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"Schreckliche" Gestalten: Gefahren für Pferd & Mensch bei Ausritt und Ausfahrt
19.12.2021 / News

Die meisten Unfälle mit Pferden passieren beim täglichen Freizeitvergnügen – und viele davon wären mit mehr Voraussicht, Aufmerksamkeit und Pferdeverständnis durchaus vorhersehbar und damit auch vermeidbar, so der Befund des Sachverständigen Dr. Reinhard Kaun.

 

Die Mehrzahl der Unfälle mit Pferden ereignet sich nicht im großen Sport, sondern beim täglichen Freizeitvergnügen – die Unfallanalyse fördert häufig eine schreckliche Sorglosigkeit und Unbedarftheit zutage, die zumeist in die Beurteilung „das war vorhersehbar“ mündet.

Damit Gefahren – vorhersehbar – als solche erkannt werden, bedarf es einiger Voraussetzungen:

– Lebenserfahrung des Menschen mit erworbenem Gefahrenbewusstsein
– Lebenserfahrung des Menschen im Umgang mit Pferden
– Wissen des Menschen über die Sinnesleistungen und Wahrnehmungsvermögen des Pferdes
– „Schneller Blick“ des Menschen zur Erfassung möglicher Gefahren, bevor das Pferd dies wahrnimmt……

und ….

– Wissen und Können, um vorbeugend schnell und richtig zu reagieren
– Unbelastete positive Erfahrung der Pferde auch in brenzligen Situationen, verbunden mit grenzenlosem Vertrauen zum Menschen.

Der geneigte Leser wird vielleicht an dieser Stelle resümieren, dass diese Forderungen sogenannte „Sowieso“ – Punkte sind – bedauerlicherweise ist dies aber nicht der Fall – dazu ein Beispiel:
Vor Jahren war im Salzkammergut, wo ich damals tätig war, für einen Samstag um die Mittagszeit „schwere Sturmwarnung“ ausgegeben, ein für diese Tageszeit ungewöhnlicher Umstand, dem die meisten Bewohner durch entsprechende Vorbereitung begegnet waren. Über Rundfunk und Fernsehen sowie einschlägige Apps war aufgerufen worden, zu Hause zu bleiben und sichere Gebäude nicht zu verlassen.                                                                  

Ich hatte noch einige Visiten zu absolvieren und traf, als der Wind bereits merklich aufzufrischen anhub, auf einem Reiterhof ein, wo sich gerade eine Reitergruppe mit 5 Pferden zu einem Ausritt fertigmachte. Auf meinen rüden Vorhalt „nur Wahnsinnige reiten jetzt aus….“ wurde ich  kopfschüttelnd milde belächelt wie ein Bescheuerter. Die Folgen waren furchtbar, auch die Pferde die Opfer!!

Wenn im Rahmen von Unfallrekonstruktionen vom Gutachter die Frage nach möglichen Auslösern gestellt wird, die im Sinne des § 1320 ABGB (reizen, antreiben) relevant sein könnten, kommen mit schöner Regelmäßigkeit:
„der auffliegende Vogel, der bellende Hund, die stechende Mücke, das raschelnde Papier, das vorbeifahrende Auto und lärmende Kinder usw.“ Aus dieser Erfahrung ist abzuleiten, dass Erinnerung ziemlich eindimensional ist.

Tatsache ist jedoch, dass in der Realität meistens eine Bandbreite von Einflüssen und Eindrücken, von Empfindungen und Wahrnehmungen ein Pferd in seinem Verhalten beeinflussen können, die ein „Pferdemensch“ in Harmonie mit seinem Tier wahrnimmt, wenn er /sie nicht als stumpfer Passagier im Sattel oder Bock sitzt – unaufmerksam, interesselos und ICH-bezogen.

Es ist deshalb aus hippologischer Sicht für Pferdeleute vorrangig, die Gleichzeitigkeit aller sinnlichen und vegetativen Wahrnehmungen in Einheit und absoluter Harmonie mit dem Pferde aufzunehmen, zu analysieren, zu interpretieren und in pferdekonformes Reagieren überzuführen.

