tendenz von Pferden an sich und dem Pferdesport mit all seinen Facetten ist aus sachverständiger und hippologischer Sicht auf das Entschiedenste entgegenzuwirken.

Zwar ist es richtig, dass „Reiten an sich“ nicht die gefährlichste Variante des Pferdesports darstellt, denn der Großteil der schweren und tödlichen Unfälle ereignet sich im Umgang mit Pferden. Auf ProPferd wird jüngst vom Unfalltod einer Frau beim Führen von Pferden  berichtet.

Es sei aus diesen Anlässen deshalb auf die (auch) bei  Pferden stets vorhandene Möglichkeit der typischen und atypischen Verwirklichung der Tiergefahr als Verhaltens- und Vorsichtsmaßstab hingewiesen.   

JEDEM Tier ist also eine besondere Gefahr eigen, es gibt keine ungefährlichen Tiere – dazu gehören auch die zitierten „…Ziegen, Rinder und anderen Tiere.“ (Dr. Nina Ollinger Pferderevue September 2016)

Die typische Tiergefahr verwirklicht sich atypisch auf der Basis des Umstandes, dass jedes Tier in seiner Art gefährlich sein kann, das atypische liegt darin begründet, dass die Gefahr im Augenblick des Eintritts kaum oder nicht vorhersehbar und deshalb auch kaum oder nicht abwendbar ist. Die Änderung in der bisherigen gerichtlichen Spruchpraxis liegt  darin, dass der Verlauf der atypischen Realisierung einer typischen Tiergefahr nicht mehr generell als schicksalhaft, sondern im vorliegenden Einzelfall  als haftungsbegründend beurteilt wird. Dies scheint so manchem – nicht nur Rechtsfremden – unverständlich zu sein, obwohl es einer tiefen Logik entspringt.

Wie in den Publikationen korrekterweise angeführt ist, muss die Besonderheit jedes Einzelfalles von einem Sachverständigen fachlich eingeschätzt werden.   Der Sachverständigenbeweis wird also bei Pferdesachen  weiter an Bedeutung zunehmen und es sei an dieser Stelle auch mit Nachdruck an den Beitrag über die Wichtigkeit der Beweissicherung nach einem Schadensereignis mit Pferden erinnert (abzurufen hier auf ProPferd).

Im Gegensatz zur atypischen Verwirklichung ist der Verlauf bei Eintritt der typischen Tiergefahr – meist – vorhersehbar und deshalb – meist – vermeidbar, weil das Verhaltensrepertoire z.B. eines Pferdes einer Person der einschlägigen Verkehrskreise vertraut sein muss. Und hier ist ein wunder Punkt, den die „Pferdeszene“ nur zu gerne todschweigt oder ignoriert: ein großer Teil der schweren und tödlichen Unfälle ereignet sich mit pferdeerfahrenen Personen!

Bestellte Sachverständige sehen sich immer wieder mit denselben Verantwortungsmustern konfrontiert:
– Das haben wir immer schon so gemacht!
– Das haben wir noch nie so gemacht!
– Da habe ich mir nichts dabei gedacht!

Das vorhersehbare Verhaltensmuster der typischen Tiergefahr ist beim Pferd in hierarchischer Reihenfolge:
– Durchgehen (Flucht)
– Ausschlagen
– Beißen
– Steigen
– An die Wand drücken
– Herdentrieb mit Massenpanik.

Dem Menschen als vernunftbegabtes Wesen ist es gegeben, das Pferd als „ein unberechenbares, von seinen Trieben und Instinkten gesteuertes Wesen“ dann zu kontrollieren, wenn sein Verhalten, Handeln und seine Sorgfalt  „pferdegerecht“ ist.
Pferdegerecht heißt zum Bespiel:

– Bei Routineverrichtungen die Möglichkeit einer Gefahr einkalkulieren
– Keinem  Pferd je blind zu vertrauen
– Stets pferdegerechte Kleidung (Handschuhe, Schuhe, Kopfbedeckung) zu tragen
– Nie mehr als nur ein Pferd zu führen
– Bahn-, Hallen – und Ausreitregeln zu beachten
– Ein Pferd nie am verhängten Zügel zu führen
– In kritischen Situationen im Zweifel absitzen
– Pferde nie unbeaufsichtigt zu lassen
– und zu lernen, wie ein Pferd zu denken und wahrzunehmen!

Nicht jeder Unfall wird sich deshalb vermeiden lassen, jedoch  werden sich unter sorgfältiger Bedachtnahme auf „Vorhersehbarkeit“ und „Vermeidbarkeit“  Haftungsansprüche reduzieren lassen.

NACHTRAG: Tadelloses und gepflegtes Ausrüstungsmaterial ist für den sicheren Umgang mit Pferden eine Grundvoraussetzung, denn was in den Kommentaren verschwiegen wird, steht auf Seite 5 der Urteilsbegründung:"… Dass der Haltestrick gerissen sei und das Pferd dadurch auf den Feldweg habe laufen können, stelle einen nicht erwartbaren und nicht beherrschbaren Zufall dar……"

Diese Ansicht könnte  nur durch ein grundlegendes Sachverständigengutachten begründet sein, wenn das Haltematerial neuwertig, aber  fehlerhaft war – dann jedoch wird es ein Fall für die Produkthaftung. Gutachten als Entscheidungsgrundlage sind aber zum Urteil 2 Ob 70/16 g von den Kommentatoren weder zitiert noch im OGH-Urteil nachvollziehbar.

Univ.Lektor VR Mag. Dr. Reinhard Kaun ist Fachtierarzt für Pferdeheilkunde, Fachtierarzt für physikalische Therapie & Rehabilitationsmedizin sowie Allgemein beeideter & gerichtlich zertifizierter Sachverständiger (Sachverständigenbüro für klinische und forensische Veterinärmedizin, Tierhaltung & Pferdewissenschaften) Kontakt: 2070 Retz, Herrengasse 7, Web: www.pferd.co.at | www.pferdesicherheit.at

Kommentare

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1) conversanotimbro: punktgenauer Kommentar - ewig Schade dass Dr. Kaun nicht ständig in den Fortbildungen der österreichischen Offiziellen und Funktionären eingebunden wird. Auch wären seine Referate an den vielen LW Schulen extrem notwendig
Mittwoch, 7. September 2016
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