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Die Fälle des Dr. K.: Lahmheit schon bei der Übergabe?
17.12.2022 / News

Kurz nach dem Kauf trat bei einem Reitpferd eine Lahmheit auf, die sich – nach eingehenden Untersuchungen – als Fraktur im Schulterbereich herausstellte. Doch stellt dieser Mangel auch eine dauerhafte Beeinträchtigung dar – und musste er dem Verkäufer bereits bei der Übergabe des Pferdes bekannt gewesen sein? Knifflige Fragen für Gutachter Dr. K. ...

 
Die Forensische Relevanz

 


Sachverhalt und Hergang
Die Klägerin erwarb mit Kaufvertrag vom 21.08.20xx die Stute „F“, geb. 2012, LN 04000861004xxx, um € 12.000.00 und übernahm das Pferd am 22.08.20xx. Als beim Pferde an der rechten Vorderextremität eine zunächst als Taktstörung angesprochene Lahmheit auftrat, führte die Klägerin es einer tierärztlichen Untersuchung und Behandlung zu. Obwohl dem Pferde Pausen verordnet worden waren und es - wie in der Klage formuliert – „aus der Belastung“ genommen wurde, änderte sich an der vermeintlichen Taktstörung bzw. Lahmheit nichts. Neuerliche Untersuchungen im September 20xx ergaben schließlich, dass das Pferd an einer Fraktur des Tuberculum supraglenoidale am rechten Schulterblatt leidet, die nach Einschätzung der behandelnden Tierärzte „auf Grund der Röntgenbefunde auf ein, zumindest mehrere Monate zurückliegendes Trauma, das eine Fraktur des Tuberculum supraglenoidale des Schulterblattes verursacht hat“ zurückzuführen ist.
Da nach Ansicht der Klägerin der beschriebene Mangel erheblich und nicht verbesserbar ist, kann das Pferd dem ausbedungenen Verwendungszweck nicht zugeführt werden, weshalb sie die Wandlung begehrt.
 
Gerichtlicher Gutachtensauftrag
– War das verfahrensgegenständliche Pferd zum Zeitpunkt der Übergabe zum Einsatz als Reitpferd (bedungener Gebrauch) geeignet?
– Ist ein allfälliger, bezeichneter Mangel zum Zeitpunkt der Übergabe zumindest in latenter Form vorgelegen?
– Sollte das Vorliegen eines behaupteten und bezeichneten Mangels anzunehmen sein, ist darüber auszusagen, ob dieser Mangel
    o   nach Möglichkeit heilbar ist bzw.  bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Heilung für möglich gehalten wird
    o   oder ob ein dauerhafter, somit bleibender Mangel vorliegt.
– Sollte das Vorliegen eines bezeichneten Mangels anzunehmen sein, so ist auszuführen, ob dieser der beklagten Partei bekannt sein musste.
               
Die Gutachtensauftrag fällt in die Nomenklaturen:
11.01: Klinisch – forensische Veterinärmedizin
33.08: Pferde: Haltung, Produkte, Wertermittlung  
05.35: Reiten und Pferdesport im Allgemeinen
 
Befunde aus dem Akt

./3 (Klage) Die Streitteile schlossen am 21.08.20xx einen Kaufvertrag, wonach der Beklagte der Klägerin die Stute „F“ Geburtsjahr 2012, LN 040008610044xxx  verkauft. Der Beklagte hat der Klägerin das Pferd am 22.08.20xx übergeben. Auf Grund einer Lahmheit vorne rechts war die Klägerin veranlasst, die Stute „F“ am 14.12.20xx in tierärztliche Untersuchung und Behandlung zu geben. Trotz des Umstandes, dass „F“ mehrfach aus der Belastung genommen wurde und ihr Pausen verordnet wurden, blieb es bei der Lahmheit. Die Untersuchungen ergaben schließlich, dass das Tier an einer Fraktur des Tuberculum supraglenoidale des rechten Schulterblattes leidet…
 
./17: (Klageerwiderung) Die Klägerin hat das Pferd Vorort untersuchen lassen und mit der Ankaufsuntersuchung des Pferdes den Tierarzt Dr. K. beauftragt. Die Untersuchung erfolgte am 22.08.20xx. Der Tierarzt hielt in seinem Protokoll über die Ankaufsuntersuchung fest, dass das Pferd zum Zeitpunkt der Untersuchung unauffällig ist.
 
