Kopfscheuheit ist ein gravierendes Problem, das sowohl für die betroffenen Pferde selbst, als auch für Menschen gefährlich werden kann. Mit den Prinzipien der Lerntheorie kann es aber gelingen, das problematische Verhalten wieder umzukehren, wie eine spezialisierte Trainerin anhand von zwei Praxisfällen erklärt.
Kopfscheue Pferde reagieren abwehrend bzw. widerwillig, wenn man sie im Bereich des Kopfes berühren möchte – es ist ein Verhaltensproblem, das mannigfaltige Ursachen haben kann und jedenfalls das Handling der Tiere massiv erschwert. Grundsätzlich sollten Pferde schon im Rahmen ihrer Grunderziehung lernen, sich bereitwillig und ohne Widerstand am Kopf, den Beinen, den Hufen etc. berühren zu lassen, damit sie sich später problemlos aufhalftern, zäumen, reiten und tierärztlich behandeln lassen. Doch in manchen Fällen können Pferde eine ausgeprägte Abneigung gegen bestimmte Kontakte entwickeln – sei es wegen körperlicher Beschwereden, schlecht sitzender Ausrüstung oder schlicht und einfach Fehler im Handling und Umgang durch den Menschen.
Die Pferdetrainerin Shawna Karrasch war mit zwei derartigen Fällen konfrontiert: Ein Pferd, das im Stall nach beiden Seiten ausgebunden war, wehrte sich vehement und überschlug sich sogar, als sein Besitzer mit einem Handtuch Schmutz von seinem Gesicht wischen wollte. Ein anderes Pferd brauchte wochenlang täglich fünf orale Dosen eines Medikaments, warf aber stets seinen Kopf außer Reichweite, wenn sich sein Besitzer mit der Tube näherte. Beide Beispiele zeigen, dass kopfscheue Pferde gefährlich im Handling und schwierig bei tierärztlichen Behandlungen sein können – beide Pferde konnten aber ihr problematisches Verhalten überwinden und sogar zu willigen, kopperativen Partnern des Menschen werden, so die auf positive Verstärkung spezialisierte Trainerin Shawna Karrasch gegenüber dem Portal TheHorse.com.
Pferde können aus vielen Gründen kopfscheu sein. „Zwei häufige Ursachen sind bereits vorhandene Schmerzen oder Angsterfahrungen“, so Lauren Fraser, Pferdeverhaltensforscherin in British Columbia, Kanada. Beides kann sich verschlimmern, wenn man einen bestimmten Körperteil berührt.
Bevor man aber einem Pferd dabei helfen kann, sich wohler zu fühlen, wenn sein Kopf und seine Ohren berührt werden, muss man zuerst herausfinden, ob körperliche Schmerzen vorliegen bzw. welches Szenario die Abwehrreaktion auslöst. Danach können sie mit Hilfe der Lerntheorie ihrem Pferd systematisch beibringen, das Berühren dieser Körperteile zu tolerieren – und im Idealfall sogar zu genießen.
Liegt ein körperliches Problem vor?
Ganz gleich, ob ihr Pferd schon seit längerer Zeit eine Abneigung gegen Berührungen im Kopfbereich hat oder ob Sie diese Verhaltensänderung erst kürzlich bemerkt haben – schließen Sie zuerst immer ein körperliches Problem aus, bevor Sie versuchen, das Verhalten zu beseitigen, so Karrasch, die betroffenen Besitzern dazu rät, eine gründliche Untersuchung durch den Tierarzt als ersten Schritt durchführen zu lassen: „Es gibt so viele Dinge, die Schmerzen und Beschwerden verursachen können. Sogar Schmerzen im Nackenbereich können dazu führen, dass ein Pferd nicht gerne am Kopf oder in der Nähe der Ohren berührt wird“, wie auch Lauren Fraser bestätigt.
Dies sind nur einige der Erkrankungen, die die Ursache sein könnten:
– Zahnerkrankungen
– Osteoarthritis im Bereich des Kiefergelenks
– Entzündungen in den Ohren des Pferdes
– Sehprobleme
– Wachstumsschmerzen aufgrund durchbrechender Zähne.
