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Die Fälle des Dr. K.: Reitunfall bei einer tierärztlichen Rittigkeitsuntersuchung
25.02.2022 / News

Der Tierarzt befand sich bei der Rittigkeitsuntersuchung außerhalb des Reitplatzes und animierte das Pferd durch Klatschen und Zurufen zum Galoppieren – wodurch das Pferd erschrak und die Reiterin zu Sturz kam.
Der Tierarzt befand sich bei der Rittigkeitsuntersuchung außerhalb des Reitplatzes und animierte das Pferd durch Klatschen und Zurufen zum Galoppieren – wodurch das Pferd erschrak und die Reiterin zu Sturz kam. / Symbolfoto: Archiv/Pixabay

Weil ihr Pferd Rittigkeitsprobleme hatte, stellte eine Pferdebesitzerin ihr Pferd einem Tierarzt zur näheren Untersuchung vor. Beim nachfolgenden Rittigkeitstest animierte der außerhalb des Reitplatzes stehende Tierarzt mit Klatschen und Zurufen das Pferd zu anhaltendem Galoppieren – wodurch das Pferd erschrak und die Reiterin in der Folge zu Sturz kam. Die Pferdebesitzerin klagte den Veterinär auf Schadenersatz. Dr. K. hatte als Sachverständiger zu klären: War das Verhalten des Tierarztes aus fachlicher Sicht korrekt – oder war ihm eine Mitschuld an dem Unfall zu geben?

 

Die Klägerin konsultierte den Beklagten in seiner Eigenschaft als Fachtierarzt für Akupunktur und Neuraltherapie, da ihr Pferd Rittigkeitsprobleme aufwies.
Anlässlich des Untersuchungstermines stellte die Klägerin dem Beklagten ihr Pferd unter dem Sattel am Reitplatz vor, wobei es ihr  nicht gelang, das Pferd anhaltend im Galopp zu halten.
Um die Bemühungen der Klägerin zu unterstützen, klatschte der, zu Untersuchungszwecken außerhalb des Reitplatzes stehende Beklagte in die Hände, schnalzte mit der Zunge und rief „Galopp“.
Da die Klägerin gerade zu diesem Zeitpunkt beim Beklagten vorbeiritt, diesen also hinter sich und ihrem Pferd hatte, kamen  für sie und ihr Pferd diese Lautäußerungen plötzlich und unvermutet; das Pferd galoppierte sofort an und bewegte sich in schnellem Tempo zuerst an der langen Seite des Reitplatzes, um sich anschließend leicht schräg über diesen in die gegenüberliegende Ecke zu bewegen, wo es eine Drehbewegung ausführte, die die Klägerin nicht mehr aussitzen konnte, daher vom Pferde fiel und sich dabei nicht unerheblich verletzte.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass sich der Beklagte, als er in die Hände klatschte und „Galopp“ rief, nicht „kunstgerecht“ (lege artis) verhielt und das „Durchgehen“ ihres Pferdes damit provoziert hat.

Das erkennende Gericht trug dem Sachverständigen auf, das Verhalten des Beklagten aus fachlicher Sicht einzuschätzen.

Befunde

Strafakt zur Sache

– Opfer P.: Währenddessen, als P. mit ihrem Pferd ritt, klatschte der Tierarzt in die Hände, um das Pferd dabei weiter beobachten zu können. Das Pferd ging in weiterer Folge durch, und im Zuge dessen stürzte P. vom Pferd und verletzte sich im Bereich des Rückens.

Der Tierarzt sagte einige Gangarten zu mir, welche ich mit dem Pferd durchführen soll. Dies tat ich. Im Zuge dessen ritt ich mit dem Pferd bei ihm vorbei. Als ich vorbei war, klatschte er in die Hände bzw. schrie lautstark „Galopp“. Auf Grund dessen erschrak das Pferd und begann panikartig mit dem Galopp. Das Pferd galoppierte etwa 30 m zur dortigen Abzäunung des Reitvierecks und stoppte abrupt. Dabei drehte sich das Pferd um 180 Grad, ich verlor den Halt im Steigbügel und stürzte mit dem Rücken – aus einer Höhe von 2 Metern – zu Boden
Weiters blieb mir durch den Sturz vorerst die Luft weg.