./27: Die Klägerin begab sich daher zum Verkaufsstall S. in Deutschland. Dort hat sie das Pferd zweimal probeweise geritten, wobei ihr aufgefallen ist, dass das Pferd „humpelt“. Dies hat sie den beiden Mitarbeiterinnen des Verkaufsstalls auch mitgeteilt. Von diesen wurde der Klägerin erklärt, dass es sich um eine Taktunreinheit handle, was bei jungen Pferden, wie der Stute „F“ sein könne. Richtig ist, dass sodann eine „kleine Ankaufsuntersuchung“ durchgeführt wurde.
 
./27: Unrichtig ist, dass die Klägerin den Tierarzt Dr. K. mit der Untersuchung beauftragt hat. Vielmehr geschah dies durch Frau I. Y., damalige Betreiberin des Verkaufsstalles S.
[…]
Nach erfolgter Übergabe der Stute „F“ musste die Klägerin feststellen, dass die vermeintliche Taktunreinheit keine Besserung erfährt, sondern im Gegenteil immer auffallender wurde. Die Klägerin hat daher ihren Tierarzt konsultiert.
„F“ wurde dann für rund 6 Monate aus der Belastung genommen und geschont. Sie wurde in diesem Zeitraum nicht geritten. Anschließend wurde die Stute langsam wieder an die Belastung herangeführt und schrittweise wieder mehr geritten.
[…….]
Die „große Ankaufsuntersuchung“ ließ die Klägerin in der Tierklinik T.  durchführen und wurde in diesem Zuge bei der Belastungsprobe erneut die Lahmheit festgestellt. Der Stute wurden daraufhin Schmerzmittel verschrieben, weil auch der Verdacht im Raum stand, dass die Stute möglicherweise zu kurze Hufe habe, welche ihr Schmerzen bereiten könnten.
Bei einer Kontrolle zwei Wochen später zeigte sich jedoch keine Besserung.
[….]
Nach mehrfachen Untersuchungen konnte schließlich am 20.09.20xx eine Fraktur am rechten Schulterblatt (Tuberculum supraglenoidale) festgestellt werden.
 
Beilage./E: Tierärztlicher Befund der Pferdeklinik T. vom 20.11.20XX
Der Befund betrifft das Pferd „F“, 5 a, Stute (keine Angaben zu Rasse, Farbe und Signalement) und ist an die Klägerin adressiert.
Festgehalten wird:
– Das Pferd wurde am 14.12.20xx wegen einer Lahmheit vorne rechts, die als „leicht“ und nach Belastung bezeichnet wird, vorgestellt.
– Da die Lahmheit „inkonstant“ war, wurden keine diagnostischen Anästhesien durchgeführt.
– Auf Grund ihres jugendlichen Alters und einer aufgelockerten Struktur des Fesselträgerursprungs (Ultraschalluntersuchung) wurde die Stute für etwa 6 Monate aus der Belastung genommen.
– Ab Sommer 2017 > leichte Belastung, im Juli 2017 > geringgradige Lahmheit vorne rechts.
– Nach weiterer Pause: neuerliche Untersuchung am 20.09.20xx durch Mag. H.: Lahmheit zwischen erstem und zweitem Grad wechselnd. Diagnostische Anästhesien ließen alle Strukturen distal des Carpalgelenks ausschließen. 
Röntgen: Hochgradige Veränderungen des rechten Schultergelenks.
 
