Gesichtsausdruck von Pferden verrät, wann eine Sedierung wirkt 02.06.2021 / News
So funktioniert die Gesichtsskala ,FaceSed': Je nach Stellung der Ohren, dem Öffnungsgrad der Augen sowie dem Entspannungsgrad von Ober- und Unterlippe wird ein Score von 0 bis 2 vergeben. / Foto: Alice Rodrigues de Oliveira et.al.
Pferde müssen aus den unterschiedlichsten Gründen sediert werden – allen voran bei medizinischen Behandlungen bzw. Eingriffen, aber auch in Notsituationen, um etwa eine gefahrlose Rettung durchführen zu können. Doch wann genau kann man davon ausgehen, dass die Sedierung beim Pferd tatsächlich ,anschlägt’ und ihre volle Wirksamkeit entfaltet hat? Brasilianische Wissenschaftler haben sich dazu etwas überlegt.
Für die durchaus knifflige Frage, ob eine notwendige Sedierung bereits die gewünschte Wirkung entfaltet hat und daher eine schmerz- und gefahrlose Behandlung möglich ist, haben Forscher der São Paulo State University in Brasilien eine einfache und praktische Gesichtsskala für Pferde entwickelt. Sie soll eine Entscheidungshilfe dafür sein, den Grad der Sedierung möglichst objektiv und sicher beurteilen zu können.
Die Wissenschaftlerin Alice Rodrigues de Oliveira und ihre Kollegen nannten diese Skala ,FaceSed’. Sie basiert auf Elementen der ,Skala des Schmerzausdrucks bei Pferden’ (Horse Grimace Scale), die 2015 von einer internationalen Forschergruppe aus Deutschland, Italien und Großbritannien entwickelt worden war (siehe auch unseren Artikel dazu).
Sedierungs- und Beruhigungsverfahren bei stehenden Pferden sind Alternativen zur Vollnarkose, die bekanntermaßen bei Pferden mit einem ungewöhnlich hohen Sterblichkeitsrisiko verbunden ist – Experten gehen von einer anästhesiebedingten Sterblichkeitsrate von etwa 0,9 % bei Pferden aus (siehe auch diesen Artikel dazu).
Der Sedierung kommt daher in der Pferdemedizin eine besonders große Bedeutung zu – als deutlich verträglichere und weniger risikobehaftete Alternative zur Vollnarkose. In der Vergangenheit wurden daher verschiedene Skalen und Bewertungssysteme entwickelt, um die Sedierung bei Pferden unter der Wirkung von Sedativa und Beruhigungsmitteln zu qualifizieren und zu quantifizieren.
Die einzige objektive Messung, die keine Interpretation durch den Beobachter erfordert, ist bislang die Kopfhaltung, präziser gesagt: die Höhe des Pferdekopfes über dem Boden, die erstmals 1991 als Gradmesser für die Sedierungs-Wirkung verwendet wurde. Andere Methoden zur Beurteilung von Tiefe und Qualität der Sedierung sind subjektiv, da ihre Interpretation auf der – mehr oder weniger subjektiven – Erfahrung des Beobachters mit den Auswirkungen der Sedierung bei Pferden basiert.
Obwohl dabei auch Gesichtsmerkmale verwendet werden, um die Sedierung von Pferden abzuschätzen, gibt es bislang keine Studien, die ihre Zuverlässigkeit und Validität messen. Da die Beurteilung des Gesichtsausdrucks nur auf Beobachtung basiert, würde die Entwicklung einer objektiven Ausdrucks-Skala die Nachteile und Einschränkungen anderer Methoden vermeiden, so die brasilianischen Wissenschaftler. Dies führte zur Ausarbeitung der Gesichtsskala ,FaceSed’, die im Wesentlichen auf der Anpassung und Modifikation von drei der sechs Gesichts-Merkmals-Gruppen basiert, die auch bei der ,Horse Grimace Scale’, also der ,Skala des Schmerzausdrucks bei Pferden’, verwendet werden.
Um ,FaceSed’ zu testen, wurden sieben Pferde sowohl mit hoher als auch mit niedriger Dosis sediert, wobei ihre Gesichter zu Beginn, am Höhepunkt, im Zwischenstadium und am Ende der Sedierung fotografiert wurden. Die Fotos wurden nach dem Zufallsprinzip gemischt und an vier tierärztliche Bewerter gesendet, die zuvor darin geschult wurden, die drei zentralen ,FaceSed’-Merkmale zu beurteilen und anzuwenden. Dabei wurde ein Score von 0 (= keine erkennbare Entspannung) bis zu 2 (deutliche Entspannung) vergeben. Folgende Merkmale wurden dabei bewertet:
– die Stellung der Ohren
– der Öffnungsgrad der Augen und
– der Entspannungs-Grad der Unter- und Oberlippe.
