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GASTKOMMENTAR: Warum der Dressursport eine Zeitenwende braucht
01.09.2015 / News

Martin Haller ist Journalist und Buchautor und betreibt einen Pferdehof in der Steiermark.
Martin Haller ist Journalist und Buchautor und betreibt einen Pferdehof in der Steiermark. /

Der heutige Dressursport hat nur mehr marginal und in vereinzelten Glücksmomenten mit jenem Sport etwas zu tun, der die Pferde schöner und stolzer macht und der einst an der klassischen Reitkunst Maß genommen hat. Ein Gastkommentar von Martin Haller.

 

Es gab eine Zeit, als wir alle vor dem Fernseher saßen, wenn Dressurbewerbe übertragen wurde, weil wir eine pferdebegeisterte Familie waren und der Sport einfach dazu gehörte. Auch damals, in den 80er Jahren, war man kritisch; wir Pferdeleute sind schließlich die fairsten Menschen der Welt: Keiner spricht vom anderen gut. Aber man war doch begeistert von den Leistungen, interessiert an den Veranstaltungen und fasziniert von den zwei- und vierbeinigen Stars, z. B. von Dr. Reiner Klimke und Ahlerich etwa, oder von Christine Stückelberger und Granat. Inzwischen hat sich das gründlich geändert; keine sprichwörtlichen „zehn Pferde“ bringen mich heute vor den Schirm, wenn die Leistungsträger (was für ein Wort) des Pferdesports um Ruhm und Ehre kämpfen.

Eine Ausnahme habe ich – auf Drängen einiger Freunde – für die Europameisterschaft in Aachen gemacht, aber nach dem Konsum (von Genuss kann nicht gesprochen werden) einiger Grand Prix-Ritte wurde ich immer „unrunder“ – und nach der Darbietung von Matthias Rath auf Totilas musste ich an die frische Luft. Wieder wurde mir klar, was ich schon die letzten 20 Jahre nicht mehr aushalte: Daß der heutige Dressursport nur mehr marginal und in vereinzelten Glücksmomenten mit jenem Sport etwas zu tun hat, der die Pferde schöner und stolzer macht und der einst an der klassischen Reitkunst Maß genommen hat. Wer heute ein nationales oder internationales Dressurturnier besucht, sieht in der Mehrzahl Pferde in falscher, erzwungener Anlehnung und mit falschem Knick bzw. mit Maulfehlern. Wenige Pferde treten vertrauensvoll an die Gebisse heran, stattdessen werden diese mehr oder weniger gewaltsam in die Mäuler gezogen. Wenige Pferde sind wirklich losgelassen, fast alle Pferde verspannt bei festem Rücken, in taktunsicherer, gelaufener Gangart, ohne schöne Kadenz und Schwung im lockeren Vorwärts – oder zeigen diese schwer definierbaren Merkmale derart, dass man künstliche „Nachhilfe“ vermuten muss. Ein Teil der Pferde hat grobe Schweiffehler, schlägt, dreht oder kurbelt mit dem Schweif und/oder trägt diesen schief. Rahmenerweiterungen bei den Verstärkungen sind kaum zu erkennen, stattdessen wird mit mehr Tempo und Schub das Festhalten am Kopf stärker. Die Piaffen gehören überwiegend in die Kategorie „Angst auf der Stelle“ und sind mehrheitlich hinten hoch und steif oder breit, dafür vorne lustlos am Boden klebend oder aktionistisch nach oben gerissen. Der Grundsatz, dass der gehobene Vorderhuf etwa die Mitte des fußenden Röhrbeines erreichen sollen und der Hinterhuf wenigstens den Fesselkopf gegenüber, wird selten erfüllt. Die Pferde wirken abgerichtet, verspannt, taktunsicher und weder elegant noch erhaben. Galoppwechsel auch von durchaus bekannten Paaren entsprechen kaum, sind nicht schön durchgesprungen, wenig gesetzt oder schwunglos, oft schief und schwankend. Ich lehne die Einserwechsel/Serienwechsel ohnedies als zirzensischen Klamauk ab, aber wenn sie schon geritten werden müssen, dann wenigstens ordentlich. Die Pirouetten sind meist nicht besser, häufig mit groben (Ausbildungs-?)Mängeln behaftet, aber erstaunlich hoch bewertet.

Doch nicht nur die schweren Lektionen sind oft enttäuschend und absurd fehlbewertet, sondern auch die einfachen Touren und Gänge. Ich kann kaum einen taktklaren Schritt und schon gar keinen Mittelschritt am langen Zügel erkennen; hier wird „reiterlich gelogen“ – die Pferde werden vielfach mit lächerlichen Alibihandlungen (übertriebenes „Treiben“ mit dem Sitz; demonstratives Zupfen mit den Zügelfäusten, also „Treiben mit der Hand“ usw.) durch schleppende oder passartigen Schritte bugsiert, die nichts oder zu wenig von Takt, Fleiß, Raumgriff und großem Rahmen erahnen lassen. Kaum eine Ecke wird korrekt durchritten, die Pferde driften ohne Stellung und Biegung durch die Wendungen, als ob diese notwendige Übel wären. Dass korrekt gerittene Ecken und Wendungen, ein sorgfältig gestelltes und gebogenes und sich allzeit selbst tragendes Pferd die Voraussetzung für höhere Weihen sind, dürfte inzwischen in Vergessenheit geraten sein. Und weiß niemand mehr, welche Kriterien an reine Gänge und damit an das Gerüst der Ausbildung (Skala mag ich nicht so gerne; aber es geht immer um Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Rahmen und mehr…), überhaupt an die klassische Reiterei anzuwenden sind? Dass die Winkelung der diagonalen Röhrbeine vorne und hinten im Trab stets gleich zu sein hätte…?