Befundaufnahme durch den Sachverständigen
Die Befundaufnahme durch den bestellten SV fand am 08.05.20xx, 13.45 Uhr bis 14.13 Uhr am Standort des Pferdes statt. Die Parteienvertreter waren darüber am 23.04.20xx per Einschreiben (und Vorab-Mail) in Kenntnis gesetzt worden. Um 13:30 Uhr teilt die Klägerin nach Rücksprache mit der Kanzlei des KV mit, dass von dieser Seite nicht interveniert wird.
Anwesend waren die Klägerin und der der Beklagte mit (subst.) Rechtsvertretung. Der SV erläuterte den Gutachtensauftrag und seine beabsichtigte Vorgangsweise. Über die Anfertigung von Foto- und Videodokumenten mit möglichen Personenabbildungen wurde informiert und kein Einwand erhoben.

Zunächst wurde die Nämlichkeit des Pferdes, die auf Grund der Übereinstimmung von Klägerin und Beklagten außer Zweifel stand, mittels des vorgelegten Pferdepasses überprüft und bestätigt.

 

Dezente Umfangsvermehrung im Bereich der rechten Schulter

 

Der SV führte dann eine Reihe von speziellen Untersuchungen durch: Strecken, Beugen und nach hinten Ziehen, Rotation der Extremität.
Beispielhaft zeigt auf Ersuchen des SV zum Zwecke der Fotodokumentation der Beklagte die Form dieser Untersuchungen. Die Untersuchungen wurden – zu Vergleichszwecken – zunächst an der linken Vorderextremität durchgeführt, im Anschluss an der rechten – erkrankten – rechten VE.
Die erhobenen Befunde waren im Vergleich nicht signifikant unterschiedlich, lediglich ein etwas früheres „Blockieren“ der extremen Streck- und Beugebewegung bzw. eine Einschränkung der Beweglichkeit im rechten Schultergelenk mit leichter Abwehrbewegung   war zu erkennen. Die Rotationen waren ohne unterschiedlichen Befund.
In der Folge wurde eine Untersuchung auf eine mögliche Krepitation im Schulterbereich durch Rotieren und gleichzeitiger haptischer Untersuchung bzw. Auskultation mit dem Elektro- Phonendoskop durchgeführt, Krepitation (Reibung) war weder zu ertasten noch zu hören.

Die anschließende Untersuchung erfolgte auf dem Reitplatz und wurde auf Video dokumentiert – die Videoaufzeichnung liegt dem GA bei und wird zum Bestandteil desselben erhoben.
In der Episode 0059 wird das Pferd zuerst auf die linke, dann auf die rechte Hand im Schritt in einem Reitplatz (20x 40 m) an der Hand geführt. Weder im Gangmaß noch im Bewegungsmuster ist eine Störung zu erkennen.
In der Episode 0060 wird das Pferd zuerst auf die linke Hand im Trab bewegt. Das Pferd ist mit Stallhalfter equipiert, daran ist die Longe befestigt. Nach einer Runde beginnen deutliche Bewegungsstörungen im Sinne einer gemischten Lahmheit vorne rechts. Dabei schwingt der Rücken relativ gut, der Schweif pendelt locker. Die Kopf-Halspartie wirkt festgehalten, das Ohrenspiel deutet auf Schmerz hin. Im Trabe auf die rechte Hand ist das Bild der Bewegungsstörung verstärkt, das Pferd nimmt entlastend den Kopf hoch, die Schmerzbehaftung wirkt verstärkt gegenüber der Bewegung auf der linken Hand.
In der Sequenz 0061 wird das Pferd auf Geheiß des SV im Sinne einer Schaukel zweimal rückwärtsgerichtet. Dabei ist zu erkennen, dass das Abfußen der rechten VE   bei der Rückwärtsbewegung geringgradig verzögert beginnt. Insgesamt ist das Rückwärtsrichten mit mittlerem Widerstand verbunden.
Eine Befundung unter Sattel und Reiter wurde aus Tierschutzgründen unterlassen.
 
