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Problemzone Pferderücken: "Unsere Pferde sind überbeweglich und bindegewebsschwach!"
26.05.2020 / News

Dr. Selma Latif beim Überprüfen des Sattels, einem wichtigen Bestandteil bei der Beurteilung von Bewegungsproblemen beim Pferd.
Dr. Selma Latif beim Überprüfen des Sattels, einem wichtigen Bestandteil bei der Beurteilung von Bewegungsproblemen beim Pferd. / Foto: privat

Tierärztin Dr. Selma Latif hat sich auf Sportmedizin und Rehabilitation spezialisiert und beschäftigt sich beruflich und auch wissenschaftlich intensiv mit der „Problemzone Pferderücken". Weshalb das so ein brennendes Thema ist und warum es von vielen Pferdebesitzern und -medizinern nach wie vor unterschätzt wird, erklärt sie im folgenden Interview.

 

Fr. Dr. Latif, haben tatsächlich so viele Pferde Rückenprobleme, dass man daraus eine eigene Wissenschaft machen kann?

Dr. Selma Latif: Der Pferderücken, die biomechanischen Zusammenhänge und die Einflussfaktoren der Rückengesundheit sind wissenschaftlich noch nicht weit erforscht und die Zusammenhänge sehr komplex. Der Sattel spielt eine wichtige Rolle, daneben sind der Reiter selbst und die Reitweise wichtige Komponenten. Und nicht zu unterschätzen sind auch Aspekte wie die Haltung oder der Beschlag. So können zwei Pferde nahezu identische Probleme zeigen, die Ursachen dafür aber jeweils an ganz unterschiedlichen Orten liegen. Das macht das wissenschaftliche Arbeiten enorm schwierig.

Weshalb haben heute so viele Pferde Rückenprobleme? Ist das eine «Modeerscheinung»?

Dr. Latif: Sehr vieles, das im Moment schiefläuft, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass sich die Pferde im Laufe der Zeit von ihrem genetischen Hintergrund her stark verändert haben. Das betrifft nicht nur die Warmblüter, sondern beispielsweise auch die Isländer oder andere bewegungsstarke Rassen. Man züchtet heute grosse, attraktive Bewegungen. Ob im Springen, in der Dressur oder bei den Gangpferden - die Pferde sollen immer beweglicher werden. Diese spektakulären Bewegungen haben physiologisch zur Folge, dass der Bewegungsapparat mehr Bewegung zulassen muss. Das bedeutet konkret, dass das Bindegewebe, also der gesamte passive Halteapparat wie Faszien, Sehnen und Bänder, dehnungsbereiter sein muss. Das bringt eine gewisse «Schwäche» dieser Strukturen mit sich. Wenn diese Strukturen aufgrund ihrer Dehnungsbereitschaft nachgeben, bedeutet dies eine Mehranforderung an Muskeln, Gelenke und Knochen. Die einzigen Strukturen, die diese Überbeweglichkeit auf physiologische Weise beschränken können, sind spezifische Muskelgruppen - und die kann man trainieren.

Weshalb war das früher nicht problematisch?

Betrachtet man einen Dressur-Championatssieger aus den 1940er-Jahren und vergleicht ihn mit einem modernen Sportpferd, liegen da Welten dazwischen. Mit dem Championatspferd von 1940 müsste man heute gar nicht mehr antreten, man hätte keine Chance. Dennoch war sein Körper aus physiologischer Sicht weniger anfällig, da stabiler.

Aber auch der Reiter ist ein ganz anderer. Früher waren das mehrheitlich drahtige, eher klein gewachsene, militärisch durchtrainierte Männer, die auch in der Dressur in einem springsattelähnlichen Modell ritten. Heute ist die Pferdewelt hingegen geprägt von Reiterinnen, bei denen sich nicht nur die Beckenform, sondern auch der Trainingszustand bzw. die allgemeinen körperlichen Voraussetzungen von jenen der damaligen Reiter unterscheiden. Aus meiner Erfahrung sind viele Reiterinnen ähnlich überbeweglich wie ihre Pferde und deshalb, gerade in der Dressur, angewiesen auf passive Stabilisierungsmassnahmen wie einen möglichst tiefen Sitz und grosse Kniepauschen, damit sie die Bewegung ihres Pferdes aushalten können.

