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Verständnis statt Führerschaft: Dominanz sollte nicht Teil des Pferdetrainings sein
26.05.2017 / Wissen

Das Verständnis ihrer natürlichen Verhaltensweisen bringt im Pferdetraining viel mehr, als auf Konzepte wie Führerschaft oder Dominanz zu setzen – so das Positionspapier der ISES.
Das Verständnis ihrer natürlichen Verhaltensweisen bringt im Pferdetraining viel mehr, als auf Konzepte wie Führerschaft oder Dominanz zu setzen – so das Positionspapier der ISES. / Symbolfoto: Archiv/Pixabay

Führende Pferdewissenschaftler haben ein Positionspapier vorgelegt, in dem sie sich gegen die Anwendung von Dominanz- oder Führerschaft-Konzepten im Pferdetraining aussprechen.

 

Mit Ausbildungskonzepten, die auf Hierarchie, Dominanz oder Führerschaft basieren, setze man nicht nur die Entwicklung einer harmonischen Partnerschaft aufs Spiel, sondern würde auch das Wohl des Pferdes gefährden – so lautet das wesentliche Resümee, das die Internationale Gesellschaft für Pferdewissenschaften ISES (International Society for Equitation Science) in einem Positionspapier zieht.

Noch immer glauben viele Reiter und Ausbilder, dass man bei der Ausbildung oder beim Training eines Pferdes in einer Dominanz- bzw. Führer-Position sein müsse, um erfolgreich zu sein – das sei ein Irrtum, so das ISES-Positionspapier, das unter der Leitung von Prof. Jan Ladewig von der Universität Kopenhagen erstellt wurde. Derartige Hierarchie-Konzepte seien nichts anderes als die Übertragung menschlicher bzw. zwischenmenschlicher Kategorien auf Pferde – und eine unzulässige Vermenschlichung, die mit dem tatsächlichen Sozialverhalten von Pferden nichts zu tun habe. „Pferde haben viele Talente – sie können unter widrigsten Bedingungen überleben, sie merken sich, wo sie Nahrung, Wasser und Schutz finden können und wer ihre Gruppenmitglieder sind – und noch tausend andere Dinge mehr", so Prof. Ladewig. „Aber es gibt keinerlei Hinweis, dass sie mit hochkomplexen Dingen umzugehen wissen, die kognitive Fähigkeiten, wie sie der Mensch besitzt, voraussetzen. Sie sind nicht so gut im Verallgemeinern – und auch das abstrakte Denken ist bei ihnen kaum ausgeprägt. Je besser wir verstehen, wie ihr Gehirn funktioniert und je mehr wir die Grenzen ihres Bewusstseins akzeptieren, desto besser werden wir in der Lage sein, eine  harmonische Partnerschaft mit ihnen einzugehen", so Prof. Ladewig.

Das ISES-Positionspapier geht ausführlich auf das Sozialverhalten von Wildpferden und Hauspferden ein, wie es mittlerweile in einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien erforscht und analysiert wurde – und fasst diese wie folgt zusammen: „Dominanz-Hierarchien, Alpha-Positionen oder Führerschaft in sozialen Pferdegruppen sind menschliche Konzepte, die nicht die Basis der Mensch-Pferd-Interaktion bilden sollten. Pferde sind soziale Tiere, die hauptsächlich auf Basis einer zweiseitigen Beziehung interagieren, d. h. jedes Pferd hat eine individuelle Beziehung zu jedem anderen Pferd der Gruppe – und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie darüberhinaus eine übergeordnete Rangordnung kennen, die sämtliche Mitglieder der Gruppe einschließt. Während ältere oder erfahrene Pferde ihren angestammten Platz in der Gruppe kennen und häufiger als jüngere, unerfahrene Pferde ihre Kameraden zu Orten führen können, wo Nahrung, Wasser und Schutz verfügbar sind, gibt es derzeit keine soliden Beweise für eine Art ,Führerschaft', die bestimmten Individuen innerhalb der Gruppe vorbehalten wäre."

Und weiter heißt es: „Die Mensch-Pferd-Beziehungen auf einem Dominanz-Konzept aufzubauen, kann überdies mit dem Pferdewohl unvereinbar sein. Es gibt leider Beispiele von Reitern, Trainern und Haltern von Pferden, die glauben, sich selbst in eine ,Alpha-Position' gegenüber ihrem Pferd setzen zu müssen – und die auf Ausbildungsmethoden und -praktiken zurückgreifen, die Angst auslösen und in einigen Fällen sogar zu Missbrauch führen. In der Natur werden Pferde hingegen Konflikte viel eher vermeiden als sie zu provozieren. Wenn sie von einem aggressiven Artgenossen bedrängt werden, werden sie meist flüchten oder dem Aggressor ausweichen. Trainer, Reiter und Halter müssen daher anstreben, zu ihren Pferden eine eindeutige und konsistente Beziehung aufzubauen, um deren Wohl sicherzustellen. Sie sollten sich stets der möglichen Auswirkungen jenes Konzepts bewusst sein, auf dessen Basis sie ihr Training und ihre Beziehung zum Pferd gestalten."