Dort wurde ein Bruch des zweiten Lendenwirbels sowie eine Absplitterung des Wirbels festgestellt.

–  Kompressionswirbel L2 mit geringer Impression der Deckplatte und diskreter rechtsseitiger Höhenreduzierung um etwa 5 – 10 %, hier findet sich an der rechten Oberkante auch ein partieller Kantenabriss, einem posttraumatischen Kompressionswirbel bei St. p. Sturz vom Pferd entsprechend.

– Tierarzt: Nachdem ich zuerst mit Zungenschnalzen versuchte, das Pferd zu einem längerdauernden Galopp zu motivieren, klatschte ich schließlich ein paar Mal rhythmisch in die Hände, um die geforderte Bewegung zu sehen. Dies stellt eine normale, immer wieder geübte Treibhilfe dar. Das Pferd fiel daraufhin direkt in den Galopp, die Reiterin konnte sich (weil wahrscheinlich überrascht), obwohl das Pferd nicht buckelte, nicht am Pferd halten und fiel daraufhin am Ende des Vierecks, als das Pferd abrupt stoppen musste, vom Pferd.

– Der angeklagte Tierarzt hat des Öfteren versucht, das Pferd durch Schnalzen mit der Zunge in den Galopp zu bringen – was auch erfolgte – bzw. im Galopp zu halten. Schreie welcher Art auch immer wurden vom Angeklagten niemals ausgestoßen.
Der Angeklagte hat auch nicht erst unmittelbar vor dem Vorfall – mehrmals in die Hände geklatscht und keinesfalls nur einmal unmittelbar vor dem Vorfall.
Zu Aufnahme des Galopps …. kam es auch keinesfalls „panikartig“ …. Sondern P. ritt auch eine längere Strecke als die angegebenen 30 m im Galopp.
Erst als das Pferd im Bereich einer Ecke stark verlangsamte, fiel die Klägerin vom Pferd.

– Mein Pferd, war vorher in einer Kutsche.

Gutachten des Reit-SV M. S.
–  „Es ist ebenso üblich, dass Tierärzte durch Stimmen z.B. durch Zungenschnalzen das Pferd aufmuntern bzw. treiben. Maßvolles Klatschen in die Hände ist ebenfalls ein übliches Mittel.

– Danach bremste das Pferd nach links außen schauend um die Ecke, drehte abrupt nach rechts und die Reiterin flog auf der linken Seite aus Gleichgewichtsmangel hinunter.

– Hinzuzufügen ist, dass eine Strecke von 50 m im Galopp… eine Strecke ist, innerhalb derer die Reiterin das Pferd unter  Kontrolle bringen müsste und danach keine Gleichgewichtsprobleme haben dürfte.

– Laut Aussage der Zeugin P. hatte sie während des Runterfallens den Fuß noch im linken Steigbügel, was eine Unterstützung des Gleichgewichts auf der linken Seite ergibt.

Als übliche Reithilfen …. Würde ich nennen: Zungenschnalzen, maßvolles Stimmverhalten und maßvolles „In die Hände klatschen“.

– Die Frage, ob es einem sorgfältigen Verhalten eines Tierarztes entspricht, wenn dieser ohne Absprache mit der Reiterin als Treibehilfen „Klatschen“ verwendet,  würde ich mit „ja“ beantworten, wenn dies von hinten erfolgt.

– Wenn ein Pferd mehrere Jahre in der Kutsche geführt wird, ist davon auszugehen, dass es gegenüber äußeren Einflüssen abgehärtet ist.