Auch unpassende Ausrüstung oder Allergien (z.B. Sommerekzem) können dafür verantwortlich sein, dass Pferde kopfscheu werden. In vielen Fällen geht das Verhaltensproblem aber darauf zurück, dass das Pferd unangenehme oder sogar schmerzhafte Erfahrungen im Umgang mit dem Menschen gemacht hat und die Berührung am Kopf daher nicht zulässt bzw. vermeiden möchte. Manche junge Pferde (und ältere, die nicht angefasst wurden) haben auch nie gelernt, Kontakt im Bereich des Kopfes zu tolerieren – was eigentlich unverzichtbarer Bestandteil der ,Grundschule’ eines Pferdes sein sollte.
Schlechte Erfahrungen und ,erlernte Ängste'
Nachdem Ihr Tierarzt körperliche Probleme ausgeschlossen oder die Schmerzquelle behandelt hat, berücksichtigen Sie die vorherigen Erfahrungen des Pferdes. Wenn das Pferd beispielsweise unterschwellige Schmerzen im Kopf- oder Nackenbereich hat, kann eine Berührung an dieser Stelle die Beschwerden verstärken. „Pferden kann durch eine einzige schlechte Erfahrung beigebracht werden, dass Dinge oder Ereignisse zu fürchten sind“, so Fraser. „Der schrittweise Abbau dieser erlernten Ängste kann viel Zeit und Mühe kosten, und es besteht immer die Gefahr eines Rückfalls. Die Angst kann zurückkehren, wenn das Pferd erneut traumatisiert wird, wenn es mit dieser Sache oder diesem Ereignis konfrontiert wird. Es braucht viel, viel weniger Zeit, um dem Pferd beizubringen, dass solche Dinge nicht beängstigend sind und sogar Spaß machen können.“
Angst kann durch fehlgeleitete Versuche entstehen, ein Pferd zu desensibilisieren. Eine korrekt durchgeführte, systematische Desensibilisierung beinhaltet die schrittweise Konfrontation mit etwas, wovor ein Tier Angst hat, auf eine Art, die keine Angst auslöst. Viele beliebte Versionen der „Desensibilisierung“ beinhalten jedoch Konfrontationsstufen, die absichtlich Angst- und Fluchtreaktionen auslösen, so Shawna Karrasch. Ein Trainer könnte zum Beispiel eine Plastiktüte in der Nähe des Pferdes schwenken und so eine Angstreaktion auslösen. Dann schwenkt der Trainer die Tüte so lange, bis das Pferd aufhört zu fliehen. Während der Trainer dies vielleicht für Desensibilisierung hält, handelt es sich in Wirklichkeit um Überflutung – eine Technik, die von Tierverhaltensexperten nicht empfohlen wird.
Verstehen, wie Pferde lernen
Pferde sind hochsensible Tiere und jede Interaktion mit ihrer Umgebung, ihren Betreuern und Trainern prägt ihr Verhalten. Die Lerntheorie bezieht sich auf die Prinzipien und Mechanismen, die dem Lernen und der Reaktion von Tieren auf Training zugrunde liegen. Pferde können auf zwei Arten lernen: operante und klassische Konditionierung. Operante Konditionierung ist im Wesentlichen Versuch und Irrtum. Das Pferd verbindet sein freiwilliges Verhalten mit Konsequenzen, die entweder erwünscht oder unerwünscht sind. Bei klassischer Konditionierung hingegen bilden Pferde unwillkürliche Assoziationen zu zwei Reizen.