Wie die Ergebnisse zeigen, konnte sich ,FaceSed’ gut bewähren: Es gab eine beachtliche Übereinstimmung und Konsistenz unter den Bewertern, die allesamt individuell konsistente Ergebnisse lieferten. ,FaceSed’, so die Wissenschaftler, habe sich als gültiges und zuverlässiges Instrument zur Beurteilung der Sedierungs-Wirkung bei Pferden erwiesen. Die Pferde zeigten sowohl in der Spitzen- als auch in der Zwischenphase ihrer Sedierung höhere Werte im Vergleich zu Beginn und Ende.
„Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass FaceSed eine einfache und praktische Skala ist, die Zuverlässigkeit und Validität bietet, um die kontinuierliche Sedierung bei Pferden zu bewerten, die einer Ruhigstellung mit Acepromazin und einer Sedierung mit dem Alpha-2-Agonisten Detomidin mit oder ohne das Opioid Methadon unterzogen wurden“, so das Resümee der Forscher.
Die Autoren betonten, dass ,FaceSed’ in der vorliegenden Studie von ausgebildeten Anästhesisten angewendet wurde. „Weitere Studien in klinischen und anderen experimentellen Szenarien und die Bewertung durch unerfahrene Beobachter können entweder bestätigen oder nicht, ob die vor Ort bewerteten Gesichtsmerkmale von sedierten Pferden ähnliche Ergebnisse liefern. Gegenwärtig ist FaceSed eine rasch und einfach anzuwendende Skala und kann in der klinischen Praxis und zu Forschungszwecken nützlich sein.“
Die Studie „Development and validation of the facial scale (FaceSed) to evaluate sedation in horses"
von Alice Rodrigues de Oliveira, Miguel Gozalo-Marcilla, Simone Katja Ringer, Stijn Schauvliege, Mariana Werneck Fonseca , Pedro Henrique Esteves Trindade, José Nicolau Prospero Puoli Filho und Stelio Pacca Loureiro Luna ist am 1. Juni 2021 in der Zeitschrift ,PLOS One' erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden.
KommentareBevor Sie selbst Beiträge posten können, müssen Sie sich anmelden...Weitere Artikel zu diesem Thema:07.08.2015 - Studie: Schmerzen sind ins Pferdegesicht geschrieben
Studie: Schmerzen sind ins Pferdegesicht geschrieben 07.08.2015 / Wissen
Hier Beispiele für die unterschiedlichen Ausprägungen des Merkmals ,steif rückwärtsgerichtete Ohren'. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier unterschiedliche Formen des Merkmals ,zusammengezogene Augen' – das Augenlid ist teilweise oder sogar vollständig geschlossen. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier die unterschiedlichen Formen des Merkmals ,angespannte obere Augen-Region' – je nach Anspannung der um die Augen liegenden Muskeln werden die darunterliegenden Knochen sichtbar. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier die Ausformungen des Merkmals ,angespannte Kaumuskulatur' – deutlich sichtbar ist auf dem rechten Foto die verkrampfte Maulpartie. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier das Merkmal ,angespanntes Maul und akzentuiertes Kinn' – besonders deutlich am Foto ganz rechts zu sehen, wo die Oberlippe stark zurückgezogen ist und die Unterlippe ein deutliches ,Kinn' formt. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier die unterschiedlichen Ausprägungen des Merkmals ,angespannte Nüstern und flaches Profil'. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Dieses Pferd wurde auf der ,Skala des Schmerzausdrucks' mit 1 bewertet – es ist also als weitgehend schmerzfrei zu beurteilen. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g003 Dieses Pferd wurde auf der Skala mit 8 bewertet – zeigt also deutliche Anzeichen von Schmerz. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g003
Eine Gruppe europäischer Wissenschaftler hat untersucht, ob und wie sich Schmerzen im Gesichtsausdruck von Pferden ablesen lassen – und dafür ein Bewertungssystem mit hoher Zuverlässigkeit entwickelt.