Welchen Einfluss hat das auf die Bewegung und die Gesundheit?

Das Pferd verfügt über verschiedene grosse, weitläufige Muskelgruppen wie den langen Rückenmuskel, die Backenmuskeln der Hinterhand oder die Unterhalsmuskulatur. Diese Muskeln sind eigentlich zuständig für die Bewegung: Der Unterhalsmuskel muss die jeweilige Gliedmasse vorführen, der lange Rückenmuskel die Bewegungen der Hinter- und Vorhand koordinieren usw. Diese Muskeln müssen sich also an- und abspannen, um funktionell arbeiten zu können. Das heisst, diese Muskeln können ihre eigentliche Aufgabe nicht wahrnehmen, wenn sie über längere Zeit, beispielsweise während einer Stunde, eine Halteaufgabe übernehmen müssen. Die Haltemuskeln sind ganz andere und deutlich kleinere Strukturen mit einer grossen Ausdauer, um die Wirbelsäule in einer physiologischen Position zu stabilisieren. Eine ebenso wichtige Rolle für die Stabilisierung spielt jedoch der Schultergürtel. Das sind Muskeln, die mithelfen, den vorderen Bereich des Brustkorbs anzuheben. Da das Pferd kein Schlüsselbein hat, ist die Verbindung zwischen Vordergliedmassen und Brustkorb nur über eine Art Schlinge aus Muskeln und Bindegewebe gewährleistet. Je aktiver diese Schlinge von unten drückt, desto höher kommt der Brustkorb. Ist die Schlinge jedoch inaktiv, folgen die Strukturen der Gravitation und hängen tief. Und an genau dieser überbeweglichen Schwachstelle kommt nun noch das Reitergewicht hinzu. Wenn diese Schlinge nicht oder nicht genügend aktiv als Stossdämpfer fungiert, passiert die Stossdämpfung weiter unten in der Gliedmasse, sodass Gelenke, Bänder und Sehnen stark belastet werden.

Unsere überbeweglichen, bindegewebsschwachen Pferde haben ein riesiges Spiel im Brustkorb. Das können gut mal zehn Zentimeter sein! Dieses Spiel mit der Schlingenstruktur tragen zu können, ist um ein Vielfaches anstrengender als früher, als diese Beweglichkeit im Brustkorb noch kaum vorhanden war. Kommt dann noch der enorme Schub aus der Hinterhand der modernen Sportpferde hinzu, wird das vordere Bewegungszentrum stark herausgefordert.

Wie kann das Pferd diese Überbeweglichkeit denn stabilisieren?

In der freien Natur reagiert das Pferd mit dem Fluchtmodus: Es streckt den Kopf hoch, blockiert den langen Rückenmuskel und den Unterhals und läuft so über zwei Kilometer in gestrecktem Galopp geradeaus – es ist physisch und psychisch angespannt. Dann bleibt es stehen und senkt den Kopf zum Grasen. Da werden dann nur die passiven Strukturen wie das lange Nacken-Rücken-Band und die Faszien angesprochen. Das darf keine oder kaum Muskelkraft brauchen, denn diese Haltung soll es während vielen Stunden am Tag einnehmen können. Aber das ist keine Dehnungshaltung, wie man sie aus der Reitlehre kennt, sondern eine physische und psychische Entspannungshaltung. Weder das eine noch das andere können wir für das Reiten gebrauchen. Dort wünschen wir uns die psychische Entspannung und die physisch korrekte Anspannung.

