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Warum nicht gebisslos? Plädoyer für das Ende der "Eisenzeit" im Pferdemaul
14.06.2023 / News

Hier die deutsche Ausführung des von Dr. Robert Cook entwickelten ,Bitless Bridle
Hier die deutsche Ausführung des von Dr. Robert Cook entwickelten ,Bitless Bridle'. / Foto: Wikimedia Commons/Hü

Der bekannte Tierarzt und Wissenschaftler Dr. Robert Cook plädiert in einem Kommentar dafür, gebissfreies Reiten in allen Pferdesportdisziplinen zuzulassen: Es sei an der Zeit, die Ära der Metallgebisse im Pferdemaul zu beenden – die weltweite Pferde-Community wäre für einen grundlegenden Wandel bereit.

 

Dr. Robert Cook, Tierarzt, Wissenschaftler und emeritierter Professor, hat sich in seiner gesamten beruflichen Laufbahn auf die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde von Pferden spezialisiert und gilt international als einer der entschiedensten und wortgewaltigsten Befürworter des gebisslosen Reitens. Er hat selbst eine gebissfreie Zäumungs-Variante (,Bitless Bridle') entwickelt und hat im Laufe seiner jahrzehntelangen wissenschaftlichen Tätigkeit eine Vielzahl bahnbrechender Arbeiten zu diesem Thema verfasst.

In einem großen und ausführlich dokumentierten Beitrag auf der Website Horsesandpeople.com.au hat Dr. Robert Cook seine wesentlichen Argumente, die für ein Ende des Zeitalters von Metallgebissen im Pferdemaul sprechen, nochmals zusammengefasst. Er bezieht sich dabei auf den jüngsten Vorstoß der ,World Bitless Association' gegenüber dem Weltverband des Pferdesports FEI, die Verwendung moderner gebissfreier Zäume im Wettbewerb zu erlauben (siehe auch unseren Artikel dazu). Dem formellen Antrag soll übrigens schon bald ein Treffen von Roly Owers, Geschäftsführer von World Horse Welfare, mit FEI-Veterinärdirektor Göran Åkerström sowie den zuständigen FEI-Funktionären folgen, um die vorgelegten Argumente und Beweise zu prüfen.

In seinem Kommentar betont Dr. Cook, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des Pferdesports gefährdet ist. Um dessen Zukunft zu sichern, ist für Dr. Cook eine Änderung der Ausrüstung unbedingt erforderlich – und zwar allen voran beim Gebiss: „Das Gebiss ist für ein Pferd genauso abstoßend wie Tageslicht für eine Fledermaus. Das Gebiss ist eine Fessel für das Maul eines Pferdes, so wie eine Handschelle eine Fessel für das Handgelenk eines Mannes ist. Es ist Zeit, das Eisenzeitalter im Pferdemaul zu beenden."

Pferde sprechen keine menschliche Sprache, so Dr. Cook – sie sind aber mit ihrer eigenen Körper- und Verhaltenssprache hervorragende Kommunikatoren. Leider werden ihre Notsignale und Hilferufe allzu oft nicht wahrgenommen bzw. richtig erkannt. Viele der Verhaltenszeichen von Gebissschmerz beim Pferd kommen so häufig vor, dass sie entweder als normal für die Pferderasse angesehen und übersehen werden – oder man glaubt, sie seien ein unveränderlicher Teil des Charakters eines Pferdes, also etwas, das einfach akzeptiert werden muss. Dieser weit verbreitete Irrtum wird treffend als „Gebiss-Blindheit“ bezeichnet. Und selbst Dr. Cook gibt zu: „Ich war 45 Jahre lang als Tierarzt und Reiter blind für das Gebiss, bevor ich es als Fremdkörper im Maul eines Pferdes erkannte."

Durch die Verwendung eines Gebisses lernt – so Dr. Cook weiter – ein junges Pferd schnell eine Fülle unerwünschter Gebiss-Vermeidungsstrategien, zum Beispiel das Aufsperren des Mauls, Kopfschütteln, das Zurückziehen der Zunge, die Zunge über das Gebiss legen und Würgen. Dr. Cook: „Versuche, die letzten drei dieser Verhaltensweisen beim Rennpferd auszurotten, haben zum häufigen Einsatz des Ringgebisses (zwei Gebisse) geführt, oft in Kombination mit der schmerzhaften Praxis, die Zunge eines Pferdes mit einem Gummiband oder Bänder aus anderen Materialien am Unterkiefer zu befestigen (also die Anwendung der vieldiskutierten ,Zungenbänder', Anm.)." Dr. Cook wendet sich scharf gegen die Anwendung dieses umstrittenen Utensils – Zungenbänder würden dem Pferd Schmerzen verursachen, den Blutfluss der Zunge unterbinen und, ebenso wie das Gebiss selbst, die sogenannte ,Lippendichtung' durchbrechen und die Atmung behindern (was mittlerweile auch durch Studien belegt ist, Anm.).