Vom beauftragten Sachverständigen ergänzend und informativ befragt, geben folgende Personen freiwillig und im Beisein der Rechtsvertreter an:
 
Klagende Partei:
– Die Klägerin ist Freizeitreiterin und hat keine besonderen reiterlichen Ausbildungen oder Qualifikationen – allerdings ist sie seit Kindesbeinen bei Pferden.
– Der Transport vom Verkaufsstall zum jetzigen Standort war durch die Klägerin erfolgt, Zwischenfälle gab es dabei nicht.
– Seit das Pferd in ihrem Eigentum steht, gab es kein erkennbar traumatisches Vorkommnis beim Pferd.
– Auf die Frage: Was geschah mit dem Pferd im Zeitraum zwischen Ankauf am 21.08.20xx und dem ersten Tierarztbesuch am 14.12.20xx?
„zit. Das Pferd wurde geritten und dabei versucht, die „Taktstörung“ durch Ausbildung zu beheben. Dabei wurde sie von einem Freund, der Dressurreiter und Profi ist, unterstützt. Als die „Taktstörung“ eher schlechter wurde und in ihren Augen Lahmheitscharakter bekommen hatte, hat man einen Pferdetierarzt beigezogen.“
– Das nunmehrige Bild einer „Lahmheit“ ist optisch und qualitativ gleich mit der von Anfang an bestehenden „Taktstörung“, unterscheidet sich nur graduell in der Intensität.
– Aus der angenommenen „Taktstörung“ wurde durch die tierärztlichen Verdachtsdiagnosen eine Lahmheit, deren tatsächliche Ursache erst durch die generelle Röntgenuntersuchung im nächsten Jahr ans Licht kam.
– Die Untersuchungen, die der Tierarzt Mag. H. bei seiner Erstintervention am 14.12.20xx vorgenommen hat, glichen jenen, die der SV am heutigen Tag durchführte.
– Bei der ersten Besichtigung des Pferdes im Verkaufsstall in Deutschland wurde ihr das Pferd zunächst an der Longe mit Ausbindezügel vorgestellt – dabei waren die Taktstörungen als „humpeln“ zu erkennen.
– Diese Störungen stellte sie auch beim Proberitt fest.
– Vom SV befragt, teilt sie mit, dass die Erklärung der „Taktstörung“ durch die Mitarbeiter des Verkaufsstalles für sie überzeugend und glaubhaft gewirkt hat.
– Von den Mitarbeitern des Verkaufsstalles wurde ihr erzählt, dass sich das verfahrensgegenständliche Pferd in seiner Box einmal „schwer“ verlegt hat.
 
Beklagte Partei:
– Die einzige Erkrankung des gegenständlichen Pferdes, die ihm bekannt ist, war eine Lahmheit hinten rechts. Dies war vor dem Verkauf des Pferdes, wurde behandelt und war danach kein Problem mehr. Allerdings blieb eine kleine Schwellung bis heute, an der er das Pferd immer sofort erkennt.
– Das Pferd war im April 20xx und im Juni/Juli 20xx zur Ausbildung bei Frau Ch. Z. Davor war das Pferd durchgehend auf seinem Hof.
– Im Juli 2016 brachte er das Pferd von Frau Z.  direkt zum Verkaufsstall in Deutschland – er hat selbst das Pferd bei Z. abgeholt, verladen, nach D transportiert und dort wieder abgeladen und in eine Box gestellt – eine nähere Untersuchung des Pferdes in Bewegung erfolgte nicht, er kann also nicht mit Sicherheit sagen, ob das Pferd zu diesem Zeitpunkt frei von Bewegungsstörungen war. Beim Führen im Schritt war für ihn nichts erkennbar.
– Nach 4 Wochen stattete er im Verkaufsstall einen Besuch ab, das Pferd wurde ihm in allen drei Grundgangarten auf beiden Händen vorgeritten.
– Er wurde zu keinem Zeitpunkt über ein Vorkommnis, eine Erkrankung, eine Verletzung, eine Taktstörung oder Lahmheit in Kenntnis gesetzt oder hat davon gewusst.
 
Sachverständige Fallanalyse

Die physiologische Norm

Der beauftragte SV hat  pflichtgemäß  die Ausführungen ./AS42 und  ON 20  (Übermittlung per Post am 24.04.2018) zu den BGH Urteilen studiert und hält dazu aus fachlicher Sicht fest, dass Abweichungen von der physiologischen  Norm, sofern sie Krankheitswert besitzen und mit Schmerzbehaftung verbunden sind, über die vertretbare Variationsbreite eines abstrakten Idealzustandes hinausgehen, speziell dann, wenn die vermutete Schmerzbehaftung unabhängig von einem Verwendungszweck vorhanden ist und dergestalt die Lebensqualität eines Pferdes auch ohne Leistungserwartung negativ beeinflusst.