Die Frage, ob aus dem Reitverhalten auf ein Pferd zu schließen ist, das sich in Panik befindet, kann ich nicht beantworten, weil ich vom heutigen Standpunkt aus nicht beurteilen kann, ob das Pferd damals panisch war oder nicht. (zit. aus dem Gutachten d. SV M.S.)


Befunderhebung am Unfallort:
Die Distanz vom Beginn der Beschleunigung bis zum Ort des Sturzes 34.50 bis 40 m.

Informative Angaben der Klägerin:

– Sie war seit Dezember 20xx bis zum Unfallszeitpunkt nicht mehr dauerhaft mit dem Pferd galoppiert.

– An der bezeichneten Stelle stürmte das Pferd, für sie gänzlich unerwartet, plötzlich los, bewegte sich an der langen Seite bis etwa 10 m vor der linken oberen Ecke, dabei verlor sie den rechten Steigbügel. Das Pferd schnitt dann nach rechts in die rechte obere Ecke ab und bremste sich kurz ein; dabei wurde die Klägerin aus dem Sattel gehoben (Verlust des Gleichgewichtes). Aus der Bremsbewegung heraus machte das Pferd eine Rotation nach rechts, die Klägerin verlor nun die Balance in Richtung links außen und stürzte vom Pferd.

– In der Endlage befand sie sich etwa 2 m von der Bande entfernt.

– In ihrer Wahrnehmung entfernte sich das Pferd sodann im Galopp in Richtung Ausgang.

Sie ist Amateurreiterin, reitet seit 22 Jahren und fühlt sich als sichere Reiterin in allen drei Grundgangarten.

– Das Pferd war ein ungarischer Halbblutwallach, der von der Klägerin achtjährig angekauft worden ist. Zuvor war das Pferd im Dienste eines Gespannfahrers, der den Wallach im Zweispänner- und Vierspännersport eingesetzt hat, dies auch auf Turnieren.

– Die Klägerin hält ausdrücklich fest, dass der Grund für die Konsultation des Beklagten in einem Rittigkeitsproblem bestand, das sich dergestalt zeigte, dass der Wallach beim Antraben des Kopf hochdrückte, die Hinterhand einsank und ein Untertreten unter den Schwerpunkt ausblieb und „Galopp“ nicht das Thema war.

–  Die Klägerin hatte den Beklagten 2 bis 3 Tage nach seiner Erstintervention angerufen und mitgeteilt, dass sich das Befinden des Pferdes verschlechtert habe. Der Beklagte verwies auf den Haustierarzt.

– Der konsultierte Haustierarzt stellte eine Zerrung der Bänder beider Kniegelenke fest.

Die Klägerin hat den Beklagten von der Diagnose des Haustierarztes informiert und ihm bei dieser Gelegenheit mitgeteilt, dass das von ihm – dem Beklagten – verordnete Bewegungsprogramm nun nicht mehr durchgeführt werde.

– Die Klägerin bezweifelte am Vorfallstage den diagnostischen Wert der Vorstellung unter dem Sattel, sie wehrte sich jedoch nicht expressis verbis dagegen. Sie hatte lediglich einen Beritt in der kleinen „Reithalle“ aus Platzmangel abgelehnt, weshalb man auf den Reitplatz ging.

– Sie wärmte das Pferd auf jede Hand einige Runden im Schritt und Trab auf. Dabei war das Pferd ruhig und ohne besonderen Vorwärtsdrang.

– Der Beklagte ordnete dann – nach einem Handwechsel - einen Galopp auf der rechten Hand an, dem aber das Pferd nur immer wieder für wenige Galoppsprünge nachgekommen ist.

– Die Klägerin ritt nunmehr auf der rechten Hand, von der oberen rechte Ecke kommend, am Beklagten vorbei, als an der bezeichneten Stelle das Pferd in einem „Durchgeher-Galopp“ angaloppierte.

– Die Klägerin sei von dieser plötzlichen Vorwärtsbewegung „überfallen“ worden und verlor in der Folge den rechten Steigbügel.