Die dagegen gehaltene Ansicht, dies würde zur Folge haben, dass Reiter, Fahrer, Pferdehalter usw. nunmehr nur mehr verkrampft und verspannt, lauernd und innerlich unruhig im Sattel, am Kutschbock usw. säßen ist falsch: diese „losgelassene Aufmerksamkeit“, die ich hier meine, muss durch ständiges Lernen zur „zweiten Haut“ werden – conditio sine qua non für einen Pferdemenschen.

Welchen Sinn macht es, dem Pferd alle möglichen sinnvollen und überflüssigen  Kunststücke beizubringen, wenn sein Inneres und seine Verhaltensmuster nicht kennt – das vielzitierte „Druck aufbauen“ halte ich nicht für den richtigen Weg.

Neuerdings ist es Mode geworden, Tieren menschliche Gesichter mit unterschiedlicher, freundlicher und unfreundlicher Mimik auf Fotos vorzulegen und ihre Reaktion zu erforschen – sicherlich ein interessanter Ansatz. Vielleicht kommt dann als Unfallursache ein neuer Aspekt dazu: Das Pferd ist durchgegangen, weil es der Spaziergänger oder Jäger sooo böse angeschaut hat.

 

Das Gesichtsfeld eines Pferdes (modifiziert vom Autor) nach Prof. Dr. Roland Brückner in „Dein Pferd, sein Auge, seine Sehweise“ (Basel 1989).
Grüner Bereich: Binocularfeld 70 Grad - räumliches Sehen mit beiden Augen
Gelber/roter Bereich: Monocularfeld linkes/rechtes Auge 215 Grad – flächiges Sehen mit jeweils einem Auge                               
Schwarzer Bereich: Toter Winkel vor und hinter dem Pferd

In Verbindung mit der Kenntnis der einfachen physiologischen Biegemöglichkeit der Hals- und Brustwirbelsäule kann ein Reiter den Bereich der optischen Wahrnehmung ungefähr abschätzen. Als Folge der Evolution der Huftiere als Weide-, Flucht- und Beutetiere auf ebenem Gelände hat sich im Auge ein „Alarmstreifen“ (Grassè, Brückner) entwickelt, ein bandförmiges Areal oberhalb des Sehnerv- Eintrittes mit besonders dichter Anordnung von großen Ganglienzellen, die den Horizont ständig am „waagrecht am Radar“ haben. Auf hügeligen Weiden kann man beobachten, wie Pferde durch Kopfneigen eine Übereinstimmung mit dem Horizont herstellen.

Zu beachten ist ferner, dass Pferde aus ihrer Evolution optischen und akustischen Einwirkungen, die von oben kommen, häufig mit Panik begegnen, wenn sie mit Bewegung verbunden sind (z.B. Abkehren der Stallwände und Stalldecke mit Besen), jedoch unerwartet ruhig bleiben, wenn man eine solche erwarten würde.

Ich erinnere mich an ein Fahrturnier, dessen Marathonstrecke durch den Innenhof eines Vierkanters führte – als besondere Raffinesse hatte der Geländebauer an den oberen Bogen des Einfahrtstores einen großen, ausgestopften Bussard montiert, der dort als furchterregende Silhouette „thronte“ – die wenigsten Pferde nahmen Notiz von dieser regungslosen Statue.

Bemerkenswert, aber evolutionär verständlich, ist die Beobachtung, dass ein herabfallender Heuballen (also eine vertikale Bewegung) Pferde weniger aufregt als ein, vom Winde daher gewehtes Blatt Zeitungspapier (also eine horizontale Bewegung).

