Immer mehr Operationen werden am stehenden Pferd durchgeführt 20.11.2022 / News
Nicht nur Kastrationen, sondern auch viele andere Eingriffe können mittlerweile am stehenden Pferd durchgeführt werden. / Symbolfoto: Archiv Martin Haller
Die Anzahl und Arten von stehenden chirurgischen Eingriffen, die sicher am Pferd durchgeführt werden können, nehmen zu – ein Fortschritt, der mithilft, das erhebliche Narkose-Risiko bei Pferdens sukzessive zu senken.
„Die Operation im Stehen ermöglicht erweiterte Behandlungsoptionen, die zuvor aufgrund der mit der Vollnarkose verbundenen Risiken möglicherweise nicht möglich waren“, so Dr. Kayla Le vom ,Department of Surgical Sciences’ an der University of Wisconsin Madison (USA) in der jüngsten Ausgabe des Fachjournals ,Equine Disease Quarterly’.
Dr. Le, die in Großtierchirurgie ausgebildet ist, bestätigte, dass das Aufwachen aus der Vollnarkose einer der gefährlichsten Abschnitte der Pferdechirurgie ist: „Viele Medikamente, die zur Anästhesie von Pferden verwendet werden, erzeugen Schwäche und Orientierungslosigkeit, was das Stehen nach der Operation schwierig macht. Im schlimmsten Fall kann sich ein Pferd nach einer Operation katastrophal verletzen und muss in der Folge eingeschläfert werden.“
Während viele Methoden entwickelt wurden, um das Narkoserisiko beim Pferd zu verringern, müssen die Risiken einer Vollnarkose bei der Erstellung von Operationsplänen stets berücksichtigt werden, so Dr. Le. „Eine Methode zur Vermeidung von Risiken im Zusammenhang mit dem Aufwachen und der Regeneration nach einer Vollnarkose besteht darin, die Operation unter Sedierung im Stehen durchzuführen. Mit Fortschritten bei Sedierungs- und Lokalanästhesie-Techniken können viele Eingriffe, die früher nur unter Vollnarkose durchgeführt wurden, heutzutage sicher durchgeführt werden, während der Patient steht. Dadurch müssen sich die Pferde am Ende des Eingriffs nicht mehr in eine stehende Position aufrichten – und es wird die Verwendung minimalinvasiver chirurgischer Ansätze sowie eine verbesserte Visualisierung der Operationsstelle ermöglicht.“
Dr. Le berichtete über verschiedene Eingriffe, die kürzlich unter stehender Sedierung durchgeführt wurden. So stellte sie fest, dass verschiedene Arten von Frakturreparaturen im Stehen durchgeführt wurden. Eine der häufigsten Arten von Frakturen, die unter stehender Sedierung behandelt werden, ist eine nicht dislozierte oder unvollständige Fraktur der unteren Extremität. „Diese eignen sich ideal für die Reparatur im Stehen, da die Frakturfragmente immer noch sehr eng beieinander liegen und keine große Manipulation zur Neuausrichtung erforderlich ist“, so Dr. Le. Kürzlich wurde auch eine Fesselgelenksarthrodese (Gelenkfusionsverfahren) durchgeführt: „Diese Technik kann besonders bedeutsam für größere Arbeits- oder Zugpferde sein, die ein erhöhtes Narkoserisiko haben.“
Auch Arthroskopien (mit einer kleinen Videokamera, um in ein Gelenk zu schauen) werden heute häufig unter Sedierung im Stehen durchgeführt, wobei eine kleine Einwegkamera eingesetzt wird. „Diese Kamerasysteme wurden verwendet, um unterschiedliche Gelenke zu untersuchen, einschließlich der Knie-, Fessel- und sogar zervikalen Facettengelenke im Nacken.“
Und es gebe noch weitere Anwendungsgebiete, so Dr. Le: „Die oberen Atemwege sind bei einem stehenden Pferd gut zugänglich, und Nasen-Nebenhöhlenoperationen werden routinemäßig unter Stehsedierung durchgeführt, um die Visualisierung und Hämostase zu verbessern.“ Kürzlich wurden dabei sehr kleine Kameras verwendet, um die Visualisierung der Nebenhöhlen zu verbessern, wobei durch ein sehr kleines Loch in den Gesichtsknochen gearbeitet wurde.
Auch einige Eingriffe an den oberen Atemwegen werden mittlerweile unter stehender Sedierung durchgeführt, ebenso spezielle Eingriffe im Bauchraum von Pferden: „Während viele Arten von Bauchoperationen immer noch eine Vollnarkose des Pferdes erfordern, gelten einige Bauchoperationen im Stehen mittlerweile als Routine“, so Dr. Le. Dazu gehören die laparoskopische Ovarektomie (Entfernung eines Eierstocks) oder die Kryptorchidektomie (Entfernung eines Hodenhochstands).
