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Die Fälle des Dr. K.: Warum ein Pferd kein "Selbstfahrer" ist
14.01.2023 / News

Der Kläger erwarb aufgrund einer Online-Anzeige ein Pferd für 4.500,– Euro, doch kam damit nicht zurecht und machte eine ganze Reihe vermeintlicher Mängel geltend, insbesondere eine große Schreckhaftigkeit des Pferdes, die entspanntes Reiten unmöglich mache. Doch das Gutachten des vom Gericht beauftragten Sachverständigen Dr. K. fiel für den Kläger ernüchternd aus ...

 
Sachverhalt und Hergang
Der Kläger kaufte auf der Basis einer Online –Anzeige Mitte August 201x das Pferd „L“ um € 4500.00, welches etwa 14 Tage später von der nunmehr Beklagten zum Kläger überstellt wurde. Ein Pferdepass wurde bei Übergabe  und trotz mehrfacher Urgenz auch später nicht übergeben.
Außerdem stellte der Kläger seiner Klage-Ausführung fest, dass das gegenständliche Pferd mit Sicherheit zumindest drei Jahre älter ist, als dies im Kaufvertrag angeführt ist.
Weiters besteht nach Meinung des Klägers auf Basis einer tierärztlichen Untersuchung der Verdacht, dass das verfahrensgegenständliche Pferd unter der Krankheit „Headshaking“ leidet.
Auch der mitgekaufte Sattel sei seiner Ansicht nach mangels Passform nicht verwendbar und wurde gegen Ankauf eines neuen Sattels in Zahlung gegeben.
 
Gerichtlicher Gutachtensauftrag
– Wie alt ist das streitbehaftete, im August 201x vom Kläger gekaufte Pferd „L“?
– Welchen Wert verkörperte das verfahrensgegenständliche Pferd zum Zeitpunkt der Übergabe an den Kläger?
– Leidet das Pferd an der Krankheit „Headshaking“ oder an einer Schreckhaftigkeit, die mit den für gewöhnlich vorausgesetzten Eigenschaften eines Pferdes unvereinbar sind?
– Im Falle einer Bejahung: war dieser Zustand bei der Übergabe schon im Ansatz vorhanden oder ist er – wie von der Beklagten vorgebracht – Folge eines Reitfehlers?
 
Der Gutachtensauftrag fällt in die Nomenklaturen:
11.01: Klinisch – forensische Veterinärmedizin
33.08: Pferde: Haltung, Produkte, Wertermittlung  
05.35: Reiten und Pferdesport im Allgemeinen. Forensische Hippologie

Befunde:

Aus dem Akt
 
./2: (Klage) Die klagende Partei hat von der beklagten Partei ca. Mitte August 201x auf Grund einer Internetanzeige das Pferd namens „L“ um den Preis von € 4500.00 gekauft.
…………..
Bei der Zustellung wurde jedoch der Pferdepass – so wie im Kaufvertrag vereinbart – nicht übergeben.
In weiterer Folge urgierte der Kläger den Pferdepass bei der Beklagten mehrmals; dieser liegt dem Kläger jedoch nach wie vor nicht vor.
Weiters musste der Kläger nach Übergabe des Pferdes feststellen, dass es mit Sicherheit zumindest drei Jahre älter als im Kaufvertrag angegeben und somit zumindest im Jahre 2003 geboren ist und dass der Verdacht besteht, dass das Pferd unter der Krankheit „Headshaking“ leidet. Darüber hinaus konnte der Kläger den von der Beklagten mitverkauften Sattel nicht verwenden, da die Passform nicht gewährleistet war.
 