Jeder Pferdebesitzer wird der Behauptung zustimmen, daß sich auch am Gesichtsausdruck von Pferden ablesen läßt, ob diese Schmerzen haben oder nicht. Aber es wird den meisten schwerfallen, präzise und nachvollziehbar zu beschreiben, an welchen mimischen Details sie das nun genau erkannt haben.
Exakt dieser Aufgabe haben sich sechs Wissenschaftler aus Italien, Deutschland und Großbritannien gestellt: Sie wollten ein schlüssiges, leicht erlernbares Bewertungssystem entwickeln, das es Pferdebesitzern sowie Personen, die beruflich mit Pferden zu tun haben, ermöglicht, den ,Schmerzzustand' von Pferden möglichst genau zu bestimmen. Das Ergebnis bezeichneten sie als ,Horse Grimace Scale' – also die ,Skala des Schmerzausdrucks' bei Pferden.
„Obwohl in den letzten 20 Jahren beträchtliche Fortschritte im Verständnis der Physiologie und der Behandlung von Schmerzen bei Tieren gemacht wurden, ist das Abschätzen von Schmerzen bei vielen Standard-Prozeduren wie etwa dem Fohlenbrennen oder auch bei Kastrationen, noch immer schwierig und häufig unzureichend", so die Forscher. „Obwohl die Kastration bei Pferden längst veterinärmedizinischer Alltag ist, gibt es für die Schmerzbeurteilung nach wie vor keine etablierte, allgemein anerkannte Methode. Wie bei anderen Tierarten ist auch der Schmerz bei Pferden schwer abschätzbar, da sie mit uns Menschen nicht in einer klaren, bedeutungsvollen Sprache kommunizieren können." Wie groß und gravierend das Problem allein im Zusammenhang mit Kastrationen ist, belegen die Wissenschaftler mit bedrückenden Zahlen: „Jährlich werden in Europa schätzungsweise 240.000 Pferde kastriert – und die Kastration ist nachweislich mit einem gewissen Grad an Schmerz verbunden", so Dr. Michela Minero, eine er Studienautorinnen. „Dennoch erhalten nur 36,9 % der kastrierten Pferde Schmerzmittel nach der Operation. Eine mögliche Erklärung dafür ist eben, daß die Schmerzbeurteilung während einer Kastrations-OP noch immer unzureichend ist." Mit anderen Worten: Das Leid der Pferde bleibt unbemerkt – und deswegen auch unbehandelt.
Um diesem deprimierenden Zustand abzuhelfen, entwickelten die Wissenschaftler die erwähnte ,Skala des Schmerzausdrucks'. Im Rahmen einer Studie analysierten sie das Schmerzverhalten von insgesamt 46 Hengsten verschiedener Rassen im Alter zwischen 1 und 5 Jahren. Die Hengste wurden in zwei Behandlungsgruppen mit 19 Hengsten (Gruppe A) und 21 Hengsten (Gruppe B) sowie in eine Kontrollgruppe mit 6 Hengsten eingeteilt. Alle Hengste wurden routinemäßig kastriert.
Gruppe A erhielt unmittelbar vor der Anästhesie eine Injektion Flunixin-Meglumin, ein Entzündungshemmer mit deutlich schmerzstillender Wirkung; Gruppe B erhielt denselben Wirkstoff verabreicht – jedoch sowohl unmittelbar vor der Anästhesie als auch sechs Stunden nach der durchgeführten Operation. Die Kontrollgruppe wurde ebenfalls unter Vollnarkose operiert – erhielt jedoch kein schmerzstillendes Mittel.
Sämtliche Pferde wurden für fünf Tage in einer Pferdeklinik stationiert und sowohl am Tag vor der Kastrations-OP als auch acht Stunden nach der OP mittels HD-Videos beobachtet. Auch an allen Folgetagen wurden Videos angefertigt, aus denen schließlich hochauflösende Fotos der Pferdegesichter entnommen wurden. Anschließend wurden von jedem einzelnen Hengst die Bilder vor und acht Stunden nach der OP von einem fachkundigen Beobachter analysiert, der in der Beurteilung des Schmerzausdrucks bei anderen Tierarten speziell geschult war. Der Beobachter wußte dabei nicht, welcher Behandlungsgruppe das jeweilige Pferd angehörte.