Irrtümlicherweise nimmt man in der Reiterwelt an, dass Taktstörungen verzeihliche Mängel wären, tatsächlich aber sind sie – neben Ausbildungsfehlern – häufig Vorboten und Prädiktoren später auftretender, auf Krankheit beruhender Lahmheit.
Vorsichthalber wird hier angeführt, dass der beliebte Terminus „Zügellahmheit“, die bei Beritt, meist in Wendungen,  auftritt,  in der Regel auch ein schmerzhaftes Geschehen (meist im Maul, Ansatz, HWS oder Aufsatz) als Ursache hat, aber zunächst keine erkennbaren orthopädischen Gründe nachweisbar sind, weil sich das pathologische Geschehen oft noch nicht erkennbar an Strukturen manifestiert hat.
 
Pathophysiologie des Verfahrensgegenständlichen Pferdes

Der pathologische Befund, der an der Pferdeklinik T. schlussendlich am 20.09.20xx erhoben und zur Diagnose und Lahmheitsursache erhoben wurde, bezieht sich auf die sogenannte Schulterblattbeule (Tuberculum supraglenoidale), die sich - schultergelenksnahe und prominent -an der Vorderseite des Schulterblattes darstellt und als Ursprungsfläche des M. biceps brachii dient.

Dieses Tuberculum ist eine Apophyse mit eigenem Verknöcherungszentrum, dessen Wachstumsfuge zum Schulterblatt im Alter von 9-18(20) Monaten und dessen Wachstumsfuge zur distalen Epiphyse des Schulterblatts mit 12 Monaten röntgenologisch nicht mehr nachweisbar ist [Wissdorf/Gerhards u.a.: Praxisorientierte Anatomie und Propädeutik des Pferdes; 3.; 501; M.& H. Schaper]. 
Apophysen sind bei der Verknöcherung auftretende Nebenkerne, die sich später zu Knochenvorsprüngen (Tuberculum; lat. Kleiner Höcker) entwickeln und als Ansatz von Muskeln und Bändern dienen- im vorliegenden Fall dient das Tuberculum supraglenoidale als Ursprung des Musculus biceps brachii.

 

Traumatische Insulte, die mit gewisser Stärke auf ein derartiges Verknöcherungszentrum wirken, können Ossifikationsstörungen mit pathologischer Bildung von Knochensubstanz (Exostosen) bewirken, die hinsichtlich der Belastbarkeit der Knochenstruktur, aber auch durch mechanische Funktionsstörungen negative Folgen haben können.
Eine klassische Verletzung, manchmal verbunden mit Fraktur, entsteht beim Anrennen mit der Schulter und dem exponierten Tuberculum supraglenoidale gegen harte Hindernisse (Türen, Bäume, Transporter beim Verladevorgang).
 
Im Tierärztlichen Befundbericht der Pferdeklinik T. wird nach der Röntgenuntersuchung des Pferdes am 20.09.20xx festgehalten:
Hochgradige pathologische Veränderungen im Bereich des Schultergelenks im Sinne von hochgradig arthrotischen Veränderungen, insbesondere im cranialen Gelenksbereich bzw. im Bereich des Tuberculum supraglenoidale.
– In der medizinischen Einschätzung wird auf eine traumatische Ursache geschlossen, wobei das Krankheitsbild allgemein und in der Regel akut und  mit hochgradiger Lahmheit beginnend geschildert wird.

Eine mittel- bis hochgradige Lahmheit konnte jedoch in der Geschichte des Pferdes an den Vorderextremitäten nicht nachvollzogen werden, weder vor noch nach dem Verkauf.
 
Erst im Schriftsatz der klagenden Partei ON 7 wird auf AS./27 als Lahmheitsursache eine „Fraktur“ am rechten Schulterblatt angesprochen.
 