Dennoch haben viele Reiter gemerkt, dass die negative Spannung des Fluchtmodus dem hypermobilen Pferd eine gewisse Stabilität gibt. Das passiert nicht nur beim nach oben gestreckten Hals, sondern auch bei einer zwanghaften Überzäumung: In beiden Fällen ist die Halswirbelsäule in einer S-Form, die nur durch Bewegungsmuskeln in dieser Haltung stabilisiert werden kann. Diese Fehlhaltung kann beim Reitpferd längerfristig gesundheitliche Probleme hervorrufen. Insbesondere der Übergang von der Hals- zur Brustwirbelsäule wird übermässig beansprucht und kann sich arthrotisch verändern. Auch in der Brustwirbelsäule sind Kissing Spines, Arthrosen und Spondylosen der Wirbelkörper mögliche Folgen einer fehlerhaften Körperhaltung. All diese krankhaften Veränderungen sind unter dem Strich Versuche des Körpers, Stabilität zu erlangen.

Welche Haltung wäre gesund für das Pferd?

Die Haltung, die wir unter dem Reiter brauchen, finden wir auch in der Natur, nämlich beim Imponiergehabe: Das Pferd wölbt sich im Rücken auf, macht die Oberlinie lang und kippt das Becken ab. Es entsteht eine elastische Spannung in der Oberlinie, bei der das Pferd den Brustkorb anheben und mit den Hinterbeinen unter den Schwerpunkt treten kann. Die Pferde sind weder «elektrisch» und auf der Flucht, noch stehen sie bildlich gesprochen auf der Handbremse. Die Bewegungsenergie fliesst funktionell durch den ganzen Körper. Wie genau die Pferde darauf reagieren, wenn sie nicht genügend funktionell stabilisiert sind, ist individuell. So gibt es Pferde, die aus Unvermögen, in einer korrekten Haltung bergab zu gehen, einfach bergab rennen, andere wiederum deuten an, nicht bergab gehen zu wollen. Der Umgang mit der Überbeweglichkeit ist bestimmt auch eine Frage des Charakters.

Die korrekte Stabilisierung mit aktivem Schultergürtel, getragenem Brustkorb und unter den Schwerpunkt tretender Nachhand lässt sich sowohl in einer Dehnungshaltung wie auch in der Versammlung erreichen. Diese positive Spannung sollte im Sport auf jeder Leistungsstufe beibehalten werden können, sie ist nicht auf Jungpferde und GA-Niveau beschränkt. Wichtig ist aber auch, dass man Stabilität nicht mit Steifheit verwechselt - ein stabiles Pferd hat aufgrund der frei arbeitenden Bewegungsmuskulatur einen grossen Bewegungsumfang, wo hingegen das steife Pferd seine Stabilität durch eine Anspannung der Bewegungsmuskulatur zu erreichen versucht, was den Bewegungsumfang generell einschränkt.

Woran erkenne ich als Pferdebesitzer, ob mein Pferd ein Rückenproblem hat?

Wenn mir Pferde vorgestellt werden, sagen mir die Besitzer nicht: «Mein Pferd ist inaktiv im Schultergürtel.» Sie haben vielmehr Probleme, das Pferd zu biegen oder an den Zügel zu stellen. Sie beobachten vielleicht ein unregelmässiges Gangbild oder bemerken Abwehrreaktionen beim Satteln oder Putzen. Manchmal reagieren Pferde ausweichend beim Aufsteigen, sind unter dem Reiter unwillig, an der Longe jedoch einwandfrei. Manche Reiter kommen mit ihrem Pferd auch zu mir, weil die Ausbildung stagniert und der Trainer nicht weiter weiss.

Grundsätzlich kann jeder sehen lernen, wenn ein Pferd eine von hinten nach vorne abfallende Rückenlinie oder Kuhlen hinter dem Schulterblatt aufweist und zu wenig Oberhals bzw. einen allzu ausgeprägten Unterhals hat. Oftmals spürt man sogar ganz prominent das nach vorne und unten abgesunkene Brustbein, wenn man dem Pferd an die Vorderbrust fasst. Ein weiterer Hinweis sind vermeintlich dicke Bäuche, die jedoch nicht durch Übergewicht entstehen, sondern durch mangelnde Bauchmuskulatur, die einen wichtigen Beitrag zur Aufwölbung des Rumpfes leisten sollte. Das alles sind Warnsignale im Hinblick auf Rückenprobleme.