Ein weiteres, fast jedem Reiter und Fahrer bekanntes Phänomen scheint ursächlich noch nicht wirklich endgültig geklärt zu sein:

Am Wege von A nach B gehen die Pferde an einem Holzstoß, einer Mischmaschine oder einem abgestellten Mähdrescher problemlos vorbei, als wären diese „Monster“ überhaupt nicht vorhanden – am Rückweg aber, also von B nach A nur 30 Minuten später hat es den Anschein, dass sich die vorher nicht beachteten Objekte plötzlich in feuerspeiende Drachen verwandelt hätten. Dazu meint Beaver( Equine Vision in Animal Clinician 1982), dass der Grund dafür wohl darin läge, dass das Pferd die Sehbilder nicht „kreuzweise“ abspeichern kann, also das „Bild“ des rechten Auges  beim Ritt von A nach B bei der Rückkehr im Gehirn nicht zur Verfügung steht und neu aufgenommen werden muss, obwohl die anatomischen Voraussetzungen vorhanden sind. Evans vertritt in „The Horse“(1977) hingegen die Ansicht, dass durch plötzliche Kopfbewegungen das Bild eines „Objektes“ vom flächigen Bereich des monokularen Sehens plötzlich in den räumlichen Bereich des binokularen Sehens  „überspringt“, wodurch selbst die geringste Bewegung – z.B. eine im Winde flatternde Schnur -  vom Pferde wahrgenommen werden kann.  Brückner hingegen attestiert dem Pferd ein ausgezeichnetes optisches Ortsgedächtnis, das die kleinsten Veränderungen einer sonst gewohnten Umgebung registriert und zum Scheuen führt (Brückner: Das Pferd, sein Auge, seine Sehweise; Basel 1989).

Tatsache ist, dass kein Mensch – zumindest soviel mir bekannt ist – je Zeit als Pferd verbracht hat und deshalb aus eigener Erfahrung berichten könnte. Es wird also weiterhin an jedem, mit Pferden lebenden Menschen liegen, die Eigenheiten seiner Tiere  kennen zu lernen und ihnen mit bestem Wissen beim Aufbau von Vertrauen zu begegnen – ein ängstlicher, unaufmerksamer und unsicherer Egoist oder Narzisst (beiderlei Geschlechts !!) kann dem Pferde keine Sicherheit geben.

Durch den Abstand zwischen linkem und rechtem Auge (Pferd etwa 20 cm, Mensch etwa 6 cm) steht dem Pferd ein sehr großer Binocularwinkel von etwa 70 Grad zur Verfügung. Dieses dreidimensionale, also räumliche Sehen ist auf eine Distanz von einem bis mehrere hundert Meter in die Ferne ausgelegt. Da Zeitunglesen und Handyspielen für das Pferd ohne große Relevanz ist, benötigt es keine extreme Nahsicht.

Zum Farbsehen bei Pferden gibt es keine abschließenden Erkenntnisse. In Abgleich zwischen Beobachtung und anatomischen Voraussetzungen kann angenommen werden, dass Pferde die Farbe BLAU wahrnehmen. Unsicherer werden die Befunde bei der Unterscheidung von GELB und GRÜN. Die Farbe ROT konnte in Studien von einem Großteil der Pferde erkannt werden – ein enger Zusammenhang zwischen Beleuchtungsintensität und Erkennbarkeit einer Farbe scheint zu bestehen.
Obwohl Pferde – so wie auch Menschen – bei Nacht keine Farben unterscheiden können, so ist doch ihr Dämmerungssehen infolge der großen Augen und eines besonderen „Spiegelsystems“ (Tapetum lucidum fibrosum) besser als das des Menschen – weshalb manche Reaktionen von Pferden bei Dämmerungs- und Nachritten oft anders ausfallen, als vom Reiter erwartet.

Das Hörspektrum eines Pferdes ist bedeutend weiter als das des Menschen – bis zu 38.000 Hertz nach oben und bis zu 8.000 Hertz nach unten reicht die Skala. Besonders zischende Geräusche und hohe Frequenzen irritieren leicht: Ultraschallerzeuger (Rattenvertreiber, medizinische Geräte), schnelle Verkehrsmittel, Lüftungsanlagen (Schweine-/Hühnerställe), schnell rotierende Maschinen (wie Kreissägen), technische Ausrüstungen von TLFs der Feuerwehr.