Dr. Le weiter: „In letzter Zeit gab es mehr Berichte über Kolikoperationen, die unter stehender Sedierung durchgeführt wurden; diese reichen von laparoskopischen Untersuchungsoperationen, Biopsieentnahmen, Darmverschiebungskorrekturen bis hin zu Darmresektion und Anastomose (chirurgisch herbeigeführte Verbindung zwischen zwei Hohlorganen, Anm.). Zu den größten Schwierigkeiten bei derartigen Operationen kann es gehören, den Patienten stabil und bequem genug zu halten, um während des gesamten Eingriffs stehen zu bleiben.“
Laut Dr. Le ist aber auch eine Operation im Stehen nicht ohne Nachteile und kann auch zusätzliche Komplikationen verursachen: „Da der Patient für den Eingriff bei Bewusstsein ist, kann er sich trotz Sedierung und Analgesie weiter bewegen. Außerdem muss der Patient stehen bleiben, was für Pferde mit orthopädischen Grunderkrankungen ein Problem darstellen kann“, so Dr. Le. Nicht zuletzt erfordern Eingriffe im Stehen „oft eine umfangreiche Einrichtung, um sicherzustellen, dass ein steriles Operationsfeld aufrechterhalten wird, und sie haben einen erheblichen Personalbedarf.“
Ihr Resümee fällt daher differenziert aus: „Obwohl die Operation im Stehen Vorteile hat, sollte jeder Fall individuell bewertet werden.“ Sie empfiehlt, die verfügbaren Möglichkeiten für einen Eingriff beim stehenden Pferd mit entsprechend qualifizierten Großtierchirurgen zu besprechen, um die jeweils beste Option für sein Pferd zu finden.
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Positiver Trend: Narkoserisiko bei Pferden hat sich in 20 Jahren halbiert 20.10.2021 / News
Neue, verfeinerte Anästhesietechniken und -protokolle haben dazu beitragen, die anästhesiebedingte Sterblichkeit bei Pferden deutlich zu senken. / Symbolfoto: Archiv/Youtube/CEU
Die anästhesiebedingte Sterblichkeit bei Pferden hat sich in den letzten 20 Jahren halbiert, das zeigen die vorläufigen Ergebnisse einer großangelegten internationalen Studie zur anästhesiebedingten Mortalität bei Pferden (CEPEF4).
Pferde haben ein signifikant höheres Risiko, bei oder wenige Tage nach einer Operation schwerwiegende Komplikationen zu erleiden und im schlimmsten Fall an diesen zu versterben – die Wissenschaft spricht hier vom ,perioperativen Mortalitätsrisiko’ (perioperativ bedeutet die Zeit vor, während und nach einer Operation). Eine 2002 durchgeführte große internationale Studie (CEPEF2 = Confidential Inquiry of Perioperative Fatalities) ergab, dass ca. 1 von 100 Pferden eine OP unter Vollnarkose nicht überlebt, was einem Mortalitätsrisiko von 1 % entspricht. Bei Katzen und Hunden liegt dieses Risiko jedoch nur bei ca. 1 von 1000, also einem Promille – und beim Menschen gar nur bei 1 von 10.000, also einem Zehntel-Promille.
Die Ursachen für das besonders hohe Narkoserisiko bei Pferden sind zum einen das hohe Gewicht der Tiere mit der damit verbundenen Prädisposition für Muskel– und Nervenschäden sowie der Schwierigkeit des Gasaustausches der Lunge während der Seiten- oder Rückenlage. Hinzu komme, dass alle verwendeten Anästhetika eine kreislauf- und atemdepressive Wirkung haben – Experten sprechen hier von einer ,kardiorespiratorischen Depression’, der häufigsten Ursache für Narkosekomplikationen bei Pferden.
Die oben zitierte Studie (CEPEF2) stammt aus dem Jahr 2002, ist also fast 20 Jahre alt – und brauchte dringend ein ,Update’. Dieses ist seit vielen Monaten in Gestalt von CEPEF4 in Arbeit – und nun liegen auch die ersten vorläufigen Ergebnisse dieser aktualisierten, neuen Untersuchung vor: Wissenschaftler der veterinärmedizinischen Fakultäten von Edinburgh, Zürich und der CEU Cardenal Herrera der Universität Valencia sowie aus Großbritannien berichten in der Zeitschrift ,animals’ über die ersten 6.701 Fälle von Anästhesie und 1.995 von Sedierung, die online in der Studie aufgenommen wurden.