– Die Aufeinanderfolge des plötzlichen Durchgehens, des Bügelverlustes und der abrupten Richtungsänderung nach rechts sei für sie so überwältigend gewesen, dass sie zu keinem ordnungsgemäßen Durchparieren des Pferdes gekommen sei.

 

Informative Angaben des Beklagten:

– Er gibt an, dass als Interventionsgrund das „Nicht-Angaloppieren unter dem Sattel“ angegeben worden war.

– Es war ihm nicht bekannt, dass der Wallach früher ein Fahrpferd war.

– Der „Bewegungsplan“, der nach der Erstintervention vom Beklagten an die Klägerin gegeben wurde, war mündlich übermittelt worden, eine Aufzeichnung dazu gibt es nicht. Das Programm wurde mit Schritt an der Hand begonnen, aber nach etwa drei Tagen beendet, weil sich die Befindlichkeit des Pferdes wieder verschlechtert hatte.

– Zum Anruf der Klägerin des Inhalts, dass der Haustierarzt die Diagnose „Zerrung der Kniescheibenbänder“ gestellt habe und das von ihm – dem Beklagten – verordnete Bewegungsprogramm nun nicht mehr durchgeführt werde, teilte der Beklagte mit, dass er diesen Anruf nie erhalten habe oder sich an ihn nicht erinnern könne.

Fest steht jedoch, dass diese Information zu Beginn der zweiten Intervention Thema war, dem Wissenstand des Beklagten entsprach und zwar schon bevor das „Vorreiten“ begonnen hat.

– Zunächst war daran gedacht, das Pferd an der Longe vorzustellen. Über Einwand der Klägerin, dass dabei wohl nicht viel zu sehen sei, schlug der Beklagte dann vor, das Pferd gesattelt und beritten zu präsentieren.

– Nach dem Sturz der Klägerin vom Pferd lief dieses in Richtung der oberen – dem Eingang gegenüber befindlichen - kurzen Seite und wurde dort von ihm (BK)eingefangen.

 

Sachverständige Fallanalyse

Die möglicherweise etwas kompliziert erscheinende Unfallrekonstruktion war aus fachlicher Perspektive nötig, um klar unterscheiden zu können, ob
– das Pferd – auf Grund der Geräuscheinwirkung durch den Beklagten – durchgegangen ist und die Verletzungen der Klägerin kausal mit diesem Durchgehen in direktem Zusammenhang stehen,
– oder ob die Klägerin ihrerseits an der bezeichneten Stelle die Beschleunigung des Pferdes selber herbeigeführt hat und in Folge dieser Beschleunigung das Pferd außer Kontrolle geriet,
– und ob die Klägerin aus fachlicher Sicht das Pferd vom Anfangspunkt der Beschleunigung bis zur Ecke, in der sie vom Pferd stürzte – einer Distanz von 34.5 m(Befundaufnahme) bis 40 m (ursprüngliche Größe des Reitplatzes) – wieder hätte unter Kontrolle bringen müssen und dergestalt den Sturz und die Verletzungsfolgen vermeiden können.

Aus der zur Analyse verfügbaren Befunde im Abgleich mit den physikalischen Gesetzen ist das Pferd mit hoher Wahrscheinlichkeit durchgegangen, wobei die Ursache dafür zunächst ausgeklammert wird.

Für diese Annahme sprechen vor allem folgende Fakten:
– Die Schwere der Verletzung der Klägerin,
– Nachvollziehbarkeit der Darstellung der Klägerin bis ins kleinste Detail,
– Mangelnde fachliche Schlüssigkeit der Darstellung des Beklagten.

