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Was bedeutet es, wenn Pferde lecken und kauen?
21.11.2022 / News

Wenn Pferde kauen und lecken, dann bedeutet das, dass sie Erlerntes verarbeiten – so eine weit verbreitete Ansicht. Aber stimmt das auch?
Wenn Pferde kauen und lecken, dann bedeutet das, dass sie Erlerntes verarbeiten – so eine weit verbreitete Ansicht. Aber stimmt das auch? / Symbolfoto: Archiv

Über die Frage, wie das Kauen oder Lecken bei Pferden zu interpretieren ist, herrschen erstaunlich divergierende Ansichten – und diverse Irrtümer und Mythen, die sich selbst unter erfahrenen ReiterInnen hartnäckig halten. Hier eine Faktensammlung.

 

Über die Bedeutung oraler Verhaltensweisen wie Kauen/Abkauen und Lecken wurde schon viel geschrieben und gemutmaßt: Es soll beispielsweise anzeigen, dass Pferde eine soeben gelernte Lektion verarbeiten – oder sogar signalisieren, dass sie diese „verstanden“ haben. Für andere ist es eine Reaktion darauf, dass ihr Reiter oder Trainer gerade ruhiger geworden ist – und immer wieder ist auch zu hören, dass das Kauen beim Reiten und die damit einhergehende Speichelproduktion ein Zeichen von Losgelassenheit oder gar Zufriedenheit ist. Mitunter hört man auch die Ansicht, dass das Kauen in der Gesellschaft von Artgenossen eine Geste der Unterwerfung sei, die gegenüber ranghöheren Pferden gezeigt wird – und in dieser Weise auch von den Anhängern von Monty Roberts ,Join-up’-Methode als „Akzeptanz des ranghöheren Chefs bzw. Trainers“ gedeutet wird.

In den letzten Jahren hat sich jedoch eine andere Interpretation immer mehr durchgesetzt, die nicht zuletzt auch auf ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu diesem Thema aufbaut: dass nämlich das Abkauen bzw. Lecken eine Reaktion des Pferdes auf Stress darstellt und den Moment der Entspannung signalisiert – ein Verhalten, wie es z.B. auch bei Hunden nachgewiesen werden konnte.

In einer Studie, die 2018 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, sind die beiden Wissenschaftlerinnen Margarete Lie und Prof. Ruth Newberry von der ,Norwegian University of Life Sciences’ der Bedeutung des Kauens/Abkauens und Leckens sozusagen wissenschaftlich auf den Leib gerückt. Sie haben Wildpferde in Ecuador untersucht und insgesamt mehr als 80 Stunden lang die Verhaltensweisen einer Herde von ca. 200 Pferden beobachtet, die in einem großen Nationalpark lebte. Die Ausbeute der umfangreichen und detaillierten Analysen waren insgesamt 202 Verhaltens-Sequenzen, die vor und nach dem Abkauen beobachtet und dokumentiert werden konnten.

Konkret untersuchten die Forscherinnen zwei Hypothesen – dass nämlich 1) die Pferde das Abkauen während einer Entspannungsphase nach einer angespannten Situation bzw. Begegnung zeigen und 2) dass das Abkauen ein Zeichen der Unterwerfung unter ein anderes Pferd darstellt. Um die erste Hypothese zu untersuchen, wurde die Häufigkeit von entspanntem und angespanntem Verhalten vor und nach dem Abkauen ermittelt, mit der Vorhersage, dass Pferde nach dem Abkauen weniger angespannt, sprich: entspannter sind. Die Vorhersage für die zweite Hypothese lautete, dass – wenn ein Pferd sich bedrohlich einem anderen Pferd nähert – der ,Empfänger’, aber nicht das sich bedrohlich nähernde Pferd abkaut.

Tatsächlich konnte nach Auswertung sämtlicher Verhaltens-Sequenzen lediglich die erste Hypothese, nicht jedoch die zweite bestätigt werden: Wie sich zeigte, wurden ,angespannte Verhaltensweisen’ 128 Mal vor dem Abkauen, aber lediglich 16 Mal nach dem Abkauen gezeigt – während ,entspannende Verhaltensweisen’ 74 Mal vor und 186 Mal nach dem Abkauen zu beobachten waren. Entgegen der zweiten Hypothese zeigten sowohl das sich bedrohlich nähernde, als auch das ,empfangende’ Pferd gleichermaßen Abkau-Verhalten.

Das Resümee der Wissenschaftler: „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Abkauen in den beobachteten Kontexten nicht als unterwürfiges Signal von Pferden auftrat, sondern dass es offenkundig zur Reduktion von Erregung, also zum Spannungs-Abbau diente. Abkauen könnte mit einem Wechsel von einem trockenen Maul, ausgelöst durch eine ,sympathische’ Erregung, zu einer Anregung des Speichelflusses verbunden sein, der mit einer ,parasympathischen’ Aktivität in Zusammenhang steht.“
Zur Erklärung: Während das sympathische Nervensystem (Sympathikus) den Organismus auf eine Aktivitätssteigerung einstellt, überwiegt das parasympathische Nervensystem (Parasympathikus) in Ruhe- und Regenerationsphasen. Der Sympathikus ,schaltet’ gleichsam den Organismus auf Kampf oder Flucht um – die Bronchien erweitern sich, die Lunge pumpt mehr Sauerstoff ins Blut, das Herz schlägt schneller, der Stoffwechsel wird angeregt, Energiereserven werden mobilisiert, Arterien und Venen verengen sich, der Bluckdruck steigt, der Speichelfluss wird verringert, das Pferd bekommt ein trockenes Maul.

Der Parasympathikus bringt den Organismus hingegen wieder in den Ruhe- bzw. Normalzustand – die Blutgefäße werden weiter, die Bronchien verengen sich, das Herz schlägt langsamer, der Stoffwechsel verringert sich, die Energievorräte werden wieder aufgefüllt, und auch die Speichelproduktion wird wieder aufgenommen – mit der unmittelbaren Folge, dass das Pferd kaut und leckt.

Dieser Befund weist, so die Autorinnen, eindeutig darauf hin, dass das Abkauen eng mit Stressbewältigung zusammenhängt – und dass Trainingsmethoden, bei denen Abkauen als Indikator für Unterwerfung bzw. für die Akzeptanz eines Menschen als ,Boss’ betrachtet wird, mit Vorsicht zu genießen sind. Das Abkauen während des Trainings kann sogar als Zeichen interpretiert werden, dass das Pferd dabei vermehrt unter Stress steht – und nicht als Hinweis, dass es den Trainer akzeptiert.

In diesem Sinne kann das Wissen um die Bedeutung des Kauens und Leckens in der Ausbildung eines Pferdes auch sinnvoll eingesetzt werden: Es ist ein Hinweis, dass das Pferd Stress ausgesetzt war – und diesen nun durch orale Verhaltensweisen abbaut. Dieses Wissen kann hilfreich dabei sein, stressbehaftete Reize im Training zu identifizieren – und in der Folge vielleicht durch andere zu ersetzen.

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