Am Ende ergaben sich aus den umfangreichen Bewertungen insgesamt sechs ,facial actions units', also ,Gesichts-Merkmale', aus denen sich Rückschlüsse auf das Schmerzempfinden eines Pferdes ziehen lassen. Diese sind:
– steif rückwärtsgerichtete Ohren
– zusammengezogene Augen
– angespannte obere Augen-Region
– angespannte Kaumuskulatur
– angespanntes Maul und akzentuiertes Kinn
– angespannte Nüstern und flaches Profil
Jedes dieser Merkmale kann auf einer Skala von 0 bis 2 bewertet werden (0 = nicht vorhanden, 1 = leicht vorhanden, 2 = deutlich vorhanden). Insgesamt ergibt sich somit eine Maximalbewertung von 12 Punkten.
Schmerz-Verhalten war bei den beobachteten Pferden vorwiegend acht Stunden nach der Kastrations-OP festzustellen – dies scheint somit ein entscheidender Zeitpunkt für die Schmerzbeurteilung zu sein.
Auch ein Test mit fünf verschiedenen, unabhängigen Beobachtern ergab, daß die so erarbeitete Skala zuverlässige und schlüssige Resultate lieferte. Es zeigte sich auch, daß die mit Schmerz verbundenen Veränderungen im Gesichtsausdruck sehr ähnlich zu jenen waren, die bereits bei anderen Tierarten beobachtet wurden, freilich mit kleinen, subtilen Abweichungen: Wie schon in früheren Untersuchungen bewiesen werden konnte, kann sich Schmerz bei Pferden auch durch verschiedene unspezifische Indikatoren ausdrücken, etwa einer insgesamt geringeren Körperaktivität, einem gesenkten Kopf, starrem Blick, steifer Haltung und Bewegungs-Unwilligkeit. Auch in der aktuellen Studie hat sich gezeigt, daß die Pferde in den acht Stunden nach der OP zu einer deutlich tieferen Kopfhaltung neigten.
„Unsere Studienergebnisse zeigen, daß die ,Horse Grimace Scale' – also die ,Skala des Schmerzausdrucks' – eine potentiell effektive Methode ist, die Schmerzen bei einer Kastrations-OP zu beurteilen", so die Forscher abschließend. Die Genauigkeit der Skala wurde mit 73,3 % angegeben. Die Beurteilung post-operativer Schmerzen anhand der ,Skala des Schmerzausdrucks' habe gegenüber einer traditionellen Verhaltens-Analyse eine Reihe klarer Vorteile – so wäre letztere erheblich komplexer, weil man dabei eine viel größere Zahl von möglichen Verhaltensweisen berücksichtigen müsse, so die Wissenschaftler. Sie betonten aber auch, daß noch weitere Bestätigungen für die Effizienz der Skala erforderlich sind – aber die ersten Resultate stimmen zuversichtlich, daß damit ein zuverlässiges Tool verfügbar ist, um post-operative Schmerzen bei Pferden korrekt einschätzen zu können. Dr. Michael Minero: „Die standardisierte ,Skala des Schmerzausdrucks' ist auch für Laien leicht erlernbar und kann nützlich für alle jene Personen sein, die Pferde betreuen, welche in irgendeiner Weise schmerzhaften Behandlungen oder Prozeduren ausgesetzt waren."
Die Studie ,Development of the Horse Grimace Scale (HGS) as a Pain Assessment Tool in Horses Undergoing Routine Castration' von Dr. Michela Minero, Emanuela Dalla Costa, Dirk Lebelt, Diana Stucke, Elisabetta Canali und Matthew Leach ist im März 2014 im Journal PLOS ONE erschienen und kann in voller Länge hier nachgelesen werden.
29.03.2017 - Lahmheit ist auch im Pferdegesicht erkennbar
Lahmheit ist auch im Pferdegesicht erkennbar 29.03.2017 / News
Die Schmerzen einer Lahmheit sind gerittenen Pferden buchstäblich ins Gesicht geschrieben – das bestätigte die Studie britischer Forscher. / Symbolfoto: Fotolia/Kseniya-Abramova
Eine speziell geschulte Tierärztin konnte anhand von Kopffotos mit hoher Zuverlässigkeit bestimmen, ob das abgebildete Pferd an Lahmheit litt oder nicht.