./12: (Klageerwiderung) Richtig ist, dass die klagende Partei von der beklagten Partei am 08.08.201x einen Pinto-Wallach mit dem Namen „L“ privat gekauft hat.
……
Die Beklagte hat das Pferd selbst westernmäßig als Freizeitpferd geritten und gefahren.
………..
Man vereinbarte für Pferd mit Sattel und Zaumzeug einen Kaufpreis von € 4500.00….
Es handelt sich um denselben Westernsattel, mit dem die Beklagte das Pferd vor dem Verkauf selbst geritten hat ……………
……………..
Die Beklagte hat zugesagt, sie werde noch einen Equidenpass für das Pferd beantragen, da für „Lucky“ noch keiner ausgestellt war.
Dies hat die Beklagte auch getan und den Antrag samt vom Tierarzt ausgefülltem Pedigree an den OEPS geschickt.
Der Aufkleber (mit der Chip-Nummer; Anm. d. SV) wurde dem Käufer mit dem Pferd übergeben.
Im Kaufvertrag ist das Geburtsjahr des Pferdes mit 2006 richtig angegeben. Der exakte Geburtstag des Pferdes ist der Beklagten selbst nicht bekannt, sie hat das Pferd als Jährling am 08.08.200x von einem Pferdehändler erworben. Ein am Kauftag gemachtes Foto zeigt das Pferd eindeutig als „Jährling“  und nicht als dreijähriges Pferd.
Das Pferd zeigte bei der Beklagten keinerlei Untugenden, es wurde viel ausgeritten, eingespannt und auch in der Behindertentherapie eingesetzt….
Die beklagte Partei hat des Pferd „L“ im Internet inseriert und in diesem Inserat das Pferd als achtjähriges „Seelenpferd“ beschrieben.
Bei einem Besichtigungstermin waren die Gattin des Klägers und eine Bekannte des Klägers anwesend.
 
./19: (Vorbringen der klagenden Partei) Weiters musste der Kläger nach einer tierärztlichen (Zahn-)Untersuchungen feststellen, dass das Pferd sicher nicht 2006, sondern zumindest 2003 geboren ist und dass der Verdacht besteht, dass das Pferd unter der Krankheit „Headshaking“ leidet.
 
Das vom Kläger gekaufte Pferd zeigte sich bereits unmittelbar nach der Übergabe sehr schreckhaft, sodass beispielsweise eine Verladung in den Pferdeanhänger oder ein entspanntes Reiten nicht möglich ist.
Darüber hinaus konnte das Pferd mit dem von der Beklagten mitverkauften Westernsattel nicht geritten werden, da die Passform nicht gewährleistet war.
 
Der Kläger kaufte das Pferd als Freizeitpferd und beabsichtigte, dieses regelmäßig zu reiten. Dies ist jedoch auf Grund der Schreckhaftigkeit und der zum Teil unkontrollierten Bewegungen des Pferdes nicht möglich …
 
Diesen Pferdepass hätte die Beklagte beim Österreichischen Pferdesportverband (OEPS) beantragen müssen; einen dahingehenden Antrag hat die Beklagte jedoch niemals gestellt.
 
./26: Der Kläger hat der Beklagten nach dem Kauf zwei Videos geschickt, in denen das Pferd dressurmäßig von einer jungen Dame (zumeist im Trab) vorgestellt wird. 
Diese beiden Videos liegen dem SV für die Erstattung dieses GA zur Befunderhebung vor.
Als Befund kann zusammenfassend wiedergegeben werden, dass das Pferd, das vorberichtlich bisher „western style“ geritten worden ist, von seiner Reiterin in „englischer Manier“ geritten wird. Durch den Sattelknauf des Westernsattels kommt die Reiterin mit der Zügelführung nicht zurecht, das Aussitzen ist größtenteils nicht in der Bewegung des Pferdes, was dieses mit heftigem Schweifschlagen und nach unten Stechen mit dem Kopfe quittiert.
Hinweise auf ein nerval bedingtes pathologisches Bewegungsmuster sind nicht zu erkennen.
 
./30: Das Pferd „L“ zeigt sich nicht deshalb – vor allem bei Ausritten im Gelände – so schreckhaft, weil es „falsch“ geritten wird, sondern diese Schreckhaftigkeit liegt beim Pferd auch dann vor, wenn es nicht geritten wird, wie beispielsweise beim Verladen in den Pferdeanhänger.
./31: Der Kläger tauschte den von der beklagten Partei mitverkauften Sattel deshalb ein, da er ursprünglich hoffte, dass die Schreckhaftigkeit des Pferdes im Gelände abnimmt, wenn dieses mit einem passenden Sattel geritten wird.
 