Der Tierarzt kann in vielen Fällen punktuell helfen, wenn das Pferd Schmerzen hat. Aber Schmerzfreiheit allein führt nicht zu einem besseren Bewegungsablauf - der muss bewusst trainiert werden, um das Übel an der Wurzel zu packen. Es gilt herauszufinden, ob eine allfällige Unregelmässigkeit im Gangbild eher mit einer muskulären Dysbalance und Fehlhaltung oder mit strukturellen Veränderungen des Bewegungsapparates in Verbindung gebracht werden muss. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass zwischendurch keine klar lokalisierbare Ursache für eine geringgradige Lahmheit gefunden werden kann.

Wenn ein Pferd so viele Schwachstellen hat, wo setzt man da als Erstes an?

Wichtig ist insbesondere, dass alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Ein Sattler kann nicht einfach einen schlecht sitzenden Sattel anpassen, wenn die Sattellage darunter mangelhaft ist. Denn so können die besten Absichten erfolglos bleiben, wenn das langjährige kompensatorische Bewegungsmuster des Pferdes nicht umgeschult wird. Auf der anderen Seite wird das Pferd den Rücken nicht anheben, wenn der Sattel beispielsweise Druck an der Widderristbasis ausübt.

Dasselbe Problem ergibt sich beim Unterricht der Reiter. Es ist toll, wenn Reiter Sitzschulungen besuchen, um sich zu verbessern. Die Erarbeitung der Grundfitness der Reiterinnen und Reiter scheint mir in diesem Zusammenhang eine wichtige Voraussetzung. Bevor ein Reiter nicht in sich stabil ist, also die eigenen Haltemuskeln aufgebaut hat, können Sitzübungen zum Ausgleichen von Asymmetrien nicht nachhaltig fruchten! Hier gibt es also Parallelen zwischen Pferd und Reiter. Auch das Pferd muss zunächst im Sinne einer veterinärmedizinischen Trainingstherapie seinen Körper funktionell stabilisieren, also sein Bewegungsmuster verändern und mittels Aufbau der nützlichen Muskeln bzw. Abbau der störenden Muskeln festigen. Erst dann kann man Asymmetrien beheben. Anders wird es schwierig, sportliche Ziele möglichst gesunderhaltend zu erreichen.

Wie beginnt man denn nun ganz konkret diese Umschulung der Bewegung?

Ich empfehle in vielen Fällen, mit dem Pferd zunächst eine gewisse Zeit vom Boden her zu arbeiten, damit es ohne Reiter die korrekte Körperhaltung in der Bewegung erreichen kann.

Sind diese Grundlagen etabliert, fängt man wieder an zu reiten. Dabei ist es manchmal ratsam, das Pferd im Schritt vom Boden her in eine positive Spannung zu bringen und nach dem Aufsitzen direkt anzutraben, denn mit dem Schwung des Trabs ist es einfacher, eine korrekte Haltung zu erreichen als im Schritt.

Der Reiter spielt bei der ,Reathletisierung' des Pferdes eine unglaublich wichtige Rolle. Ich kann als Tierärztin noch so viel am Pferd therapieren - wenn der Reiter nicht mitzieht und an seiner Reitqualität arbeitet, werden meine Bemühungen langfristig keinen Erfolg bringen. Es braucht viel Eigenverantwortung und Selbstkritik seitens der Reiterinnen und Reiter, diesen ganzheitlichen Weg zu gehen. Wenn sie aber gewillt und motiviert sind, das durchzuziehen, ist es erstaunlich, welche Verbesserungen in wenigen Monaten möglich sind.

Das Gespräch führte Cornelia Heimgartner.

Quelle: Bulletin/Organ des Schweizerischen Verbandes für Pferdesport/SVPS

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