Dazu im Detail:
Um die Verletzungen der Klägerin in der vorliegenden Form zu bewirken, bedarf es erheblicher Energie, die – angesichts des geringen Körpergewichts der Klägerin von 50 bis 60 kg und der Fallhöhe von ca. 165 bis 170 cm Höhe (Pferd Stockmaß 163 cm) bei einem bloßen „Herunterrutschen“ (Version des Beklagten) nicht aufgebaut werden wird.
Die kinetische Energie der Bewegung muss absorbiert werden und die Absorption dieser Energie bildet den Ursprung der Verletzung.

„Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder gleichförmigen Bewegung, solange er nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustandes gezwungen wird.“
(Erstes Newtonsches Gesetz)

Um die Kompressionsfraktur der LWS herbeizuführen, bedurfte es also einer gewissen Geschwindigkeit und einer Bremsung dieser kinetischen Energie durch den Boden.
Die Klägerin hat als Zeugin in der HV im Strafverfahren angegeben, dass das Pferd „sofort von 0 auf 100“. Durch den Aufprall auf den Boden passierte nun das genaue Gegenteil, nämlich von 100 auf 0.

Um die Klägerin aus dem Sattel zu heben und zu Sturz zu bringen, wirkten zumindest drei verschiedene Kräfte zusammen:
– die Vorwärtsbewegung am Pferd (F1)
– die Zentrifugalkraft durch die Rotation des Pferdes (F2)
– die Schwerkraft durch den Verlust der Unterstützung (F3)

„Wirken auf einen Punkt oder (starren) Körper mehrere Kräfte, so addieren sich diese vektoriell zu einer resultierenden Kraft.“
Resultierende Kraft F = F1 + F2 + F3 (Newtons Superpositionsprinzip der Kräfte)

Da das Absorptionsvermögen des Bodens gering ist, musste Energie der resultierenden Kraft in eine Verformungsenergie umgewandelt werden: der Lendenwirbel ging zu Bruch, von der Traumatisierung der Weichteile (Hämatome) abgesehen.

Die Schilderung der Klägerin über den Ablauf der „schnellen Bewegung“ ist reittechnisch nachvollziehbar und entspricht den Gesetzmäßigkeiten der Physik.

Nach dem Verlust des rechten Steigbügels kurz nach dem „Start“ verlor die Klägerin nämlich nicht das Gleichgewicht – wie dies der Reit-SV M.S sondern die Balance. Diesen Mangel konnte sie beim „Rechtsabbiegen“ des Pferdes dann noch ausgleichen, weil sie mit dem linken Bein noch im Bügel war. Erst als das Pferd dann in der Ecke abbremste und aus der Bremsbewegung eine Drehbewegung nach rechts (vergl. Galopp-Pirouette und Spin) einleitete, ging sie zusätzlich des Gleichgewichtes verlustig und wurde zusätzlich zur Vorwärtsbewegung den Gesetzen der Kombination von „Zentrifugalkraft + Schwerkraft“   entsprechend, nach links mit Drehpunkt linker Bügel aus dem Sattel geschleudert.
Bei dieser Annahme ist die Endlage am Rücken nachvollziehbar.
Dass der Reiterin danach die „Luft wegblieb“ ist nachvollziehbar.

Die Version des Beklagten ist demgegenüber fachlich kaum nachvollziehbar, und steht außerdem in diametralem Gegensatz zu seinem anschließenden Verhalten.
Der Beklagte gibt nämlich einerseits an, dass die „Reiterin rechts seitlich heruntergefallen ist, [„…ich würde eher sagen, heruntergerutscht“ zit.], um an anderer Stelle mitzuteilen, er hätte die Klägerin „5 Minuten liegen gelassen und sie gefragt, ob sie Arme und  Beine bewegen könne“[zit.]
Ein Sturz nach rechts – also nach innerhalb des Kreises der Rechtsrotation – würde bedeuten, dass eine Zentripedalkraft eingewirkt hätte, was bei einer Rotationsbewegung nach rechts ohne Hilfsmittel (Gummiband, Magnete) nicht möglich ist.
 Als Mediziner war ihm offensichtlich sofort klar, dass dies – wie es im rettungsdienstlichen Vokabular heißt – ein „Sturz aus großer Höhe“ war, der zu schweren WS–Verletzungen mit der Gefahr einer Querschnittslähmung führen kann.
Wenn jemand einfach aus dem Sattel „rutscht“, landet er auf den Füssen oder den Knien und kann bestenfalls nachher möglicherweise noch umfallen.
Die einzige Kraft, die hier wirken würde, ist die Schwerkraft.