Beilage ./A: Auszug aus der Internetseite „willhaben.at“ vom 06.08.201x
Folgender Eintrag führte zur Geschäftsanbahnung zwischen den Streitparteien,
festzuhalten ist daraus:
– „Seelenpferd“ Pinto Reit- und Fahrpferd
– Preis € 4000.00
– 8jähriger Pinto-Wallach, 150 cm groß
– Sehr menschenbezogen, ruhig und sehr brav, absolut nervenstark
– Verladefromm
– Sehr fein westernmäßig geritten
 
 
Sachverständige Befundaufnahme:
Die Befundaufnahme durch den bestellten SV fand am 04.09.201x von 10.30 -12.45 Uhr am Standort des Pferdes statt.
Anwesend waren die Streitparteien mit jeweiliger Rechtsvertretung sowie die Zeugin A. N. als Betreiberin des Einstellbetriebes.
Der Gutachtensauftrag wurde erläutert, Personenabbildungserlaubnis und Betretungserlaubnis für alle Personen erteilt.
Der SV verlas hierauf die schriftliche Mitteilung des Österreichischen Pferdesportverbandes in Hinblick auf das Thema Pferdepass.
Auf Befragen teilte die KV mit, dass eine, vom SV mehrfach per Mail urgierte, tierärztliche Bestätigung zu den Themen „Alter des Pferdes“ und „Headshaking“ nicht vorgelegt werden kann, weil die Annahme von „Headshaking“ nicht von einem Tierarzt, sondern aus Internetrecherchen des Klägers stamme und sich im Hinblick auf die Altersbestimmung der damals konsultierte Tierarzt nicht mehr erinnern könne.
 
In der Folge wurde das verfahrensgegenständliche Pferd vorgeführt und von den Streitparteien in der Nämlichkeit bestätigt.
Der Scheckwallach befand sich in gutem Pflege- und Ernährungszustand und wurde zur Vorstellung von einer Laufkoppel geholt, auf der er sich mit vier weiteren Pferden (2 Haflinger, 1 Fuchs, 1 Brauner) für gewöhnlich aufzuhalten pflegt.

 Der mittelrahmige Wallach mit einem StM von 150 cm (Angabe aus dem Pferdepass) ist ein drahtiges, nicht unelegantes und recht gut geformtes Pferd, ein intelligenter Typ mit starkem Eigenleben und einer gewissen Unduldsamkeit bei bestimmten Vorgängen wie z. B. der Untersuchung der Zähne zur Zahnaltersbestimmung. Der Körperbau des Pferdes, speziell seine Halsung gibt Hinweise, dass das Pferd in der Aufbauphase gut geritten worden ist.
 
Zur Zahnaltersbestimmung wurden 4 Kriterien herangezogen:
– Zustand der Kunden
– Form der Reibefläche
– Einbiß
– Galvaynsche Furche.
Die Kunden an den Zähnen des Oberkiefers waren allesamt vorhanden, die Kunden an den Zangen – und Mittelzähnen des Unterkiefers gänzlich verschwunden, an den Eckzähnen im Erlöschen. Die Form der Reibefläche war queroval bis beginnend rund. Ein Einbiss (1.Einbiss) an den Eckzähnen des Oberkiefers war noch nicht vorhanden, eine „Galvaynsche Furche“ an den Eckzähnen des OK auch nicht im Entstehen erkennbar.
Unter Berücksichtigung der bekannten Tatsache, dass der Typ „kleine und harte Pferde“ über eine besonders harte Zahnsubstanz verfügt, wurde das Pferd auf ein Zahnalter um 9 Jahre geschätzt.
 
Die Untersuchung des Rückens mit dem Fascienrad ergab ebenso wie an beiden Halsseiten eine mittelgradige Schmerzempfindlichkeit der Muskulatur.
 


 Der Wallach wurde hierauf mit Westernsattel gesattelt und mit einer D-Trense gezäumt, verbunden mit Westernzügeln.
Da der Kläger zuvor erklärt hatte, reiner Anfänger zu sein und einige Beispiele erzählt hatte, wie das Pferd unvorhersehbar seine „Schreckhaftigkeit“ äußert, ersuchte der SV zunächst die Zeugin N., die nach Angaben des Klägers über breite Reit -Erfahrung verfügt, das Pferd zu reiten.
Beim Versuch, in einem „Round Pen“ aufzusitzen, stand das Pferd zunächst nicht ruhig, zeigte Ausweichverhalten, um schließlich nach kurzer Zeit die Reiterin in den Sattel zu lassen.
Im „Round Pen“ wurde das Pferd von Zeugin A. N.  in Schritt und Trabe geritten, im Anschluss – nach Übersiedlung auf einen Reitplatz – auch im Galopp.
Über weite Strecken tritt das Pferd willig an das Gebiss heran, kaut gut und schnaubt ab. Immer wieder sticht der Wallach aber mit dem Kopfe in die Tiefe, nahezu während des gesamten Berittes ist der unruhige und rotierende Schweif auffallend.
Auf dem Weg zum Reitplatz und einmal auch auf diesem zeigte das Pferd Ungehorsam, indem es umdrehte, ließ sich aber korrigieren.
 