Die Erforschung des Schmerzausdrucks bei Pferden ist in den letzten Jahren zusehends ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Bereits im Jahr 2014 ist es einem Forscher-Team aus Italien, Deutschland und Großbritannien gelungen, eine „Skala des Schmerzausdrucks" (,Horse Grimace Scale") bei Pferden zu entwerfen, mit deren Hilfe der Schmerzzustand bei Hengsten nach einer Kastrations-OP allein anhand ihres Gesichtsausdrucks bewertet werden konnte. Die Genauigkeit bzw. Trefferquote der Skala wurde damals mit 73,3 % angegeben (siehe unseren detaillierten Bericht dazu).
Britische Wissenschaftler um die renommierte Pferde-Orthopädin Dr. Sue Dyson entwickelten diese Skala weiter und konzipierten ein Ethogramm – also einen Katalog bzw. ein Verzeichnis von beobachteten Verhaltensmustern, bei dem die Gesichtsausdrücke von Pferden im Zentrum standen. In einem ersten Schritt überprüften sie die Zuverlässigkeit dieses Ethogramms, indem sie es 13 verschiedenen Testpersonen – vom Amateurreiter bis zum erfahrenen Pferdetierarzt – zur Beurteilung vorlegten. Die Zustimmung bzw. Übereinstimmung lag bei stolzen 87 % – das Ethogramm war also ein verlässliches Beurteilungsinstrument, um das Schmerzempfinden von Pferden anhand ihres Gesichtsausdrucks zu bestimmen.
In einer aktuellen Untersuchung gingen die Wissenschaftler nun einen Schritt weiter – und wollten herausfinden, ob das Ethogramm auch dazu geeignet war, den Schmerzausdruck von gerittenen Pferden anzuzeigen. Dafür wurde eine Tierärztin speziell in der Anwendung des Ethogramms, das die Forscher ,FEReq' nannten (FER = facial expression for ridden horses) geschult und mit einer speziellen Gebrauchsanleitung ausgestattet. Die Tierärztin sollte insgesamt 519 Fotos, welche den Kopf bzw. das Gesicht von 101 Pferden unter dem Reiter im Trab und im Galopp zeigten. 76 dieser Pferde waren zuvor als „lahm" eingeschätzt worden – die restlichen 25 zeigten völlig normale Gangarten. Unter den Fotos waren 30 Abbildungen von sieben lahmen Pferden sowie 22 Fotos derselben Pferde, jedoch nach einer lokalen Schmerzbehandlung, welche die Lahmheits-Symptome beseitigt hatte. Pro Pferd wurden zwischen 3 und 13 Fotos gezeigt.
Die Tierärztin musste die Fotos anhand des Ethogramms ohne jegliche Vorkenntnisse über Lahmheit oder Gesundheit der abgebildeten Pferde analysieren. Sie beurteilte den Schmerzausdruck auf einer vierstufigen Skala (0 = normal, 1-3 = abnormal) für jedes einzelne Kriterium des Ethogramms. Insgesamt wurden so 27.407 einzelne Gesichts-Marker durch die Tierärztin identifiziert.
Wie sich zeigte waren die Bewertungen des Schmerzausdrucks bei den lahmen Pferden signifikant höher als für die gesunden Pferde. Die lahmen Pferde erhielten geringere Bewertungen, nachdem sie eine lokale Schmerzbehandlung erhalten hatten – wie es das Studien-Team erwartet hatte.
Die deutlichsten Indikatoren für Schmerzen waren ein verdrehter Kopf, eine asymmetrische Position des Gebisses, die Stellung der Ohren (beide Ohren angelegt, ein Ohr zurück und ein Ohr zur Seite gedreht, ein Ohr zurück und ein Ohr nach vorn gedreht) und bestimmte Augenmerkmale (Augenweiß sichtbar, das Auge teilweise oder ganz geschlossen, Muskelspannung kaudal zum Auge und ein starrender Blick).
Für die Forscher steht fest, daß das von ihnen entworfene Ethogramm in Kombination mit einer Bewertung des Schmerzausdrucks sehr gut geeignet ist, zwischen gesunden und lahmen Pferden zu unterscheiden: „Das Ethogramm kann in vereinfachter Form Pferdebesitzern, Trainern, Reitern und Tierärzten dabei helfen, Schmerzen bei Pferden – auch in Zusammenhang mit Lahmheit – einzuschätzen. Das wäre ein bedeutender Schritt für eine bessere Beurteilung des Wohlbefindens von gerittenen Pferden", so die Wissenschaftler.
