Die öffentliche Debatte um sexuelle Übergriffe und Missbrauchsfälle im Sport hat die Reiterei bislang noch nicht erfasst – doch das ist kein Grund, sich dieser Diskussion zu verweigern. Für den Schutz von PferdesportlerInnen müssen sich alle Verbände zuständig und verantwortlich fühlen. Ein Kommentar von Martin Haller.
Erst Schwimmen, dann Judo, schließlich Volleyball und nun auch noch der Skisport: Auch in Österreich wurden in den letzten Jahren Sportlerinnen und Sportler wiederholt Opfer sexueller Übergriffe – Aufsehen erregte vor allem das mutige öffentliche Bekenntnis von Nicola Werdenigg über ihre Missbrauchserfahrungen im heimischen Skisport. Bemerkenswert war nicht nur die schroffe Reaktion des ÖSV und seiner führenden Funktionäre auf diese Enthüllungen – sondern auch das auffallende Schweigen nahezu aller anderen heimischen Sportverbände, nach dem Motto: Uns geht das nichts an, bei uns gibt’s sowas nicht.
Das ist – gelinde gesagt – Realitätsverweigerung. Mittlerweile gibt es internationale Studien, die längst das Gegenteil beweisen: Missbrauchsfälle kommen in allen Sportarten vor – egal ob Einzel- oder Teamsport, egal ob Sommer- oder Wintersport. Eine vor kurzem in Deutschland veröffentlichte Untersuchung, in der insgesamt 1.800 KaderathletInnen aus 57 verschiedenen Sportverbänden befragt wurden, brachte ein geradezu niederschmetterndes Ergebnis: Etwa ein Drittel aller KadersportlerInnen hat schon einmal sexualisierte Gewalt im Sport erfahren, eine bzw. einer von neun AthletInnen schwere und/oder länger andauernde Gewalt. Die Mehrheit der Betroffenen ist unter 18 Jahre alt, wenn sie erstmals mit sexualisierter Gewalt konfrontiert werden.
Für Österreich fehlen vergleichbare Zahlen, man darf jedoch guten Gewissens davon ausgehen, dass es sich hierzulande nicht anders verhält. Sexuelle Grenzverletzungen – ob es sich nun um leichte oder schwere Fälle handelt – sind im Sport weit verbreitet und somit auch für die hier zuständigen Dachorganisationen und Verbände ein ernstzunehmendes Problem. Für die Sportsoziologin (und eine der MitautorInnen der genannten Studie) Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln ist die Schlussfolgerung eindeutig: „Daraus folgt für die Sportverbände und -vereine genauso wie für andere Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit, dass sie in der Verantwortung stehen, einen besseren Schutz vor sexualisierter Gewalt zu gewährleisten und umfassende Maßnahmen zur Prävention und Intervention einzuführen.“
Es geht also um Aufklärung, Information und Prävention – und darum, Strukturen zu etablieren, die Opfern helfen und Täter im Idealfall abschrecken. Das beginnt bei der Auswahl und Ausbildung von Trainern und Betreuern, bei der Schaffung von Ansprechstationen für die Thematik und der Etablierung fixer Protokolle, wie mit Missbrauchsvorwürfen umzugehen ist. Entscheidend sei es vor allem, so Bettina Rulofs, im Verband und im Verein Sensibilität für das Thema zu entwickeln – damit sei schon viel gewonnen.
Ein Vorbild ist in dieser Hinsicht zweifellos das Norwegische Olympische Komitee, das vor einigen Jahren strenge Richtlinien festgelegt hat, die für alle Sportverbände gelten und mit deren Hilfe sexuelle Belästigungen und Missbrauch verhindert werden sollen. Trainer und Betreuerinnen müssen ein polizeiliches Führungszeugnis vorweisen, das sexuellen Missbrauch ausschließt – auch eine Telefon-Hotline wurde geschaffen, um Betroffenen jederzeit Rat und Hilfe anbieten zu können.
Im Reitsport gilt insbesondere Großbritannien als positives Beispiel: Hier wurde schon vor einigen Jahren ein umfangreicher Verhaltenskodex „Child Protection Policy" (Auszüge siehe unten) veröffentlicht, der sehr klar umreißt, was sich zwischen Reitlehrer und Reitschüler schickt – und was nicht, wie die Auswahl und Ausbildung von Trainern zu erfolgen hat, wie mit Vorwürfen und Verdächtigungen umzugehen ist usw.