Operante Konditionierung
Operante Konditionierung – vielfach auch als ,Lernen am Erfolg’ bezeichnet – führt dazu, dass Pferde ein bestimmtes Verhalten in Zukunft eher oder weniger wahrscheinlich wiederholen. Verstärkung und Bestrafung sind Teil der operanten Konditionierung, und Verhaltensweisen können positiv oder negativ verstärkt oder positiv und negativ bestraft werden. „Das sind, wohlgemerkt, keine Werturteile“, so Fraser. „Positiv bedeutet nicht gut – und negativ bedeutet nicht schlecht. Positive Verstärkung bedeutet, dass etwas hinzugefügt wird, und negative Verstärkung bedeutet, dass etwas weggenommen wird, um das Verhalten in Zukunft wahrscheinlicher zu machen.“
Für Karrasch ist positive Verstärkung die effektivste Methode, Pferden das Erlernen und Verlernen von Verhaltensweisen beizubringen – was mittlerweile auch durch zahlreiche Studien bestätigt wurde. Die Methode fügt einen Reiz hinzu, der das Pferd belohnt. Wenn sich beispielsweise ein kopfscheues Pferd entspannt, wenn Sie sein Gesicht berühren, geben Sie ihm ein Leckerli, um zu unterstreichen (zu ,verstärken’), dass dies die gewünschte Reaktion war.
Negative Verstärkung ist das genaue Gegenteil: Die Belohnung besteht darin, dass der Reiz entfernt wird. Ein klassisches Beispiel ist das Nachlassen des Drucks auf das Halfter, wenn das Pferd den Kopf senkt.
Während sowohl positive als auch negative Verstärkung das zukünftige Verhalten steigern, weil das Pferd erwünschte Konsequenzen erfährt, verringern positive und negative Bestrafung das zukünftige Verhalten, weil das Pferd unangenehme Konsequenzen erfährt. „Der Einsatz positiver und negativer Bestrafung ist nicht zu empfehlen. Oft funktioniert es nicht und manchmal kann es den Lernenden sogar verstärken. Es kann auch die Reaktionsfähigkeit steigern und das Vertrauen verringern. Dies ist offensichtlich ein sehr wichtiger Faktor bei einem kopfscheuen Pferd“, so Karrasch.
Klassische Konditionierung
Auch bekannt als pawlowsche Konditionierung, tritt klassische Konditionierung auf, wenn Pferde unwillkürlich Assoziationen zwischen Reizen herstellen. Fraser nennt das Beispiel eines Pferdes, das zuvor nicht kopf- bzw. ohrenscheu war, aber nach einem rohen Eingriff am Ohr traumatisiert war. Das Gehirn des Pferdes hat fortan eine Verbindung zwischen einer Hand, die nach seinem Ohr greift, und den darauf folgenden Schmerz hergestellt. Wenn also jemand das nächste Mal die Bewegung wiederholt (auch ohne Zucken), schützt es seine Ohren vor Berührung. Dies ist der instinktive Teil des Gehirns, der es schützt, so Fraser.
„Wenn wir ein Pferd trainieren, ob wir uns dessen nun bewusst sind oder nicht, verwenden wir diese Prinzipien der operanten und klassischen Konditionierung und bringen ihm bei, dass sein willkürliches Verhalten zu erwünschten oder unerwünschten Konsequenzen führt und dass bestimmte Situationen oder Dinge vorhersehen, dass es sich auf eine bestimmte Weise fühlt. Wenn wir die operante und klassische Konditionierung verstehen, kann uns das helfen, unsere Pferde einfühlsamer zu trainieren und zu verstehen, warum wir Ergebnisse erzielen oder nicht“, so Lauren Fraser.
Szenarien aus dem realen Leben
Im Fall des kopfscheuen Pferdes, das sich vor der Berührung mit einem Handtuch fürchtete und sich nach hinten überschlug, begann Karrasch mit der Neu-Konditionierung in einem Bereich, in dem sich das nicht angebundene Pferd sicher fühlte. Zuerst berührte sie seine Wange mit dem Handrücken. Als es dies akzeptierte, gab sie ihm ein Leckerli, markierte die positive Reaktion mit einem Klicker und bewegte sich weiter nach oben zu seinem Gesicht und zu seinen Ohren. Als Nächstes knüllte sie einen trockenen Waschlappen zusammen und wiederholte die Übung an jeder Stelle. Erst als das Pferd mit der vorherigen Arbeit zufrieden war, führte sie wieder ein volles Handtuch ein und näherte sich mit einer schnellen Bewegung seinem Gesicht. Schließlich legte sie ihn wieder in die Queranbindungen, wo er ohne Angst stehen blieb.