Ein gut meinender Motorradfahrer, der im Leerlauf vorbeizischend ein Gespann überholt, tut dem Fahrer des Gespannes nichts Gutes: Besser ist es, Gas und Tempo zu drosseln, damit die Pferde mit ihren (fast) rundum beweglichen „Radarohren“  die Entfernung der nahenden Geräuschquelle dennoch abschätzen können.

Der Geruchssinn von Pferden wird natürlich von der Wahrnehmung über die Nase, aber zusätzlich noch über die „Geruchsbrille“ (Jacobsonsches Organ) bestimmt, das durch das „Flehmen“ (Hochheben der Oberlippe) am oberen, äußeren Gaumendach aktiviert wird. Eine Reihe von Geruchsqualitäten werden von Pferden als unangenehm bis bedrohlich empfunden, heftige Reaktionen sind vorhersehbar: Schweine- und Geflügelställe, Brandgeruch, Blutgeruch des Fleischhauers, Angstschweiß und Geruch toter Pferde, auch als frische Leichen.

Menschen, die häufig mit Pferden Umgang pflegen, muss klar sein, dass Wahrnehmungen über Seh-, Hör- und Geruchsorgane simultan zu taktilen Reizen (Hilfen) auf den Organismus eines Tieres einwirken, dessen vegetativer Empfängerstatus durch die Tagesverfassung (Umwelt, Wetter, Trainingszustand, Gesundheit, hormonelle Schwankungen, Tagesrhythmus usw.) bestimmt ist.

Bei Aktivitäten mit Pferden im Freien ist deshalb immer auch die Wetterlage (Föhn, Gewitterlage, Wetterwechsel, Lage vor dem ersten Schnee, auffrischender Wind) zu berücksichtigen. Bei Schneelage und zunehmender Tageserwärmung ist vorhersehbar, dass sich Dachlawinen vom Dach der Reithalle lösen oder Schnee von Bäumen fällt. Der Einbruch der Dunkelheit erfolgt nicht schicksalhaft, sondern voraussehbar.

Nicht zu unterschätzen ist die Macht des Lichtes auf die Wahrnehmung der Umwelt durch Pferde.

Aus Erfahrung weiß man, dass Pferde über ein beachtliches assoziatives Gedächtnis verfügen – es muss also nicht unbedingt der Holzstoß, die Mischmaschine oder der Mähdrescher selbst sein, der ein Pferd „aus dem Häuschen“ bringt, sondern es kann eine Gesamtsituation bestehen, die assoziativ mit diesen „Monstern“ in Verbindung gebracht wird.

„Als ich zum letzten Mal diesen Holzstoß gesehen habe, stand die Abendsonne blutrot am Himmel, es herrschte eine unangenehme Föhnstimmung, in einer entfernten Wiese stand regungslos eine „komische“ Figur und ich wollte aus Unsicherheit nicht vorwärts gehen – da bekam ich arge Rüffler mit der Trense, einige Sporenstiche und Gertenhiebe, heute ist wieder eine ähnliche Stimmung, ich kehre lieber gleich um und laufe in den Stall und das nächste Mal gehe ich nicht mehr bis hierher!“

Eine schwer definierbare Figur steht in der Wiese.

Bei dieser Abendstimmung ist die „Doppelspiegelung“ durch das Tapetum lucidum  geeignet, Angst entstehen zu lassen.

Ein bisher harmloser Hochspannungsmast wird zum bedrohlichen Monster, rundherum dunkle Gestalten und dieses seltsame Surren in der Luft….

Diese Figur war immer schon furchterregend, beim nächsten Ausritt wird ein großer Bogen fällig.
 

Eine schwierige Wahrnehmungssituation auf einem wohlbekannten Weg…

Eine vielköpfige Schlange lauert am Wegesrand.
 

Ein Geist zwischen Rebstöcken.

Die Fotos wurden, vorbereitend für diesen Artikel, vom Verfasser aufgenommen, entsprechen der wahrnehmbaren Originalstimmung und sind nicht bearbeitet.

Die Sicherheit, ohne Angst und Verspannung durch solche Lichtverhältnisse zu gehen, muss das Pferd von seinem Menschen bekommen.

(Fortsetzung folgt)

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