Beim Fluchttier Pferd kann es in bestimmten Situationen zu Kontrollverlust – also zum Durchgehen – kommen. Wie aber soll man sich in einer solchen Extremsituation verhalten? Ist es mutig oder leichtsinnig, sich einem flüchtenden Pferd in den Weg zu stellen? Ein Sicherheitsexperte gibt Auskunft ...
Mit beunruhigender Regelmäßigkeit stolpert man in den Schlagzeilen der Tagesmedien über derartige Meldungen: Pferde sind in Panik geflüchtet, haben ihre Reiterin oder ihren Reiter abgeworfen, sind mit einer Kutsche durchgegangen oder von ihrer Koppel ausgebrochen und auf eine Straße oder gar eine Autobahn gelaufen.
So berichtete jüngst die ,Kleine Zeitung' von einem entlaufenen Pferd, das seinen Reiter abgeworfen und als ,Geisterfahrer' die stark befahrene Kärntnerstraße in Leoben entlanggaloppierte. Der sechs Jahre alte Haflingerhengst ,Winnitou’ konnte erst durch das beherzte Eingreifen von zwei Autoinsassen – einem Mann und einer Frau – gestoppt werden. „Der Mann hat seine Arme in die Luft gehoben und ist in ruhigen, aber bestimmten Bewegungen auf das Pferd zugegangen, bis er das Zaumzeug greifen konnte. Für mich ein wahrer Pferdeflüsteter“, schilderte eine Passantin das Geschehen.
Auch wenn dieser spektakuläre Zwischenfall glimpflich und ohne größere Verletzungen endete, stellt sich doch die Frage: War es von den Autoinsassen mutig oder leichtsinnig, sich dem entlaufenen Pferd in den Weg zu stellen und zu versuchen, es zu beruhigen? Wie soll man reagieren, wenn man plötzlich – als Reiter, aber auch als Passant oder Beobachter – mit einem Pferd unter Kontrollverlust konfrontiert ist? Ist das geschilderte Verhalten beispielhaft – oder doch nur bedingt empfehlenswert?
Diese Fragen haben wir dem Sicherheitsexperten und gerichtlich beeideten Sachverständigen Dr. Reinhard Kaun gestellt, der im Laufe seiner Gutachter-Tätigkeit mit zahllosen Unfallanalysen befasst war und sich jahrzehntelang intensiv mit Unfall-Vermeidung und -Prävention beschäftigt hat.
ProPferd: Hr. Dr. Kaun, der Vorfall, von dem die ,Kleine Zeitung' berichtet, ist glimpflich und ohne größere Schäden für Mensch und Tier ausgegangen. War das Glück – oder wurde hier alles richtig gemacht? Soll man tatsächlich – wenn man selbst vor eine solche Situation gestellt ist – so reagieren und versuchen, das Pferd einzufangen?
Dr. Kaun: Die Reaktion des einzelnen Bürgers ist abhängig von seinem „Zugang“ zu Pferden – ein Unbedarfter soll ihnen aus dem Weg gehen oder im Auto bleiben, er soll aber die Polizei verständigen, mit genauem Standort und Laufrichtung der Pferde. Ein Pferdekenner wird abschätzen können, ob die Tiere in Panik sind (z.B. durch klappernde Steigbügel bei leerem Sattel oder durch gebrochene Ortscheite beim Wagen) – oder bereits im ,Auslaufen'.
Wenn ein Pferd schon im ,Auslaufen' ist, kann – so wie im Artikel beschrieben – ihm mit ruhiger Stimme begegnet werden und ihm mit Ruhe Sicherheit gegeben werden – ohne Geschrei und Gefuchtle. Hilfreich ist in diesem Falle, wenn das Pferd Manieren hat, also nach den Prämissen der klassischen Hippologie ausgebildet ist – dann gibt ihm die vertraute Herangehensweise eines Pferdemenschen Sicherheit. Unerzogene und ,Gesetzlose', wenn ich es so formulieren darf, sind – wie auch beim Menschen – als Opfer ebenso unberechenbar wie als Täter.
ProPferd: Ist es wirklich ratsam bzw. empfehlenswert, sich auf diese Weise einem Pferd in den Weg zu stellen? Es gilt doch abzuwägen: Geht meine eigene Sicherheit vor – oder soll ich Schlimmeres verhindern, indem ich versuche, das Pferd einzufangen und so möglicherweise andere Personen vor Schaden zu bewahren?
Dr. Kaun: Ein durchgehendes Pferd muss nicht zwingend einen Unfall verursachen, ein niedergetrampelter Mensch löst jedenfalls Großalarm aus. Es ist also eine Entscheidung auf Basis des eigenen Könnens. Jedenfalls ist mit dem Irrtum aufzuräumen, dass Pferde einen Menschen nicht niedertrampeln! Man muss jedenfalls dem Pferd/ den Pferden je nach Situation die Möglichkeit geben, „auszulaufen“ – stellt man ihnen plötzliche Hindernisse entgegen, laufen sie in diese hinein oder versuchen im letzten Moment drüberzuspringen, weil die Bewegungsenergie nicht so schnell abgebremst werden kann.
ProPferd: Wenn man sich zum Eingreifen entschlossen hat – wie soll man sich am besten verhalten, was soll man tun und was sollte ich besser lassen?
Dr. Kaun: Erstens gilt die Maxime: Denken wie ein Pferd und daraus das eigene Handeln ableiten, wie schon zuvor gesagt. Zweitens ist wichtig: Sicherungsmaßnahmen nie „von hinten“ einleiten, sondern – großräumig von vorne. Pferde im Durchgeher-Galopp erreichen eine Geschwindigkeit jenseits von 50 km/h, was nie vergessen werden darf. Bedenklich ist im geschilderten Fall also jedenfalls der Satz: „Verfolgt von zwei Männern und der Polizei.“ In allen Fällen, in denen ein Pferd, mehrere Pferde oder ein Gespann mit Kontrollverlust unterwegs ist – also durchgeht – ist es kontraproduktiv, diese zu verfolgen d.h. von hinten anzutreiben (§ 1320 ABGB). Es sollte stattdessen versucht werden, die Tiere zu ,kanalisieren' – also durch Blockaden (LKW) oder Seile die Pferde in „ruhige Gewässer“ zu lotsen.
ProPferd: In Notsituationen heißt es grundsätzlich: Eigenschutz vor Fremdschutz – d.h. ich soll mich als Helfer nicht selbst in Gefahr bringen. Gilt das auch bei ausgebrochenen, flüchtenden Pferden?
Dr. Kaun: Das gilt selbstverständlich auch hier, denn ein verletzter oder toter „Helfer“ versus flüchtende, aber unverletzte Pferde kann niemals die Alternative sein. Ich darf in diesem Zusammenhang an den berühmten Satz erinnern: „Ohne die vielen freiwilligen Helfer wäre das Ausmaß dieser Katastrophe nicht möglich gewesen!“