Das Konzept einer „Dominanz" oder „Führerschaft" im menschlichen Sinn ist Pferden grundsätzlich fremd: Pferde sind äußerst soziale Tiere – und das Zusammenleben in einer sozialen Gruppe ist essentiell für ihr Überleben. Konkurrenz hinsichtlich bestimmter Ressourcen (z. B. Nahrung, Schutz etc.), die bei domestizierten Hauspferden häufiger als unter Wildpferden anzutreffen ist, kann zu agonistischem (also aggressiven oder unterwürfigen) Verhalten zwischen zwei oder mehr Gruppenmitgliedern führen. In den meisten Fällen scheint dies aber mehr eine Drohgebärde als eine tatsächliche physische Aggression zu sein. Innerhalb der Gruppe können Pferde zwar um Ressourcen konkurrieren – aber sie zeigen keinerlei Ehrgeiz, andere Gruppenmitglieder per se dominieren zu wollen. Stattdessen versuchen sie, Konflikte zu vermeiden. In bestehenden sozialen Gruppen haben die Mitglieder gelernt, welche Pferde sie vertreiben und welche sie vermeiden sollten, wenn es bei Begegnungen zu Konkurrenzen kommt. Dieses Wissen ist wahrscheinlich auf einer Vielzahl individueller Beziehungen aufgebaut – und nicht auf eine Art ,Rangordnung' zwischen allen Gruppenmitgliedern.

Was dies alles für die Ausbildung und das Training von Pferden bedeutet, fasst das ISES-Positionspapier so zusammen: „Einige Pferdeleute glauben, dass man – um den Respekt und den Gehorsam eines Pferdes zu bekommen – das ,Alphatier' sein müsse, also in der sozialen Hierarchie die Spitzenposition einnehmen müsse. Der Trainer bzw. Reiter müsse der dominierende Teil der Beziehung sein – und das Pferd der unterwürfige, gehorchende Teil. Sogar wenn Pferde tatsächlich ein derartiges Konzept mit einer ,Top-Position' in ihrer Hierachie hätten, wäre es höchst fragwürdig, ob diese Hierarchie auch Menschen einschließen würde. Zweifellos liegt derartigen Vorstellungen eine Vermenschlichung zugrunde – also unser Bestreben, menschlichen Eigenschaften wie Respekt oder Autorität auf das Pferd zu projizieren. Diese Haltung bringt aber oft mehr Schaden als Nutzen."

Und weiter: „Versuche, das Pferd zu dominieren, führen im Pferdetraining oft dazu, dass Bestrafung ermutigt und gerechtfertigt wird. Abgesehen vom möglichen negativen Auswirkungen auf das Pferdewohl leidet darunter auch die gesamte Beziehung zum Pferd. Die natürliche Reaktion eines Pferdes gegenüber einem aggressiven Individuuum wird es sein, ihm auszuweichen und weitere Begegnungen zu vermeiden. Wenn das Pferd den Trainer als Aggressor wahrnimmt, dann wird seine vorwiegende Motivation darin bestehen, den Trainer zu vermeiden. Deshalb ist es von überragender Bedeutung, dass Trainer, Reiter und Halter nicht  aggressiv auftreten, weil dies Angst und Ausweich- bzw. Fluchtverhalten beim Pferd verstärken könnte."

Zusammenfassend hält das Positionspapier fest:

– Die Beziehung des Menschen zu seinem Pferd sollte auf dem Verständnis der natürlichen Verhaltensweisen von Pferden beruhen und deren kognitive Fähigkeiten berücksichtigen bzw. verstehen;

– Das Pferdetraining sollte auf ruhige, klare und konsistente Weise durchgeführt werden und den modernen Trainingsprinzipien folgen, die in einem eigenen ISES-Positionspapier zusammengestellt wurden.

– Konzepte von Dominanz-Hierarchien, Alpha-Positionen und Führerschaft sind nichts anderes als der Versuch des Menschen, das komplexe und sehr dynamische soziale Zusammenleben von Pferden in Gruppen zu beschreiben bzw. zu interpretieren;

– Pferde interagieren miteinander hauptsächlich auf Basis einer zweiseitigen, individuellen Beziehung und nicht auf der Basis einer Rangordnung, welche alle Gruppenmitglieder umfasst;

– Wenn Pferde um eine bestimmte Ressource miteinander konkurrieren, kann eines das andere verdrängen. Das verdrängte Pferd wird daraufhin das andere vermeiden. Das vorherrschende unterwürfige Verhalten eines Pferdes ist das Vermeiden.

– Die fälschliche Ansicht, dass ein Trainer bzw. Reiter gegenüber dem Pferd in einer hierarchischen Spitzenposition (einer Alpha-Position) bzw. ein Anführer sein muss, kann einen negativen, beschädigenden Effekt auf das Pferd haben und zu Vermeidungsverhalten führen, was im Training absolut schädlich und kontraproduktiv ist;

– Dem Trainingsprozess und der gesamten Beziehung zum Pferd das Konzept einer hierarchischen Dominanz zu Grunde zu legen, gefährdet die Entwicklung einer harmonischen Partnerschaft und letztlich das Wohl des Pferdes.

Das vollständige Positionspapier der Internationalen Gesellschaft für Pferdewissenschaft (ISES) mit dem Titel „Position statement on the use/misuse of leadership and dominance concepts in horse training" kann in englischer Sprache hier nachgelesen werden.

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