Als „Durchgehen“ bezeichnet man in der Hippologie den Kontrollverlust über Vorwärtsdrang und Geschwindigkeit eines Pferdes. Prinzipiell kann ein Pferd in allen drei Grundgangarten durchgehen.
Das „fluchtartige Durchgehen“ ist nahezu  immer die Reaktion auf eine Bedrohung von hinten, die das „Flucht- und Beutetier Pferd“ zur Mobilisierung maximaler Energiereserven und kurzzeitiger  (30 bis 45 Sekunden) Höchstgeschwindigkeit befähigt.
Beim Durchgehen entwickelt ein Pferd ein Tempo von 30 km/h (500 m /min; 8.88 m/Sek.) bis 40 km/h (666m/min; 11.10 m/Sek.).

Der Reit- SV M.S. spricht in seinem GA zum Strafverfahren  davon, dass  „.. der Galopp im Parcours 350m/min“[zit.]   beträgt und meint hiermit den geregelten und kontrollierten Galopp bei Springturnieren niedriger Klasse; dieses Maß ist bei einem durchgehenden Pferd nicht anwendbar.

Zieht man also die „Schrecksekunde“ (Reaktionszeit) ab, so sind der Beklagten bestenfalls 4 bis 5 Sekunden geblieben, mit der Situation  
– plötzliche Vorwärtsbewegung
– Verlust des rechten Steigbügels
– Abwenden des Pferdes nach rechts
– Plötzliches Abbremsen des Pferdes
– Wendung auf der Hinterhand
– Verlust von Gleichgewicht und Balance

fertig zu werden und das Pferd unter Kontrolle, besser noch zum Stillstand zubringen.
Ein derartiges, simultanes Zusammenwirken von zeitgleichen Ereignissen ist auch für einen ausgezeichneten Reiter kaum zu bewältigen (sonst dürfte es in den hohen Klassen keine Unfälle mehr geben!)

Die hohe Energie der Vorwärtsbewegung konnte durch das Pferd nur
– in einen Sprung über das Geländer des Reitplatzes oder
– in eine Drehbewegung übergeführt werden.
Da im Springen nicht geübt, entschied sich das Pferd instinktiv für die zweite Variante.


Der ungarische Halbblutwallach war von der Klägerin im Jahre 2006 als Achtjähriger gekauft worden.
Zuvor hatte das Pferd als Fahrpferd im Zwei- und vierspännigen Gebrauch gedient und war als Turnierpferd (Turnierpferdekartei 1P64) eingesetzt. Bei Kenntnis der ungarischen Verhältnisse ist mit hoher Sicherheit anzunehmen, dass das Pferd spätestens als Dreijähriger eingefahren wurde, also in Summe fünf Jahre an der Deichsel ging, bevor er – im Besitze der Klägerin – als Reitpferd eingesetzt wurde.

Der Beklagte teilte anlässlich der Befundaufnahme mit, dass ihm diese Umstände unbekannt gewesen wären.

Aus sachverständiger Sicht ist aber dieses Wissensdefizit alleine seiner Sphäre zuzuschreiben, denn als sorgfältiger Pferdetierarzt hätte er sich bei der Diagnostik von Rückenproblemen im Rahmen der Anamnese nach dem früheren Verwendungszweck des Pferdes erkundigen müssen.