Sodann saß der Kläger auf, wobei hier sofort sein Stuhlsitz mit zu kurzen Steigbügeln auffiel. Es hat auch den Anschein, dass der Sattel für die benötigte Sitzfläche des Klägers zu klein ist, was ihn zur Spreizbeinigkeit und zum Stuhlsitz zwingt. Obwohl der Kläger nur im Schritt und kurz im Trabe (Leichttraben) ritt, war sofort ein verändertes Bewegungsmuster des Pferdes gegenüber der Vorreiterin auffallend. Die Schweifbewegung und das Hinunterstechen mit dem Kopfe nahmen an Heftigkeit zu.
 
Nach Abnahme des Sattels wurde dessen Länge im Verhältnis zur Tragfähigkeit des Rückens (Tragerippen) überprüft und festgestellt, dass der verwendete Sattel um etwa 10 cm zu lang ist.
Zur Besattelung ist also zusammenfassend festzuhalten, dass der nunmehr verwendete Sattel für den Rücken des Pferdes zu lang, für die benötigte Sitzfläche des Reiters zu klein ist.
Der mit dem Pferd mitgekaufte Sattel konnte nicht mehr überprüft werden.
 
Ergänzende, informative Befragung:
Kläger
– Zum Zeitpunkt des Kaufes des verfahrensgegenständlichen Pferdes war er in jeder auf Pferde bezogenen Hinsicht blutiger Anfänger, er verfügte weder über reiterliche noch über hippologische Kenntnisse;
– Er wollte sich um sein sechzigstes Lebensjahr eine Freude bereiten und suchte ein Pferd, mit welchem er – als Passagier – ausreiten könnte;
– In der Internetanzeige zum verfahrensgegenständlichen Pferd sowie nach dem Kennenlernen und Ausprobieren von „Lucky“ vermeinte er, genau dieses Pferd gefunden zu haben und fühlte sich in den ersten Tagen nach der Überstellung des Pferdes in den Stall der A. N. in seiner Hoffnung bestätigt;
– Alle Aktivitäten (Spazierengehen, Umgang, Reiten, Ausreiten) mit dem Pferd verliefen wie ein „Traum“ (OT Kläger);
– Nach und nach entwickelte das Pferd aber gewisse Widersetzlichkeiten z.B. beim Herausführen aus einer Box oder in Form von „Seitensprüngen“ beim Reiten oder Schreckhaftigkeit vor Hühnern;
– Diese Schreckhaftigkeiten und Formen des Ungehorsams folgten jedoch keinem Muster, welches eine Vorhersehbarkeit erlaubt hätte, sie traten nicht an gewissen Stellen oder in bestimmten Situationen auf und waren auch auf Wunsch nicht reproduzierbar;
– Mit dem Kopf stieß das Pferd in die Tiefe, um sich dann die Lippen an der Röhre zu reiben;
– Der Kläger versuchte Abhilfe zu schaffen durch folgende Maßnahmen:
o   Satteltausch
o   Austausch des Zaumzeugs
o   Beschlagen des Pferdes
o   Beifütterung einer Selen-haltigen Futtermischung auf Grund eines Blutbildes;
– Keine dieser Maßnahmen brachte eine positive Veränderung;
– In der Pferdegruppe springt der Wallach auf Stuten außerhalb ihrer Rosse auf und unternimmt Deckversuche, gewisse Pferde der Gruppe nimmt er ständig aufs Korn und lässt ihnen keine Ruhe;
– Der Kläger wiegt seiner eigenen Angabe zufolge 95 kg.
 
