Die neuen Fälle des Dr. K.: Variationen über das Führen von Pferden 22.06.2024 / News
Aus Bequemlichkeit oder auch aus Unwissenheit – und nicht zuletzt mangels guter Vorbilder – reißen in manchen Pferdebetrieben Unsitten ein, die erhebliches Gefahrenpotenzial bergen und früher oder später zur Katastrophe führen müssen, wie ein Unfall beim Führen eines Pferdes drastisch vor Augen führt.
Man sagt, dass Pferde, die von der Natur oder vom Schöpfer besonders gezeichnet wurden, auch im Wesen besondere Persönlichkeiten wären, drei Haarwirbel auf der Stirn oder eine Muskeldelle, meist in der der Nähe des Verlaufs einer Drosselrinne, die die Wissenschaft vom Pferde als Abdruck des „Daumen des Propheten“ zu bezeichnen pflegt.
Vorbilder und Beispiele
Natürlich glaubt jeder Mensch zu wissen, welche Bedeutung dem Begriff „Vorbild“ innerwohnt – dennoch ist dessen Inhalt sehr variabel; das Bedeutungswörterbuch des DUDEN definiert: [zit.] „Person oder Sache, die als (mustergültiges) Beispiel dient“ – als sinnverwandte Begriffe werden angeführt: [zit.] „Aushängeschild, Ideal(typ), Beispiel, Identifikationsfigur, Idol u.a.m.
Unter „Beispiel“ können wir derselben Quelle entnehmen: [zit.] „Einzelner Fall, der etwas kennzeichnet, erklärt, beweist, anschaulich macht.“
Im weiteren Text werden Anwendungen des Begriffes „Beispiel“ angeführt, die bereits die ethisch-moralische Wertung ansprechen: es wird unterschieden zwischen guten und anschaulichen Beispielen und schlechten oder abschreckenden Beispielen, aber „beispielhaft“ ist ebenso angeführt wie das diametrale Gegenstück „ohne Beispiel“.
Der aufmerksame und geneigte Leser erkennt bereits, dass die Auswahl von „beispielhaften Vorbildern“ ein zutiefst individueller, von der eigenen Werteeinstellung geprägter und gesteuerter Prozess ist.
Im Umfeld von Pferden und in der „Reiterei“ finden wir Kinder, Jugendliche und noch reifende Menschen in – vermutlich – größerer Zahl als bei anderen Sportarten, woraus sich eine erhebliche Verpflichtung Erfahrener und Erwachsener zur beispielhaften Vorbildfunktion ableitet. Jahrhunderte gelebter Tradition und Praxis wurden und wird durch Nachahmen von Vorbildern weitergegeben – in gutem wie in schlechtem Sinne.
Der Vorfall:
Als die minderjährige Beklagte an einem Septembernachmittag am Pferdehof des Klägers, wo sie ihre Stute eingestellt hatte, eintraf, war der Kläger gerade im Begriff, Pferde von der Weide in den Stall zu holen. Der Wallach G. und die Stute M. der Beklagten standen bereits „abholbereit“ beim Ausgang der Weide und warteten darauf, in den Stall zu kommen; deshalb ersuchte der (spätere) Kläger, die (nunmehr) Beklagte ihm zu helfen, die beiden Pferde in den etwa 30 m entfernten Stall zu ihren Boxen zu führen. Der Kläger erfasste den Wallach G. am Stallhalfter und führte das Pferd mit der rechten Hand an seiner rechten Seite. Hinter ihm ging die Beklagte, die ihre Stute M. in der gleichen Art und Weise am Stallhalfter führte. Wenige Meter vor dem Stalleingang riss sich die Stute M. von der Beklagten los, lief in Richtung des Stalles und der Boxen der beiden Pferde – und trampelte dabei den Kläger von hinten nieder und verletzte ihn schwer.
Die Befunde: (jeweils Zitat, wenn in Anführungszeichen)
– (Klage): „Auf Grund unsachgemäßer Führung – die Beklagte benutzte für das Hereinbringen des Pferdes keine Führleine – riss sich das Pferd der Beklagten los……..“
– (Klageerwiderung): „Meist hatte der Kläger die Pferde allein von den Stallungen zur Koppel laufen lassen und – später – auch wieder zurück. Die Pferde sind dann in ihre Boxen hineingelaufen, der Kläger hat sie dort dann verwahrt und gefüttert.“
– (Zeugin Ehefrau des Klägers): „Die Pferde werden von uns einzeln zu den Koppeln geführt, dazu werden sie am Halfter gehalten.“
– (Zeugin Mutter der Beklagten): „Der Kläger hat die Pferde teilweise hinausgeführt, teilweise hat er sie laufen lassen.“
– (Kläger): „Wir führen die Pferde ausschließlich vom Stall auf die Koppel, von selber laufen die Pferde nie auf die Koppel. Die Pferde werden dabei jeweils am Halfter geführt….