Das Studienteam bestand aus Dr. Sue Dyson, Jeannine Berger, Andrea Ellis und Jessica Mullard (sie war auch die Tierärztin, welche die Fotos beurteilte). Die Untersuchung wurde von der Tierschutzorganisation ,World Horse Welfare' und von ,Saddle Research Trust' unterstützt.
Die Studie ,Can the presence of musculoskeletal pain be determined from the facial expressions of ridden horses (FEReq)?" ist im März 2017 in der Zeitschrift ,Journal of Veterinary Behavior – Clinical Applications and Research' erschienen und kann in englischsprachiger Kurzfassung hier nachgelesen werden.
06.08.2015 - Was der Gesichtsausdruck eines Pferdes alles sagt
Was der Gesichtsausdruck eines Pferdes alles sagt 06.08.2015 / News
Hier die „Ausgangsposition" (A) der Pferdeohren – und nachdem die Muskeln zum Ohren-Drehen und Ohren-Anlegen betätigt wurden (B). / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g015 Bild A zeigt einen „neutralen" Gesichtsausdruck – Bild B den Ausdruck, nachdem die Nüstern leicht angezogen wurden (Pfeilrichtung beachen). / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g008 Hier wird die innere Augenbraue hochgezogen – eine Ausdrucks-Einheit, die bei Pferden oftmals zu beobachten ist. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g004 Hier eine „Landkarte" des Pferdegesichts mit den wichtigsten Ausdrucks-Regionen. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g002 Hier die Gesichtsmuskulatur des Pferdes – wie sich zeigt, sind vor allem die Muskeln rund um Ohren, Lippen und Nase außerordentlich groß und komplex. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g001 Hier die 17 eigenständigen „Ausdrucks-Einheiten" des Pferdegesichts im Überblick – viele davon haben Pferde mit dem Menschen gemein. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.t001
Pferde haben eine große Bandbreite an mimischen Ausdrucksmöglichkeiten, und viele davon gleichen jenen des Menschen – das konnten britische Forscher im Rahmen einer aktuellen Studie nachweisen.
„Was uns überrascht hat, war die große Zahl komplexer Gesichtsbewegungen bei Pferden – und daß viele davon jenen des Menschen sehr gleichen. Abgesehen von den Unterschieden in der Struktur und der Bemuskelung des Gesichts zwischen Menschen und Pferden konnten wir – vor allem hinsichtlich der Bewegungen von Lippen und Augen – einige sehr ähnliche Gesichtsausdrücke entdecken", so eine der Leiterinnen der Studie, Jennifer Wathan, von der Universität von Sussex. Einige Gesichtsausdrücke glichen auf frappierende Weise jenen von Menschen und Schimpansen, so die Forscher, die ihre Ergebnisse kürzlich im Journal PLOS ONE veröffentlichten.
Wie andere Säugetiere – und wie auch der Mensch – verwenden Pferde die unter dem Gesicht liegenden Muskelstrukturen, einschließlich Nüstern, Lippen und Augen, um durch ihre Mimik in unterschiedlichen sozialen Situationen zu kommunizieren und Gemütszustände auszudrücken. Wie bereits frühere Studien gezeigt haben, ist dies für Pferde ein wichtiger Mechanismus, um miteinander zu kommunizieren. „Pferde sind vor allem visuelle Tiere, ihr Sehvermögen ist sogar jenem vom Hauskatzen oder Hunden überlegen – dennoch hat man vielfach ihre mimischen Ausdrucksmöglichkeiten übersehen", so Jennifer Wathan.
Um diese Möglichkeiten in ihrer gesamten Bandbreite darstellen zu können, haben die Forscher ein spezielles Kodierungs-System entwickelt, um die einzelnen Gesichtsausdrücke auf der Basis der darunterliegenden muskulären Strukturen beschreiben zu können. Sie nannten es das ,Equine Facial Action Coding System' (EquiFACS) – frei übersetzt: equines Gesichts-Ausdrucks-System. Die Forscher analysierten umfangreiches Video-Material, das natürliches Pferde-Verhalten dokumentierte, um möglichst alle unterschiedlichen Ausdrucksweisen zu identifizieren, die Pferde mit ihrem Gesicht darstellen können. Insgesamt wurden 86 Pferde unterschiedlichen Alters und verschiedener Rassen in die Untersuchung einbezogen.