Beklagte:
– Sie hat das Pferd beim Pferdehändler G. um € 700.00 erworben und es in der Folge selber ausgebildet, wobei sie zur Unterstützung für etwa 2 Jahre einen entgeltlichen Trainer hatte;
– Im Offenstall der Beklagten stand das verfahrensgegenständliche Pferd mit 4 – 5 anderen Pferden, auch mit einem Fohlen;
– Von einzelnen Ausnahmen abgesehen wurde das verfahrensgegenständliche Pferd in seiner Besitzerzeit nur von Frauen, dabei überwiegend von Kindern geritten;
– Sie selbst gibt ihr Körpergewicht mit 65 kg an;
– In den letzten 2 Jahren ist das Pferd im Rahmen von therapeutischem Reiten auch (um die 10Mal) von einer etwa 85 kg schweren Frau, nur im Schritt, geritten worden;
– Sie fütterte auch Hafer zu.
 
 Zeugin A. N. (Im Einverständnis mit beiden Rechtsvertretern befragt)
– Bei der Besichtigung des Pferdes vor dem Kauf hat sie das Pferd auch zur Probe geritten und beim Kauf beraten;
– Die erwähnten Schreckhaftigkeiten bzw. Formen von Ungehorsam treten auch auf, wenn sie im Sattel sitzt.
– Das Pferd bekommt Müsli und manchmal ein wenig Hafer als Kraftfutter.
 
 
Sachverständige Fallanalyse

Sozialgefüge und Verhaltensmuster von Pferden
Um dem hippologischen Laien das Verständnis des vorliegenden Falles etwas zu erleichtern, soll ein kurzer Einblick in das Zusammenleben von Pferden innerhalb ihrer Spezies und mit dem Menschen vorangestellt werden.

Eines der Hauptprobleme unserer Zeit im Umgang mit Pferden liegt darin begründet, dass „Pferdemenschen“ im Aussterben begriffen sind und heute (fast) nur mehr „Menschen mit Pferden“ im Pferdesport ihre Aktivitäten ausleben – sie sind geprägt von Begriffen wie „Funktionieren auf Knopfdruck“, „Austauschbarkeit“ und „Computer- ähnlichen  Wirkungskreisen“.

Die Domestikation der Pferde hat in den letzten Jahrhunderten unter anderem die „Einzelhaltung“ von Pferden auf Ständen oder in Boxen zur Folge gehabt, um die Imponderabilien der reinen Herdenhaltung (Verletzungsgefahr, Bildung von Freundschaften, die zum „Kleben“ führen, nervende Rangkämpfe usw.) zu vermeiden.
Die grünalternative Welle im Gefolge der „achtundsechziger Bewegung“ des letzten Jahrhunderts mit Rousseaus`s frühem Schlachtruf „Zurück zur Natur“ vermeinte aber, besser zu wissen, was für Pferde gut ist und „verdammte“ in der Folge die Einzelhaltung von Pferden in Boxen als Tierquälerei und sah in der Gruppen – und Offenstallhaltung die einzig mögliche „legitime“ Haltungsform für Pferde.  Damit kehrten aber fast alle, überwunden geglaubten Probleme wieder zurück.

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Wallach „L“ aus seiner gewohnten Herde (bei der Beklagten) von 4-5 Pferden, in denen die Hierarchie klar festgelegt war und „L“ sich – nach Mitteilung der Vorbesitzerin -  im sozialen Mittelfeld befand, abrupt entfernt wurde und innerhalb weniger Stunden durch  Transport in eine neue Umgebung mit neuer Herdenstruktur (beim Kläger) verpflanzt wurde. Seit seinem Jährlingsalter hatte er keinen so tiefen Eingriff erlebt.

Sein neuer Eigentümer, nach eigener Darstellung ohne jede Erfahrung mit Pferden und grundlegender Reitprinzipien weder kundig noch mächtig,  meinte es zwar über alle Maßen gut mit ihm; es ist aber von essentiellen Verständigungsschwierigkeiten auszugehen, sein „neuer Mensch“ gab dem Pferde  nicht die Sicherheit, die sich der Wallach von seinem neuen „Leittier“ erwartete – ein Kommando-Ton alleine ist zu wenig.