Dieser Kodex – und die Nachhaltigkeit, mit der er in der britischen Reitsportszene propagiert wird – hat seine Wirkung nicht verfehlt. Wie überaus scharf und sensibel das Bewusstsein der Briten für die Problematik der sexuellen Belästigung im Sport mittlerweile ist, beweist ein Erlebnis, das ich vor ca. fünf Jahren auf der bekannten Royal Windsor Horse Show hatte. Ich war wie stets als Journalist akkreditiert und ausgewiesen, trug aber mein buntes Presse-Bändchen unsichtbar unter dem Ärmel. Ich stand am Abreiteplatz eines der Schauringe und fotografierte diverse junge Reiterinnen und Reiter auf Ponys, als mir ein besonders schönes Paar Stiefeletten an den Füßen eines Mädchens auffiel. Ich brauchte genau solche zur Bebilderung eines Textes über Ausrüstung, richtete daher meine Kamera arglos auf einen Fuß im Steigbügel und knipste los. Nach wenigen Sekunden nahm ich eine Gestalt neben mir wahr – und eine Stimme fragte höflich, aber sehr knapp: „Was tun Sie da?“ Ich sah die Person an, eine Dame, die mich sehr kritisch musterte, und fragte nun meinerseits, ob sie mein Fotografieren störe. Sie erwiderte: „Das ist meine Tochter. Sind Sie von der Presse? Wenn nicht, dann will sie nicht fotografiert werden. Wenn ja, für welches Magazin arbeiten Sie?“ Alles sehr höflich, aber sehr bestimmt. Ich wies mich aus, erklärte den Grund der Aufnahmen und konnte mir die Frage nicht verkneifen, warum sie denn so betroffen seien, worauf sie mir – nun schon deutlich entspannter – erklärte, dass es zahlreiche Internetseiten gebe, auf denen Fotos von Reiterinnen missbräuchlich verwendet und mit anzüglichen Kommentaren gleichsam ,bewertet‘ werden. Man sei unter den Eltern daher keineswegs paranoid, aber extrem sensibilisiert, wenn jemand private Aufnahmen von ihren reitenden Töchtern macht.
Jedem Pferdefreund in Großbritannien ist somit völlig klar: Wo Kinder, Jugendliche und Damen jeglichen Jahrgangs freudvoll ihren Sport ausüben wollen, da haben Anzüglichkeiten, plumpe Anmache oder gar körperliche Übergriffe absolut nichts verloren und werden rigoros geahndet. Diese Praxis sollte auch für andere Pferdesportverbände und selbstverständlich auch für den OEPS Vorbild-Charakter haben. Es ist allerhöchste Zeit, schnell und effektiv zu handeln und für sämtliche TeilnehmerInnen aller Ausbildungsschienen und -levels einen zwingenden und strengen ethischen Kodex zu erlassen. Wie schon gesagt: Es geht um Aufklärung und um Prävention – und um mehr Sensibilität und Problembewusstsein. Der Schutz unserer Kinder vor Missbrauch und sexualisierter Gewalt sollte – ebenso wie der Schutz vor Unfällen und Verletzungen – höchste Priorität im Reitsport genießen.
Martin Haller
Leitfaden für gutes Benehmen
aus der ,Child Protection Policy' (,Richtlinien zum Schutz von Kindern’ ) der „British Equestrian Federation“ BEF
Jedes Personal im Pferdesport sollte die folgenden Regeln befolgen:
• Stelle sicher, dass jede Art reiterlicher Betätigung vergnüglich und lustig ist; fördere Fairness, verhindere Missbrauch und sei niemals nachgiebig gegen Regelverstößen oder Drogenmissbrauch.
• Sei immer ein ausgezeichnetes Vorbild, trinke keinen Alkohol und rauche nicht in Gegenwart junger Menschen.
• Behandle alle Jugendlichen und behinderten Erwachsenen gleich; das heißt, dass alle in einer Gruppe gleiche Aufmerksamkeit, Zeit und Respekt erhalten, gleich wie viel Talent sie haben.