Diese vorläufigen Ergebnisse sind vielversprechend, wie die Forscher bestätigen: „Diese ersten Daten zeigen einen ermutigenden und signifikanten Rückgang der durch Pferdenarkose verursachten Mortalität von 1,9 % auf 1 % und auf nur 0,2 % der Tiere bei Eingriffen unter Sedierung“, fasste Professor für Veterinäranästhesiologie und Co-Autor José Ignacio Redondo von der CEU Cardenal Herrera Universität in Spanien die wichtigste Erkenntnis zusammen.
CEPEF4 hat auch den Fortschritt der bei Pferden international angewandten Anästhesie- und Sedierungstechniken im Vergleich zu früheren Ausgaben der Studie untersucht. Wie sich herausstellte, trugen diese ganz wesentlich zu den verbesserten Zahlen bei: „Die vorläufigen Daten bestätigen, dass diese neuen Anästhesietechniken und -protokolle dazu beitragen, die anästhesiebedingte Mortalität bei Pferden erfolgreich zu senken“, so Prof. Redondo weiter.
Die Daten sollten für Veterinäre weltweit auch eine Motivation sein, weitere Fortschritte zu erzielen, denn: „Es besteht noch Potenzial für weitere Verbesserungen, sodass die anästhesiebedingte Sterblichkeit bei Pferden noch weiter sinkt – bis auf das Niveau, auf dem die Anästhesie bei Kleintieren derzeit stattfindet“, so Prof. Redondo. Er leitete die internationale Studie COMPLRED, die nach der Analyse von über 61.000 Fällen in Veterinärzentren weltweit gezeigt hat, dass die anästhesiebedingte Mortalität bei Hunden 0,75 % und bei Katzen 0,68 % beträgt.
Als höchst hilfreich für die Studie hat sich das Internet erwiesen: In nur 11 Monaten, während der Covid-19-Pandemie, hat CEPEF4 es geschafft, fast 20.000 Fälle von Pferde-Anästhesien aus mehr als 70 Tierkliniken in 20 Ländern und vier Kontinenten zu sammeln und ist damit die weltweit größte Studie in Bezug auf die Repräsentativität der Stichprobe. Länder wie Belgien, das Vereinigte Königreich, Irland, Frankreich, die Vereinigten Staaten, Argentinien, Australien, die Schweiz und Spanien lieferten dabei die meisten Daten. Das Einreichungsformular ermöglicht es Tierärzten aus der ganzen Welt, die relevanten klinischen Parameter der von ihnen anästhesierten Pferde und die verwendeten Techniken von ihrem Mobiltelefon, Tablet oder Computer aus zu registrieren.
Ein weiterer bedeutender technologischer Durchbruch ist die Einbeziehung von ,Big Data’ und maschinellen Lerntechniken für die Massenverarbeitung registrierter Daten. „Die eingesetzte künstliche Intelligenz ermöglicht die Massenanalyse von Daten und die Erkennung der wichtigsten Daten, um die Entwicklung der Anästhesierisiken praktisch in Echtzeit zu erkennen, wodurch wir die Sicherheit der Anästhesie weiter verbessern können bei Pferden“, so Prof. Redondo.
Das neueste CEPEF-Projekt wird von Miguel Gozalo-Marcilla, Leiter der Anästhesie in der Pferdeabteilung der Fakultät für Veterinärstudien in Edinburgh, geleitet. An der Auswertung beteiligt waren auch Regula Bettschart-Wolfensberger, Professorin für Anästhesiologie an der Veterinärmedizinischen Fakultät Zürich, José Ignacio-Redondo und Vetstream-Direktor Mark Johnston, Erstautor der ersten drei CEPEF-Studien sowie die weltweit renommierte Pferdeanästhesie-Spezialistin Dr. Polly Taylor.
Die Forscher haben sich vor kurzem in Spanien getroffen, um die nächsten Studien-Phasen mit zwei zentralen Hauptzielen zu planen: 50.000 durchgeführte Anästhesien zu erreichen und Teilstudien zu mehreren Aspekten der Pferde-Anästhesie durchzuführen, nicht nur zu den mit der Sterblichkeit verbundenen.
Die Studie „Data Collection for the Fourth Multicentre Confidential Enquiry into Perioperative Equine Fatalities (CEPEF4) Study: New Technology and Preliminary Results" von Miguel Gozalo-Marcilla, Regula Bettschart-Wolfensberger, Mark Johnston, Polly M. Taylor und Jose I. Redondo ist am 25. Aug. 2021 in der Zeitschrift ,animals' erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden.
31.05.2021 - Hohes Narkoserisiko für Pferde im Fokus
Hohes Narkoserisiko für Pferde im Fokus 31.05.2021 / News
Bei Kolik-Operationen ist das Sterblichkeits-Risiko besonders groß. / Symbolfoto: Redwings Horse Sanctuary
Das Narkoserisiko bei Pferden ist deutlich höher als etwa bei Hunden und Katzen – um ein Vielfaches größer als beim Menschen. Eine großangelegte internationale Studie möchte dieses Risiko nun neu bewerten und in all seinen Facetten beleuchten.