Die Noten und die Platzierungen vieler in Aachen gesehener Ritte konnte ich nicht nachvollziehen, die Bewertungen waren vielfach zu hoch, die Prozente in luftigen Gefilden, die früher kaum denkbar gewesen wären – geradezu inflationär; und wie man weiß, ist Inflationsgeld wertlos. Wenn die Richter eines wahrlich großen Turniers derart daneben richten – für die ganze Welt sichtbar an der erratischen, krass divergierenden Benotung von Matthias Rath und Totilas – muss man sich doch fragen, ob sich nicht der gesamte Dressursport längst selbst ad absurdum geführt hat. Wenn man die eigenen Regeln (wie festgehalten in sämtlichen Werken der klassischen Reitkunst; in der HDV 12; in den hervorragenden Büchern des Oberst Alois Podhajsky; in den Richtlinien für Reiten und Fahren etc.) in der praktischen Anwendung öffentlich und völlig missachtet, so ist dies ein deutliches Zeichen, dass sie wertlos sind und ignoriert werden dürfen/sollen.

Wie es soweit kommen konnte? Die Antwort muss vermutlich lauten: Der Dressursport wurde wie jeder andere auch kommerzialisiert und professionalisiert – und dadurch den marktwirtschaftlichen Kräften preisgegeben. Der Logik des „Marktes“ folgend, ist der Dressursport spektakulärer geworden – und dadurch auch publikumstauglicher und quotenträchtiger. Mehr Zuschauer, mehr Werbung, mehr Geld – so dürfte die Gleichung vereinfacht lauten. Dass dies auf Kosten der Pferde geschieht, war anfangs nur wenigen klar, wird aber nun immer deutlicher. Der Dressursport stößt an seine Grenzen, weil auch die Pferde diese aktionistische und ausbeuterische Art der Reiterei weder körperlich noch geistig aushalten, von den seelischen Verwundungen gar nicht zu reden. Es ist wohl eine Ironie des Schicksals, daß die Unhaltbarkeit dieses Systems nun ausgerechnet durch seinen berühmtesten Vertreter offenkundig wurde – durch Totilas, der – nach schier endloser Verletzungsserie und mehreren Comeback-Versuchen – seine Karriere in Aachen beenden musste (besser gesagt: durfte), weil es einfach nicht mehr ging. Es besteht die kleine Hoffnung, dass zumindest einigen pferdefreundlichen Funktionären die Zusammenhänge dieses Scheiterns klar werden und die Verabschiedung von Totilas vielleicht auch ein Wendepunkt für den Dressursport werden kann, der Abschied von einem pervertierten Ausbildungssystem, das auf die Natur des Pferdes keine Rücksicht nimmt. Es braucht ein radikales Umdenken im Dressursport.

Als Xenophon schrieb, dass das Pferd durch seine Ausbildung unter dem Reiter schöner und stolzer werden müsse (andernfalls man etwas falsch macht), legte er ein für alle Male den unverrückbaren Grundsatz, die endgültige Wahrheit und das Wesen der klassischen, guten Reiterei fest. Ihr Fundament können nichts anderes als die Natur des Pferdes und seine natürlichen Bewegungen sein, die durch ein behutsames, logisches Ausbildungssystem kultiviert und verfeinert werden sollen. Nichts Künstliches, Aufgesetztes hat in diesem System Platz – es würde die natürliche Schönheit des Pferdes beeinträchtigen, ja, zerstören. Als Humanist und Philosoph legte Xenophon dabei allen nachfolgenden Generationen von Reitern die Latte sehr hoch – und wie ich nach meinem televisionären Ausflug in die moderne Sportwelt wieder bestätigt finde, sind nur sehr wenige in der Lage, sie zu überspringen. Die meisten Pferde sind in der Hand ihrer Reiter/Trainer (das Wort Ausbilder verwende ich bewusst nicht) nicht schöner und stolzer geworden, sondern Zerrbilder einer bedauerlichen Entwicklung, deren schlimmster Ausdruck die unheilvolle Rollkur ist. Will und wird irgendjemand Einhalt gebieten? Ich bin gespannt – und werde in zehn Jahren wieder mal in die Flimmerkiste schauen… Oder auch nicht.
Martin Haller

Martin Haller ist Fachjournalist & Buchautor und betreibt einen Pferdehof in der Steiermark.

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