• Respektiere die Entwicklungsstadien jeder einzelnen Person und stelle deren Sicherheit über Sieg oder Erfolg. Das bedeutet auch, das Training auf die körperlichen, mentalen und sozialen Umstände abzustimmen.
• Stelle sicher, dass Training und Wettkampf sich an den Bedürfnissen und Interessen des Kindes ausrichten, nicht jenen der Eltern, des Vereins oder Lehrers.
• Wenn möglich, halte allen Unterricht in einsehbarer Umgebung ab und vermeide Einzelunterricht in schlecht einsehbaren Situationen.
• Bewahre immer ein sicheres und tadelloses Verhältnis zu Schülern; es ist unsittliche und strafbar, ein intimes Verhältnis zu Jugendlichen zu haben. Erwachsene sollten NIE ein Schlafzimmer mit Jugendlichen teilen. Wenn unvermeidlich (Heulager, Zelt etc.) muss die schriftliche Zustimmung der Eltern eingeholt werden und Situationen sind zu vermeiden, wo man allein mit einem Jugendlichen ist.
• Baue alle Verbindungen auf der Basis des gegenseitigen Vertrauens und Respekts auf, wodurch die Jugendlichen ermutigt werden, Verantwortung für ihre eigene Entwicklung und Entscheidungen zu übernehmen. Vermeide es als Lehrer, deine Position und Macht dazu zu verwenden, über andere zu bestimmen.
• Vermeide unnötigen Körperkontakt mit Jugendlichen; wenn zum Unterricht nötig, frage nach Erlaubnis des Reiters oder der Eltern, ihn zu berühren.
• Schaffe in deinem Stall (deiner Reitanlage) getrennte Umkleideräume und Toiletten und stelle sicher, dass sich Erwachsene möglichst nur zu zweit in Räumen mit Jugendlichen aufhalten.
• Sprich öfter mit den Eltern und erkundige dich bezüglich nötiger Entscheidungen nach ihrer Meinung. Hole die schriftliche Erlaubnis der Eltern ein, im Notfall als ihr Stellvertreter zu agieren.
• Erfrage alle wichtigen Besonderheiten eines jeden Reitschülers (Allergien, Medikamente, Krankheiten etc.). Führe ein Tagebuch über alle Unfälle, Schäden und Behandlungen. Mache die nötigen Erste Hilfe-Kurse.
• Bleibe up to date mit allen Ausbildungen, Qualifikationen und Versicherungs-polizzen, die mit den Pferden zu tun haben.
• Wenn gemischte Gruppen unterrichtet werden oder auf Reisen gehen, ist es ratsam, auch weibliche und männliche Begleiter zu haben. Kein Erwachsener sollte ein Zimmer von Jugendlichen allein betreten oder einen Jugendlichen allein in seinem Zimmer empfangen.
Anzeichen für möglichen Missbrauch oder Mobbing:
Unerklärliche oder verdächtige Verletzungen, vor allem an Körperteilen, die sonst nicht anfällig sind (das berühmte blaue Auge; Brandspuren an Armen oder Rücken); Äußerungen, Sorgen oder Verdächtigungen seitens anderer Personen; unerklärliche Verhaltensänderungen – z. B. plötzliches Zurückziehen; sexuelle Auffälligkeiten, sexuell überzogenes Benehmen; Misstrauen gegenüber Erwachsenen; Probleme im Kontakt mit anderen Kindern, auch seitens der Eltern (verbieten Kontakt); Essstörungen – Abmagern, Heißhunger, Appetitlosigkeit; Anzeichen von Verwahrlosung oder Selbstbestrafung.
(Anmerkung: Diese Aufzählung ist nicht vollständig und erhebt keinen Anspruch darauf, immer und unfehlbar auf sexuellen Missbrauch zu deuten. Sie soll lediglich aufzeigen, welche Hinweise oder Anzeichen die Aufmerksamkeit des Reitlehrers erregen sollten und ihn dazu bringen sollten, ihnen nachzugehen. Oft irrt man sich und es gibt eine ganz harmlose Erklärung; aber schon EIN versäumter Fall ist einer zu viel!
In Österreich wurde dieser Kodex in die Ausbildung der „Ponymaster“ von Anfang an integriert.)