„Es waren keine 45 Minuten, in denen ich ihn überflutete“, so Karrasch. „Wir machten drei fünfminütige Sitzungen pro Tag – und es brauchte etwa eine Woche dafür. Es hasste die Prozedur zunächst und tolerierte sie schließlich. Aber wir wollen es nicht bei der Toleranz belassen: Ich habe mit ihm weitergearbeitet, bis ich sein Ohr mit meinem Finger massieren konnte und es seinen Kopf so hielt, als wollte er sagen: „Berühr mein Ohr.“
Einem Pferd beizubringen, eine Ohrenmassage zu akzeptieren – oder sogar zu schätzen – ist eine Sache. Wenn Sie ein Pferd haben, das Entwurmungen verabscheut, ist der Gedanke, ihm fünf Tuben orale Medikamente zu verabreichen, eine ganz andere Herausforderung. Aber es ist nicht unmöglich. Durch klassische Konditionierung und positive Verstärkung verabreichte Karrasch dem eingangs beschriebenen kranken Pferd problemlos Medikamente. Es mochte die Medikamente nicht wirklich, aber es drehte sich um und kam ihr entgegen, ohne Halfter oder Führstrick.
Wie war das möglich?
Als ersten Schritt brachte Karrasch dem Pferd bei, dass eine Tube bzw. Spritze im Maul weder schmerzhaft noch etwas ist, wovor man Angst haben muss. (Dies sollte man jedenfalls tun, bevor man ein Pferd entwurmt oder ihm Medikamente verabreichen muss.) Zuerst legte sie ihre Hand auf die Nase des Pferdes und berührt sanft seine Wange, bis es entspannt war. Dann schob sie sanft einen Finger in den Maulwinkel und verstärkte dies mit einem Leckerli, bis sie das ganze Maul problemlos berühren und dann eine Spritze bzw. Tube einführen konnte. Sie bereitete das Pferd auch auf den Geschmack vor, indem sie die Spritzen mit Apfelmus oder Karotten-Babynahrung (also Püree) füllte.
Dabei ist es wichtig, den emotionalen Zustand des Pferdes aufmerksam zu beobachten, so Karrasch. Veränderungen in seinem Augenausdruck, spitze Lippen oder Fältchen um die Nase können auf Anspannung oder Stress hinweisen. „Sie haben eine Angstschwelle – und die müssen wir sehr genau beobachten“, so Karrasch.
Behandlung des kopfscheuen Pferdes
In Notsituationen oder Fällen, in denen Sie nicht genügend Zeit haben, das Pferd so weit zu trainieren, dass es keine Angst vor der Behandlung oder einem anderen Ereignis hat, können Sie die Gabe von angstlösenden (angstlösenden) Medikamenten in Erwägung ziehen, die ein Tierarzt verschreibt, sagt Fraser.
„Solche Medikamente können helfen, die Belastung des Pferdes zu minimieren, eine Verschlimmerung der Angst zu verhindern und die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass sich auch neue Verhaltensprobleme entwickeln“, sagt sie. „Außerdem können einige Pferde mit starken Angstreaktionen während des Umlernens von täglichen angstlösenden Medikamenten profitieren. Diese können es dem Pferd erleichtern, seine Angst zu überwinden, während Gegenkonditionierung (das Erlernen einer alternativen Reaktion auf auslösende Reize) und Desensibilisierung stattfinden.“
In Situationen, in denen das Pferd Pflege braucht, aber abwehrend oder defensiv ist, hat Sicherheit immer Vorrang. Manchmal kann es notwendig sein, alles Mögliche – bis zum Fixieren des Pferdes – zu tun, um das Pferd zu behandeln, so Karrasch. Nach solchen „Katastrophen“ müsse man aber zurückgehen und mit positiver Verstärkung trainieren, um wieder „ein Gefühl von Sicherheit und Komfort zu schaffen und auf eine kooperative Pflege hinzuarbeiten“, so Karrasch: „Kooperative Pflege ist auf lange Sicht viel sicherer, und Sie tun sich selbst einen Gefallen, wenn Sie im Voraus an Dinge denken, die schwierig werden könnten, wenn Ihr Pferd einmal tatsächlich verletzt sein sollte.“