In eine neue Herde verbracht, musste sich „L“ neu einzufügen lernen, und langsam seine Stellung durch Angriff und Verteidigung festigen. Da Pferde sehr farborientiert sind, war er am neuen Betrieb auf Grund seiner speziellen Scheck-Zeichnung ein Außenseiter, der sich nur durch artübliche Aggression behaupten konnte, wenn er nicht ständig degradiert werden wollte – also lebte seine Triebe aus, machte sich über Stuten her und begann andere Herdenmitglieder zu tyrannisieren. Da er vom Menschen nicht korrigiert oder zurechtgewiesen wurde, begann er behutsam auch dem Menschen gegenüber durch kleinen Ungehorsam und Frechheiten auszuloten, wo seine Grenzen wären.
Beim Beritt erwartet ein etwa zehnjähriges, solide ausgebildetes Pferd aktive Führung durch den Reiter mittels sogenannter Hilfen: Zügel, Sitz, Schenkel, Gewicht und Stimme.
Bleiben diese Hilfen jedoch aus, weil der Reiter als „passiver Passagier im Sattel“ sich darauf beschränkt, dem Pferd die Reitrichtung zu zeigen, wird das Pferd verunsichert und beginnt nach Gutdünken verschiedene Marotten zu entwickeln. Werden diese nicht sofort korrigiert, können sie – speziell bei intelligenten Tieren – schnell zu unliebsamen Verhaltensmustern ausarten.
Aus fachlicher Sicht ist es deshalb nicht zu verantworten, ohne Reitunterricht in den Sattel zu steigen, solides Erlernen des Reitsportes beginnt jedoch zunächst mit 15 bis 30 Stunden (je nach Talent des Reiters) an der Einzellonge.

Die Erfahrung lehrt jedoch, dass – bei Tieren - meist nicht nur reiner Übermut zu Untugenden führt, sondern diese auf der Basis zusätzlicher körperlicher Missempfindungen oder Schmerzen entwickelt werden.
Hier ist das, gegenüber „L's“  früheren Reitern um ein Drittel höhere Körpergewicht des Klägers, sein Sitz und die mangelhafte Passform des Sattels ins Treffen zu führen, die als klassische Antwort des Pferdes das „Hinunterstechen mit dem Kopf“, das „Festmachen des Rückens“ und das „Rotieren des Schweifes“ zur Folge haben – Anzeichen für Ungemach und   Schmerz.
 
Zum Alter des verfahrensgegenständlichen Pferdes
Sofern von einem Pferd- wie im vorliegenden Falle kein Pedigree, also ein Stammbaum, vorliegt, muss das Alter des Pferdes nach der Entwicklung des Zahnstatus geschätzt werden. Dazu gibt es von alters her eine Reihe von Merkmalen, die auf ein bestimmtes Alter hinweisen.
Im vorliegenden Falle gehen die Angaben von dem, von der beklagten Partei  angeführten Geburtsjahr  2005 bis zu dem, vom Tierarzt des Klägers behauptetem Geburtsjahr 2002, die Altersspanne reicht also zum Zeitpunkt der Befundaufnahme  von 10 bis 13 Jahren.
In diesem Altersabschnitt gibt es recht verlässliche Merkmale:
– Querovale Reibeflächen der Schneidezähne im Unterkiefer bis zu 9 Jahren – vorliegend Übergang von queroval zu rundlich;
– Verschwinden der Kunden an den Eckzähnen des Unterkiefers mit 8 Jahren - vorliegend im Laufen;
– Galvaynsche Furche an den Eckzähnen des Oberkiefers – Beginn mit 10 Jahren – vorliegend noch nicht vorhanden;
– 1. Einbiss an den Eckzähnen des Oberkiefers zwischen 9 und 12 Jahren – vorliegend ansatzweise im Entstehen.
 
Da Kleinpferde harten und trockenen Typs (wie „L“) bekanntermaßen über harten Zahnschmelz verfügen, ist eine leichte Reduktion des Erscheinungsbildes nach unten   möglich. Es wurde vom SV bei der Befundaufnahme das Zahnalter des verfahrensgegenständlichen Pferdes mit 8-10 Jahren, im Mittel mit 9 Jahren geschätzt.
Die Behauptung, dass das Pferd um drei Jahre älter wäre, kann auf Grund des gezeigten Zahnalters nicht bestätigt werden.
 