Pferde seien äußerst sensible Tiere und in hohem Maße ausdrucksvoll, so Dr. Cook. Gebisse erschrecken Pferde, machen sie nervös und neigen eher zum Erschrecken. Beim Freizeitreiten kann ein Pferd mit Gebiss scheuen, bocken, steigen, in Panik geraten und ausbrechen. Bei Wettkämpfen und Rennen führt die durch Gebisse verursachte Beeinträchtigung der Atemwege zu Kurzatmigkeit, vorzeitiger Erschöpfung und Blutungen aus der Lunge aufgrund eines Unterdruck-Lungenödems. Wie beim Erstickungstod beim Menschen verspüren Rennpferde starke Schmerzen in der Brust und ein Gefühl des Ertrinkens, wenn ihre Lungen durchnässt werden und ihr Herz zu versagen beginnt. Erst dadurch kommt es – so Dr. Cooks Hypothese – zu so häufigen Stürzen, Knochenbrüchen, ausgerenkten Gelenken und plötzlichen Todesfällen. Aktuelle Regeln verhindern, dass diese Hypothese überprüft wird, aber der plötzliche Tod durch Strangulation ist eine bekannte Ursache beim Menschen.

Der Ursprung der aktuellen Krise im Pferdesport sei, so Dr. Cook weiter, auf einen Ausrüstungswechsel in der Eisenzeit zurückzuführen. Begeistert von der Entdeckung, wie man Metall herstellen und verarbeiten kann, ersetzten damals Metallgebisse die bis dahin verwendeten Faser- und Holzgebisse – und machten das Pferd zu einer Waffe im Krieg. Seit Tausenden von Jahren ist die Verwendung des Metallgebisses „Standardpraxis“. Das Prinzip eines modernen Gebisses ist weitgehend identisch mit dem eines bronzezeitlichen Gebisses: Sein Design und seine fortgesetzte Verwendung basieren auf der irrigen Annahme, dass das Zufügen von Schmerzen ein Pferd gefügig und kontrollierbar macht. Die Beweise für durch Gebisse verursachtes Konfliktverhalten erinnern uns jedoch an das Gegenteil, so Dr. Cook: Gebissbedingter Schmerz ist die häufigste Ursache für Kontrollverlust.

Ein Pferd ist darauf programmiert, alles in seinem Maul zu meiden und abzulehnen, was weder Nahrung noch Flüssigkeit ist. Mit einem oder mehreren Gebissen zu reiten bedeutet, ein Pferd mit gepanzerten „Fingern“ ins Maul zu haken und diese aus der Ferne zu manipulieren, während Pferd und Reiter beide in Bewegung sind. Es ist, als würden wir mit einer Rute in jeder Hand „ein Pferd angeln“ und beide Leinen „anbeißen“.

Die Signale, die das Pferd empfängt, selbst von einem Reiter mit den freundlichsten Absichten, schwanken zwangsläufig in ihrem Ausmaß und reichen von leicht bis stark. vorübergehend oder länger andauernd. Die natürliche Reaktion eines Pferdes auf den Fremdkörper besteht darin, das Maul zu öffnen und die „Finger“ herausfallen zu lassen.

Dies kann jedoch nicht passieren, da das Gebiss festgeschnallt ist. Wenn ein Pferd mit Gebiss geritten wird, also unterdrückt, verletzt und belästigt wird, ist der Geist darauf konzentriert, den Schmerz zu verhindern oder zu begrenzen. Allzu schnell lernt ein Pferd viele Möglichkeiten, dies zu tun. Bisher wurden, so Dr. Cook, nicht weniger als 37 aversive Verhaltensweisen und Konfliktverhalten dokumentiert, aber noch viel mehr werden aufgedeckt, wenn gebisslose Reitbewerbe eines Tages zugelassen sein werden.

Neben den Schmerzen, die ein Gebiss verursacht, sieht Dr. Cook noch ein weiteres grundlegendes Problem, das durch Metallgebisse verursacht wird: nämlich die Beeinträchtigung der natürlichen Atemfunktion eines Pferdes, die sogar zu Erstickungsanfällen führen kann. Dies begründet Dr. Cook ausführlich: In Freiheit läuft ein Pferd mit geschlossenem Maul und versiegelten Lippen. Ein Gebiss bricht diese natürliche ,Lippendichtung' und verhindert dadurch, dass ein laufendes Pferd einen negativen atmosphärischen Druck in seiner Mundhöhle aufrechterhält. Beim freien Laufen wirkt diese entscheidende „Negativität“ wie ein Saugnapf, um den langen weichen Gaumen fest an der Zungenwurzel „festzuhalten“. Außerdem bleibt das elastische Knopfloch des weichen Gaumens „zugeknöpft“ und sorgt für eine weitere luftdichte Abdichtung um den Kehlkopf.