Das Gesichts-Ausdrucks-System (Facial Action Coding System = FACS) wurde ursprünglich für den Menschen entwickelt. Um es auch auf Tiere und im konkreten Fall auf Pferde anwenden zu können, mussten in einem ersten Schritt die Anatomie und die muskulären Strukturen des Pferdegesichts genau analysiert werden. Dabei zeigte sich, daß die Muskeln rund um Ohren, Lippen und Nase des Pferdes außerordentlich groß und komplex waren. Anschließend konnten sich die Forscher daran machen, die auf den Video-Aufzeichnungen dokumentierten eigenständigen Gesichtsbewegungen den zugrundeliegenden Gesichtsmuskeln zuzuordnen.
Auf diese Weise konnten sie insgesamt 17 eigenständige ,Action Units', also Ausdrucks-Einheiten bzw. Ausdrucks-Möglichkeiten, bei Pferden identifizieren. Beim Menschen sind es übrigens 27 – beim Schimpansen 13, bei Orang-Utans 16, bei kleinen Menschenaffen und bei Hunden 16 und bei Katzen – die in dieser Hinsicht dem Menschen am nächsten kommen – sind es 21. Für die Wissenschaftler war es eine interessante Entdeckung, daß Pferde mehr ,Ausdrucks-Einheiten' besitzen als die meisten anderen Tierarten, für die ein solches System bereits entwickelt wurde.
In einem letzten Schritt wurden schließlich die 17 eigenständigen Gesichtsbewegungen bzw. Ausdrucks-Einheiten detailliert beschrieben – darunter waren etwa das ,Anheben der inneren Augenbraue', das ,Schließen bzw. Blinzeln der Augen' und eine breite Palette von Lippen-, Ohren- und Nüstern-Bewegungen sowie Bewegungen des Mauls, des Kiefers und des Kinns.
Prof. Karen McComb von der Universität Essex: „Früher dachte man, daß – je weiter eine Spezies vom Menschen entfernt wäre – auch die Ausdrucksmöglichkeiten des Gesichts zusehends weniger ausgeprägt wären. Durch die Entwicklung von EquiFACS haben wir erkannt, daß Pferde mit ihrem komplexen, stets in Veränderung begriffenem Sozialsystem ebenfalls über eine enorme Bandbreite von mimischen Ausdrucksmöglichkeiten verfügen – und daß sie viele davon mit dem Menschen und anderen Tieren gemeinsam haben. Das bestärkt uns in der Annahme, daß nicht nur evolutionärer Druck, sondern auch soziale Faktoren einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung mimischer Ausdrucksmöglichkeiten haben."
Die Forscher weiter: „Durch jüngere Forschungsarbeiten ist deutlich geworden, daß Pferde durchaus komplexe mimische Ausdrucksweisen beherrschen – und daß bestimmte Ausdrucks-Merkmale mit Schmerz in Verbindung stehen (Anm.: siehe auch diesen Artikel dazu). Aber bis jetzt gibt es kaum Studien, die untersuchen, welche Bandbreite an Informationen Pferde durch ihre vielfältigen mimischen Ausdrucksmöglichkeiten vermitteln können. So wissen wir von keinen Forschungsarbeiten, in welchen etwa die Gesichts-Ausdrücke von Pferden im Zusammenhang mit positiven Erfahrungen oder Emotionen aufgezeigt werden – und das ist zweifellos ein wichtiger, bislang kaum verstandener Aspekt des Wohlbefindens von Pferden."
Die Forscher hoffen, mit dem von ihnen entwickelten Gesichts-Ausdrucks-System die Basis dafür gelegt zu haben, diese Forschungslücke zu schließen – denn eine systematische Aufzeichnung und Analyse von Gesichtsausdrücken kann in vielerlei Hinsicht nützlich sein, so Prof. McComb abschließend: „Mit EquiFACS können wir den Gesichtsausdruck in unterschiedlichen sozialen und emotionalen Situationen dokumentieren und so Einblick in die Art und Weise gewinnen, wie Pferde gerade ihre soziale Umgebung wahrnehmen. Das wird unser Verständnis ihres Verhaltens, ihrer Kommunikation und ihrer Psyche verbessern – und kann uns wertvolles Wissen liefern, um ihre medizinische Versorgung oder ihre Haltungsbedingungen zu optimieren."
Die Studie „EquiFACS: The Equine Facial Action Coding System" von Jen Wathan, Anne M. Burrows, Bridget M. Waller und Karen McComb ist in der August-Ausgabe des Journals PLOS ONE erschienen und kann in voller Länge hier nachgelesen werden.
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