Zum „Headshaking“
Das pathologische „Kopfschütteln“ ist keine eigenständige Erkrankung, sondern vielmehr ein Symptom vieler möglicher Grundkrankheiten, die auslösend in Frage kommen können.
Im vorliegenden Falle konnte weder im Stande der Ruhe noch unter Beritt ein Erscheinungsbild erkannt werden, das unter „Headshaking“ einzuordnen wäre.
Sowohl auf den vorgelegten Videos wie auch bei der Befundaufnahme zeigte das Pferd ein Verhaltensmuster, das ohne Schwierigkeit auf die Hand und den Sitz des jeweiligen Reiters, den nicht passenden Sattel und das Reitergewicht zurückzuführen war: nach unten Stechen mit dem Kopf, Wegdrücken des Rückens und intensives Schweifschlagen. Dies sind Hinweise auf energetische Sensationen und zumindest geringe Schmerzen im Rückenkomplex, bestehend aus Wirbelsäule, Bandscheiben, Wirbel – und Rippengelenken, Bändern, Faszien und Muskeln, vermuten lassen.  Auf Grund dieser hippologisch und biomechanisch logisch ableitbaren Symptome kann aus fachlicher Sicht festgehalten werden, dass das Pferd derzeit  Rückenbeschwerden hat, die zum Zeitpunkt des Kaufes mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht vorhanden waren, folgt man den Erzählungen des Klägers über die erste Woche mit dem Pferd wie „ein Traum“.
 
Zur Wertermittlung

Von den gebräuchlichen Taxationsmodellen
– Vergleichswertverfahren
– Ertragswertverfahren
– Ersatzwertwertverfahren
ist keines für sich alleine immer geeignet, den Wert eines Pferdes zu einem definierten Zeitpunkt zu bestimmen. Im vorliegenden Fall wird auf das Ersatzwertverfahren und das Vergleichswertverfahren zurückgegriffen, weil ein freizeitmäßig genutzter Wallach keinen Ertrag erwirtschaftet, im Gegensatz z.B. zu einem Deckhengst oder einer Zuchtstute.
 
Ersatzwertverfahren:
Für die Bestimmung der üblichen Aufwendungen, die als Grundlage für einen Ersatz des verfahrensgegenständlichen Pferdes dienen können, wird einerseits der bekannte Kaufpreis als Jährling zugrunde gelegt, andererseits die, in der Literatur üblichen Sätze für Aufzucht, Ausbildung und Haltung angewendet.
 
Kaufpreis als Jährling                                           €         700.00
Aufzucht von 1-4 jährig                          ~         €          3200.00
Ausbildung (6 Monate)                          ~         €          4500.00
Haltung 4 – 8 jährig                                  ~        €          10.500.00
 
Die jeweiligen Kosten im Lebensabschnitt setzen sich zusammen aus: Futterkosten, Impfungen, Wurmkuren, Hufpflege, Wasser, Energie, Versicherungen und sonstiges.
Die Ausbildungskosten umfassen: Box und Beritt durch Dritte, Hufpflege, Versicherung, Ausrüstung.
In Summe kann von Aufwendungen bis zum achten Lebensjahr des Pferdes in der Höhe von € 18.900.00 ausgegangen werden.
 
Vergleichswertverfahren:
Pferde, die in Alter, Größe, Konstitution, Geschlecht und Farbe dem verfahrensgegenständlichen Wallach entsprechen, wechseln zu Preisen in der Höhe von € 3.000.00 bis € 8.000.00 den Besitzer, wobei die große Spanne einerseits durch Liebhaberei hinsichtlich der Farbe und Zeichnung entsteht und andrerseits durch den Gesundheitszustand bestimmt wird.  Wert und Preis gehen beim Pferdehandel selten konform und werden durch manche Imponderabilien beeinflusst. Werterhöhend wirkt, dass das Pferd nicht nur als Reit-Pferd sondern auch als Fahr-Pferd ausgebildet ist, unabhängig davon, ob dies für den neuen Eigentümer von Bedeutung ist.
Auf Grund der persönlichen Inaugenscheinnahme des verfahrensgegenständlichen Pferdes anlässlich der Befundaufnahme kann aus sachverständiger Sicht (ohne tierärztliche Kaufuntersuchung und bei Annahme von üblicher Gesundheit) der Wert des Pferdes in Höhe des, vom Kläger  entrichteten Kaufpreises von € 4000.00 schlüssig nachvollzogen werden.