 Ergänzend ist festzuhalten, dass es sich bei vorliegendem Röntgenbefund nicht um den Zufallsbefund im Rahmen der standardisierten Kaufuntersuchung eines zunächst abstrakt als gesund vermuteten Pferdes handelt, sondern um den pathologischen Befund im Rahmen einer Lahmheitsdiagnostik.
 
Die Kriterien des Röntgenleitfadens treffen also vorliegend a priori nicht zu. Der Röntgenleitfaden ist - seinem „Vater Prof. Dr. Bodo Hersch“ folgend – ausschließlich zu Beurteilung vermeintlich gesunder Pferde im Rahmen einer Kaufuntersuchung geeignet. Für kranke oder lahme Pferde ist der an sich innerhalb der Fachwelt umstrittene Röntgenleitfaden weder geeignet noch konzipiert.
 
Da Ossifikationszentren bei noch im Wachstum begriffen Pferden, also bis zum 5.-6. Lebensjahr noch sehr sensibel sind, können sie auch auf relativ undramatische Reize wie Prellungen oder Quetschungen mit überschießenden Reaktionen antworten – es werden Exostosen oder Knochenwucherungen gebildet.
Die Klägerin schilderte anlässlich der ergänzenden, informativen Befragung durch den SV bei der Befunderhebung, dass sie durch das Personal des Verkaufsstalles über ein „starkes Verlegen“ des Pferdes in seiner Box informiert worden sei.
Unter der abstrakten Annahme, dass das verfahrensgegenständliche Pferd längere Zeit auf seiner rechten Körperseite gelegen wäre oder bei Aufstehversuchen sich die rechte Schulter geprellt hätte, könnte durch den Druck des Eigengewichtes oder eine Prellung eine Irritation von Beinhaut und Knochensubstanz im Bereich des rechten Tuberculum supraglenoidale entstanden sein, aus der dann in der Folge schleichend und ohne dramatischen Beginn  das am 20.09.20xx im Röntgen festgestellte pathologische Bild sich entwickelt hat, das sich im Laufe der Zeit – speziell bei Belastung – kontinuierlich verschlechterte. 
Auch andere, unbemerkt gebliebene Traumata könnten einen ähnlichen Verlauf bewirkt haben.
 
Eine spezifische Zuordnung im Sinne von „Knochenwucherung – traumatisch oder pathophysiologisch bedingt“ oder „Fraktur – traumatisch oder pathologisch“ kann nur die Autopsie mit anschließender histologischer Untersuchung ergeben, die jedoch vorliegend von rein akademischem Interesse und mit Unsicherheiten im Hinblick auf die zeitliche Einordnung behaftet wäre.
 
Gutachten:
 
Gutachtensauftrag:
War das verfahrensgegenständliche Pferd zum Zeitpunkt der Übergabe zum Einsatz als Reitpferd (bedungener Gebrauch) geeignet?

Gutachten:
Da mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die zum Zeitpunkt der Übergabe behauptete „Taktstörung“ bereits eine „Lahmheit“ war und somit Krankheitswert mit Schmerzbehaftung vorlag, war das verfahrens-gegenständliche Pferd zum Einsatz als Reitpferd aus ethischen, medizinischen und rechtlichen (§ 5 TSchG, § 222 StGB) als nicht geeignet einzustufen.
 
Gutachtensauftrag:
Ist ein allfälliger, bezeichneter Mangel zu Zeitpunkt der Übergabe zumindest in latenter Form vorgelegen?

Gutachten:
Aus der Summe von anamnestischen Erhebungen, medizinischen Untersuchungen und Krankheitsentwicklung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die pathologischen Veränderungen in der Knochenstruktur des rechten Tuberculum supraglenoidale sowie der Umgebung des rechten Schultergelenks schon zum Zeitpunkt der Übergabe zumindest in der Wurzel vorgelegen haben.
 