Der „Umbau“ von Fahrpferden in Reitpferde ist regelmäßig und immer mit Rückenproblemen behaftet, weil das „Ziehen eines Wagens“ andere Muskelgruppen aufbaut und beansprucht, als das „Tragen eines Reiters“. Diese Erfahrung gilt verstärkt für Pferde, bei denen die Fahrverwendung in der Zeit der Grundkonditionierung (4. bis 7. Lebensjahr) vor der Reitverwendung stand.

Außerdem hätte dem Beklagten bei Kenntnis der Anamnese „Fahrpferd“ auch klar sein müssen, dass Zwei- und Vierspänner-Pferde am Dressurviereck nicht galoppieren dürfen. (Einzig der Einspänner muss in höheren Dressuraufgabe eine Galopplektion absolvieren!)

Eine weitere Eigenheit von Fahrpferden ist hier von Bedeutung: Am Ziel der einzelnen Marathonhindernisse (Prüfung B)  sowie vor dem Ziel der Prüfung C (Hindernisfahren) werden die Pferde durch Zuruf von hinten (Fahrer am Bock) mit der plötzlichen Stimmhilfe „Komm“ oder „Galopp“ zu maximalem Tempo – einem kontrollierten Durchgehen – angeregt.

Fahrer von Pferdegespannen haben – im Gegensatz zu Reitern – keinen Körperkontakt zum Pferd und müssen deshalb Gewichtshilfen und Schenkelhilfen durch
– Leinen
– Peitsche
– Stimme
ersetzen.
Die akustische Hilfe hat beim Fahrpferd also einen anderen Stellenwert als beim Reitpferd.

Ein Pferd wird mit einer Hilfe nämlich nicht „überfallen“, sondern mit einer „halben Parade“ aufmerksam gemacht, dass in Kürze ein „Befehl“ zu erwarten ist. Die Durchführung dieser halben Parade durch den Reiter kann bei Blickwinkel von hinten nicht nachvollzogen werden.
Wie oben ersichtlich, zählen „Zungenschnalzen“ und „Händeklatschen“ nicht zu den korrekten Hilfen in der Reitlehre.
Auch wenn diese Form der Hilfengebung mancherorts in niederklassigen Reitetablissements angewendet werden, sind diese Hilfen aus gutem Grunde verpönt: Jeder vorbeigehende Spaziergänger könnte durch „Zungenschnalzen“ und „Händeklatschen“ einen Reiter in schwere Bedrängnis bringen.


ZUM AUTOR: Dr. Reinhard Kaun ist Tierarzt seit 1969 und ständig beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, der im Laufe seiner 33-jährigen Tätigkeit als Gerichtsgutachter mehr als tausend Gutachten erstattet  hat. Neben vielen Qualifikationen im Pferdesport (z.B. FEI-Tierarzt, Turnier- und Materialrichter, FEI-Steward, Dopingbeauftragter)  war er  als Fachtierarzt für Pferdeheilkunde und Fachtierarzt für Physikalische Therapie und Rehabilitationsmedizin tätig. Die „Fälle des Dr. K." haben sich tatsächlich zugetragen, wurden aber jeweils in Text und  Bildern verfremdet und anonymisiert,  womit  geltendem Medienrecht und Datenschutz vollinhaltlich genügt wird. Die Fälle wurden vom Autor um das „Fall-spezifische“ bereinigt und werden somit nun als neutraler Lehrstoff von allgemeiner hippologischer Gültigkeit  für interessierte Verkehrskreise zur Weiterbildung dargestellt.

VORSCHAU: Beim ersten Hufbeschlag eines Warmbluthengstes kam es zu einem Zwischenfall, bei dem sich das Pferd eine folgenschwere Wirbelsäulen-Verletzung zuzog. Trotz einer nachfolgenden tierärztlichen Untersuchung wurde der volle Umfang der Verletzung aber erst Monate später erkannt. Der Besitzer des Hengstes wollte klagte daraufhin den Hufschmied auf Schadenersatz – Dr. K. wurde als Sachverständiger mit dem Fall befasst.

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