Wenn der Kläger nunmehr voraussichtliche Kosten z.B. für eine tierärztliche Untersuchung, ein Blutbild, Physiotherapie und Zusatzfutter oder Medikamente beklagt, so ist dem aus fachlicher Sicht entgegenzuhalten, dass die Notwendigkeit für diese Aufwendungen mit hoher Wahrscheinlichkeit seiner Sphäre zuzurechnen ist.
 
Gutachten:

– Wie alt ist das streitbehaftete, im August 2014 vom Kläger gekaufte Pferd „L“?

Gutachten:
Die Zahnaltersschätzung im Zuge der Befundaufnahme ergab ein Zahnalter im Durchschnitt der Bewertungskriterien von 9 Jahren; das Geburtsjahr 2005 ist mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig.
 
– Welchen Wert verkörperte das verfahrensgegenständliche Pferd zum Zeitpunkt der Übergabe an den Kläger?

Gutachten:
Bei Anwendung des Ersatzwertverfahrens wurden von der Beklagten für das verfahrensgegenständliche Pferd bis zum Verkauf etwa € 18.900.00 aufgewendet, im Vergleichswertverfahren mit einem, in den wesentlichen Eigenschaften grob vergleichbarem Pferd ergibt sich in Abhängigkeit von den Individualeigenschaften ein Rahmen   € 3000.00 bis 8000.00.
Der vom Kläger entrichtete Kaufpreis an die Beklagte in der Höhe von € 4000.00 ist als Wert des Pferdes zum Zeitpunkt der Übergabe schlüssig nachvollziehbar. 

 
– Leidet das Pferd an der Krankheit „Headshaking“ oder an einer Schreckhaftigkeit, die mit den für gewöhnlich vorausgesetzten Eigenschaften eines Pferdes unvereinbar ist?

Gutachten:
Die Erscheinungen, die im Verlaufe der Befunderhebung festgestellt werden konnten, geben keinen Hinweis auf das Vorliegen einer, zu „Headshaking“ führenden, Grundkrankheit. Das Verhaltensmuster des Pferdes fällt in die normale Bandbreite von Erscheinungen, die Pferde zeigen, wenn sie Defizit behaftet geritten werden. Die Erscheinungen schränken die normale Verwendbarkeit des Pferdes nicht ein, unter der Voraussetzung, dass das Pferd aktiv und nach den Prinzipien der Reitkunst geritten wird. Da Pferde Lebewesen sind, die bekanntermaßen auch schreckhaft sein können, ist „ein passives im Sattel sitzen“ nicht als Fehler des Pferdes, sondern als solcher des Reiters zu werten. „Selbstfahrer“ gibt es nicht!

(Der wissenschaftlich-veterinärmedizinische Stand dieses Gutachtens entspricht dem Jahre 2015)

Erstellt  14.12.2022


ZUM AUTOR: Dr. Reinhard Kaun ist Tierarzt seit 1969 und ständig beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, der im Laufe seiner 33-jährigen Tätigkeit als Gerichtsgutachter mehr als tausend Gutachten erstattet  hat. Neben vielen Qualifikationen im Pferdesport (z.B. FEI-Tierarzt, Turnier- und Materialrichter, FEI-Steward, Dopingbeauftragter)  war er  als Fachtierarzt für Pferdeheilkunde und Fachtierarzt für Physikalische Therapie und Rehabilitationsmedizin tätig. Die „Fälle des Dr. K." haben sich tatsächlich zugetragen, wurden aber jeweils in Text und  Bildern verfremdet und anonymisiert,  womit  geltendem Medienrecht und Datenschutz vollinhaltlich genügt wird. Die Fälle wurden vom Autor um das „Fall-spezifische“ bereinigt und werden somit nun als neutraler Lehrstoff von allgemeiner hippologischer Gültigkeit  für interessierte Verkehrskreise zur Weiterbildung dargestellt.

HINWEIS: Sämtliche Quellennachweise sind bei Bedarf beim Autor abrufbar. Sollte an einem Quellennachweis ein Zweifel bestehen, so ist der Autor unter www.pferd.co.at zu kontaktieren.

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