Zusammen stellen diese beiden lebenswichtigen Dichtungen sicher, dass die Atemwege des Rachens nicht durch einen „ungebundenen“ weichen Gaumen verstopft werden, der durch den bei jeder Inspiration erzeugten Unterdruck nach oben (dorsal) gezogen wird. Da ein Gebiss die Lippendichtung bricht, hat ein Pferd, das mit Gebiss geritten wird, Schwierigkeiten beim Atmen, d. h. es erleidet, drastisch formuliert, Strangulation. Beim Galopp kann ein instabiler weicher Gaumen wie eine nasse Decke im Sturm flattern. Darüber hinaus besitzt die Zunge die Eigenschaft eines Hydrostaten: Wie bei einem Quetschball bleibt sein Volumen unabhängig von seiner Form unverändert. Wenn ein Pferd dem Gebiss ausweicht, indem es die Zungenspitze zurückzieht, wölbt sich die Zungenwurzel nach oben und verstopft die Atemwege im Rachen zusätzlich.

Die Genickbeugung, die durch die Spannung der gebissbewehrten Zügel verursacht wird (die übliche Strategie, mit der ein Jockey ein Rennpferd in der Anfangsphase eines Rennens zurückhält), verstärkt die Schmerzen, die Erstickungsgefahr und die lebensbedrohliche barometrische Schädigung der Lunge, die dazu führt, dass Rennpferde Blutungen im Atmungstrakt erleiden. Eine belastungsbedingte Lungenblutung, eine bedauerlicherweise weitverbreitete Erkrankung bei Rennpferden mit Metallgebissen, ähnelt in der Humanmedizin einem Atemnotfall, der als „Unterdruck-Lungenödem" (negative pressure pulmonary oedema = NPPE) bezeichnet wird und durch eine Atemwegsobstruktion verursacht wird, so Dr. Cook.

Einen reibungslosen Übergang zum gebisslosen Reiten anzustoßen und zu begleiten bietet den verantwortlichen Verbänden die Möglichkeit, das Wohlergehen von Pferd und Mensch zu verbessern, die Zukunft des Pferdesports zu sichern und einen bahnbrechenden Beitrag zur Geschichte des Reitsports zu leisten, so Dr. Cooks zentrale These. Einige Verbände haben bereits Schritte in diese Richtung unternommen.

Seit vielen Jahren erlaubt etwa der Königliche Niederländische Pferdesportverband die gebissfreie virtuelle Dressur in allen Klassen außer Grand Prix. Der Pony Club Australia erlaubt auf Anfrage und im Einzelfall gebissfreie Wettbewerbe. Da die Tierschutzrichtlinien für neuseeländische Vollblutrennen von der „International Federation of Horseracing Authorities" (IFHA) übernommen wurden, bedeutet dies, dass – mit Unterstützung der IFHA – Tierschutzfragen wie die Verwendung von Peitschen, Sporen, Gebissen, Zungenbändern usw. gelöst werden müssen. Enge Nasenriemen können jetzt mithilfe des Fünf-Domänen-Modells beurteilt werden. Dies sei ein großer Fortschritt, so Dr. Cook.

Der Grundstein für einen Wandel sei jedenfalls gelegt – und die wissenschaftlichen Beweise überzeugend. Weltweit reiten bereits viele Reiter ohne Gebiss, so Dr. Cook. Der Trend zur Veränderung im Pferdesport geht stetig in Richtung Gesundheit und Sicherheit für Mensch und Pferd. Damit der Sport gedeihen kann, ist von Seiten der Pferdesportverbände Leadership dringend gefragt.

Dr. Cooks leidenschaftliches Plädoyer schließt mit der Forderung: „Einem Pferd, das laufen will, ein Gebiss einzuschnallen, ist so, als würde man einem Pferd, das gerade fressen will, einen Maulkorb anlegen. Kurz gesagt, mein Vorschlag zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Freizügigkeit des Pferdesports lautet „Emanzipation“, d. h. die Entfesselung. Sobald Reiter einen Versuch ohne Gebiss machen, schwören sie oft, nie wieder ein Gebiss in das Maul eines Pferdes zu stecken. Der stärkste Widerstand gegen die Idee, ohne Gebiss zu reiten, kommt von denen, die es noch nie ausprobiert haben. Aus diesem Grund fordere ich die Verantwortlichen auf, diese Erfahrungen selbst zu machen oder den Prozess bei anderen mitzuerleben.“

Den vollständigen Kommentar von Dr. Robert Cook mit vielen eindrucksvollen Illustrationen und Fotografien findet man hier!

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