Gutachtensauftrag:
Sollte das Vorliegen eines behaupteten und bezeichneten Mangels anzunehmen sein, ist darüber auszusagen, ob dieser Mangel
    o   nach Möglichkeit heilbar ist bzw.  bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Heilung für möglich gehalten wird
    o   oder ob ein dauerhafter, somit bleibender Mangel vorliegt.

Gutachten:
In der allgemeinen Unfallbegutachtung ist es üblich, einen Mangel dann als „dauerhaft und bleibend“ zu bezeichnen, wenn eine Heilung bzw. eine restitutio ad integrum – theoretisch - nicht innerhalb eines Jahres bewerkstelligt werden kann. 
Die Wahrscheinlichkeit für eine Heilung des Zustandsbildes im Bereich der rechten Schulter des verfahrensgegenständlichen Pferdes ist mit > unter 10 % <  zu beziffern.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt also ein dauerhafter und bleibender Mangel vor.

 
Gutachtensauftrag:
Sollte das Vorliegen eines bezeichneten Mangels anzunehmen sein, so ist auszuführen, ob dieser der beklagten Partei bekannt sein musste.

Gutachten:
Im Rahmen der Befundaufnahme und der ergänzend informativen Befragung durch den SV war aus fachlicher Sicht kein Hinweis zu gewinnen, dass der Beklagte Kenntnis über eine Taktstörung oder Lahmheit hatte. Das Pferd war zwar bis April 2016 auf seinem Hofe und unter seiner Aufsicht, aber in dieser Zeit ohne nachvollziehbaren Hinweis auf das gegenständliche Problem, anschließend war das Pferd zur Ausbildung bzw. zum Verkauf nicht mehr in seiner Obhut.
Aus sachverständiger, also fachlicher Sicht, die nicht beweiswürdigend ist, musste der klagenden Partei der bezeichnete Mangel nicht bekannt sein.

 
(Der wissenschaftlich-veterinärmedizinische Stand dieses Gutachtens entspricht dem Jahre 2018)
 
 
ZUR ERGÄNZUNG:
Horst Brindel – Mitglied des VFD -Fachbeirates Ethik und Tierschutz – mit dem der Verfasser der Artikelserie „Die Fälle des Dr. K.“ in regem fachlichem Gedankenaustausch steht, überließ mir kürzlich diese beiden Grafiken, die ich als sehr klug und hilfreich erachte. (Quelle jeweils im roten Rahmen) und die eines intensiven Studiums durch Eigentümer von Fohlen oder Jungpferden bedürfen. Die Reifung des Skeletts, die in Schüben vor sich geht, findet parallel dazu  ihre optische Abbildung in der Entwicklung des Gebisses vom Milchgebiss bis zu allen bleibenden Zähnen, die somit ein guter Indikator für  den Reifezustand eines Pferdes darstellen.
 

 

Quelle: s.o.

Erstellt 21.11.2022

 

ZUM AUTOR: Dr. Reinhard Kaun ist Tierarzt seit 1969 und ständig beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, der im Laufe seiner 33-jährigen Tätigkeit als Gerichtsgutachter mehr als tausend Gutachten erstattet  hat. Neben vielen Qualifikationen im Pferdesport (z.B. FEI-Tierarzt, Turnier- und Materialrichter, FEI-Steward, Dopingbeauftragter)  war er  als Fachtierarzt für Pferdeheilkunde und Fachtierarzt für Physikalische Therapie und Rehabilitationsmedizin tätig. Die „Fälle des Dr. K." haben sich tatsächlich zugetragen, wurden aber jeweils in Text und  Bildern verfremdet und anonymisiert,  womit  geltendem Medienrecht und Datenschutz vollinhaltlich genügt wird. Die Fälle wurden vom Autor um das „Fall-spezifische“ bereinigt und werden somit nun als neutraler Lehrstoff von allgemeiner hippologischer Gültigkeit  für interessierte Verkehrskreise zur Weiterbildung dargestellt.

HINWEIS: Sämtliche Quellennachweise sind bei Bedarf beim Autor abrufbar. Sollte an einem Quellennachweis ein Zweifel bestehen, so ist der Autor unter www.pferd.co.at zu kontaktieren.
 

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