Pferde haben ein signifikant höheres Risiko, bei oder wenige Tage nach einer Operation schwerwiegende Komplikationen zu erleiden und im schlimmsten Fall an diesen zu versterben – die Wissenschaft spricht hier vom ,perioperativen Mortalitätsrisiko’ (perioperativ bedeutet die Zeit vor, während und nach einer Operation). Eine 2002 durchgeführte große internationale Studie ergab, dass ca. 1 von 100 Pferden eine OP unter Vollnarkose nicht überlebt, was einem Mortalitätsrisiko von 1 % entspricht. Bei Katzen und Hunden liegt dieses Risiko jedoch nur bei ca. 1 von 1000, also einem Promille – und beim Menschen gar nur bei 1 von 10.000, also einem Zehntel-Promille.
Die Ursachen für das besonders hohe Narkoserisiko bei Pferden sind, wie Ines Czupalla in ihrer 2012 veröffentlichen Disseration schreibt, „zum einen das hohe Gewicht der Tiere mit der damit verbundenen Prädisposition für Muskel– und Nervenschäden sowie der Schwierigkeit des pulmonalen Gasaustausches während der Seiten- oder Rückenlage." Hinzu komme, dass alle verwendeten Anästhetika eine kreislauf- und atemdepressive Wirkung haben – Experten sprechen hier von einer ,kardiorespiratorischen Depression’, der häufigsten Ursache für Narkosekomplikationen bei Pferden.
Die oben zitierte Studie aus dem Jahr 2002 ist immer noch die größte multizentrische Untersuchung mit einer Sammlung von 41.824 Fällen aus 62 Kliniken weltweit über einen Zeitraum von 6 Jahren. Diese sogenannte „CEPEF2-Studie" (CEPEF = Confidential Enquiry into Perioperative Equine Fatalities) berichtete von einer Gesamtmortalität der Pferde von 1,9 %. Dieser Prozentsatz wurde jedoch bei gesunden Pferden auf 0,9 % reduziert und bei Pferden mit Koliken auf 11,7 % erhöht. Sie umfasste einen Zeitraum von 7 Tagen nach der Anästhesie.
Im Jahr 2004 wurde CEPEF3 als randomisierte kontrollierte Studie veröffentlicht – klar ist aber, dass sich seither viel geändert hat: Es wurden auf diversen Gebieten erhebliche Fortschritte erzielt, darunter neue Medikamente und Anästhesieprotokolle, ausgeklügeltere Überwachung, verbesserte Anästhesie- und Beatmungsgeräte sowie Zusatzgeräte wie Infusionspumpen, von denen allgemein angenommen wird, dass sie die Sicherheit erhöhen.
Wissenschaftlern ist seit vielen Jahre klar, dass ein ,Update' längst überfällig ist – und dieses ist seit wenigen Monaten auch in Form von ,CEPEF4' auf den Weg gebracht: Das Untersuchungsteam und auch das Forschungsdesign sind definiert und startklar, wenngleich die weltweite Corona-Pandemie manches ein wenig verzögert hat. Bisher haben 70 Pferdekliniken auf der ganzen Welt Informationen von 9.000 Fällen beigesteuert, hauptsächlich aus Belgien, Großbritannien, Australien, Irland, Frankreich, der Schweiz und Spanien. Doch es kommen hoffentlich noch viele weitere in den nächsten Wochen und Monaten hinzu, um ein möglichst vollständiges Bild des Narkoserisikos bei Pferden zu erhalten.
Die Wissenschaftler wörtlich: „Das Hauptziel besteht darin, einen aktuellen und ebenso umfassenden Datensatz wie bei CEPEF2 zu sammeln, um die Mortalität im Zusammenhang mit der Pferdeanästhesie zu dokumentieren, aber auch um aktuelle Trends in der Pferdeanästhesie und Analgesie zu identifizieren. Das Herausarbeiten von Zusammenhängen mit erfolgreichen oder nicht erfolgreichen Resultaten sollte zeigen, welche der neuen Entwicklungen, wenn überhaupt, von Vorteil sind und den Weg für weitere Verbesserungen weisen." In letzter Konsequenz besteht das Ziel darin, eine Anästhesie und Genesung mit minimalen Komplikationen zu gewährleisten und dadurch das Sterblichkeitsrisiko im Zusammenhang mit der Anästhesie bei Pferden noch deutlicher zu reduzieren.
Nähere Infos findet man in diesem Fachartikel, mit weiteren Ansprechpartnern, Infos und Kontakten!
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