Nach dem Vorfall ist mein Pferd G. ebenfalls alleine in den Stall gerannt.
Das hintere Pferd ist mir direkt in den Rücken gelaufen…
– Es kommt auch vor, dass die Pferde von selber von der Koppel in die Boxen laufen…..
– Wir führen die Pferde ausschließlich am Halfter hinaus und herein…eine zusätzlich Leine verwenden wird dabei nicht.“
– (Zeugin Sch.): „… Plötzlich hat sich das Pferd M. losgerissen und ist nach vorne gestürmt…..
Diese Pferde gelangen meist von selber ohne Führung in ihre Boxen.“
– (Beklagte): „Richtig ist, dass die Pferde von der Koppel eigentlich von selbst in Richtung Stall und Boxen gerannt sind.“
– Verletzungsmuster des Klägers: „Mehr-etagige Trümmerfraktur am rechten Oberarm, punktförmig offen, im Bereich des dorsomedialen Oberarm-Anteiles bläulich verfärbte Prellmarken.“
Befundaufnahme am Unfallort durch den SV:
– Im Zuge der ergänzenden informativen Befragung räumt der Kläger ein, dass die Pferde von den Koppeln meist selbstständig in ihre Boxen laufen.
– Das Pferd G. (Wallach, WB, 15 a, 165 cm Stm) ist zu diesem Zeitpunkt unbeschlagen und problemlos vom Kläger zu führen.
– Die Stute M. (15 a, WB, 167 cm Stm.) entzieht sich, von der Beklagten am Stallhalfter mit der rechten Hand geführt – mit zusätzlichem Führstrick in der linken Hand gesichert – kurz der Kontrolle und läuft in Richtung einer Weide; dort holt sie die Beklagte und führt sie anschließend unter korrekter Handhabung der Führleine problemlos zum Reitplatz, wo sie einige Runden ohne Kontrollverlust oder Widersetzlichkeit geführt wird.
– Die Stute M. ist zur Zeit nicht beschlagen und war dies nach Angabe der Beklagten auch zum Unfallzeitpunkt.
Analyse und fachliche Wertung der Befunde:
Unter „Good Equine Practice“ versteht man einen Codex an Verhaltensregeln im Umgang mit Pferden und deren Umfeld, den man früher als „horsemanship“ bezeichnete. Darunter ist eine nirgendwo detailliert aufgeschriebene und für niemanden verpflichtende - auf Erfahrung beruhende Umgangsweise mit Pferden zu verstehen, die - einerseits – das Pferd fair als Sportkamerad ansieht, und die – andrerseits – darauf abzielt, den Verkehr mit Pferden risikoarm und sicher zu gestalten und tägliche Handlungsabläufe auch nonverbal reproduzierbar zu etablieren.
Viele dieser Verhaltenskodizes stammen naturgemäß von der Kavallerie und bespannten Artillerie des Militärs, vielfach der k.& k. österreich-ungarischen Armee. Angesichts der Sprachen-Vielfalt der Kavalleristen und Artilleristen war eine verbale Verständigung auch innerhalb einer Einheit kaum möglich, weshalb in jeder Armee – auch in anderen Nationen – Verhaltensweisen eingeführt wurden, die sich sicher für den „Mann“ und praktikabel im Umgang mit dem „Pferd“ erwiesen haben – niedergelegt z.B. als „Heeres – Dienst – Verordnungen“ (HDV) und absolut verbindlich für die Soldaten der berittenen und bespannten Truppen – auch des Trains.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem auch Millionen von Pferden – unfreiwilligen – Dienst versahen, waren es dann Offiziere und Unteroffiziere der berittenen und bespannten Abteilungen, die als „Lordsiegel-Bewahrer“ tradierter Normen und Gebräuche wirkten und ihren Schülern weitergaben.
Als nach dem Ende des Pferde-Tiefs in Österreich mit einer Population von gerade 5000 Tieren dann sich Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wieder eine aufblühende Pferdeszene zu etablieren begann (1970: 35.000 Tiere, 2004: 85.000 Tiere, 2023: 120.000 Tiere), waren viele dieser Werte und Regeln für die zahllosen Quereinsteiger verloren gegangen, Üblichkeiten anderer Reitweisen drängten – befeuert durch Pferdemessen – auch in die mitteleuropäischen Traditionen, einerseits infolge anderer Gebräuche, andrerseits aber auch getrieben von dem Wunsche Mancher, alles anders machen zu wollen, als es bisher üblich war – es entstand, was ich schon mehrfach als Hippologischen Kauderwelsch bezeichnete: Menschen verstehen Pferde nicht mehr und – vice versa – Pferde verstehen Menschen nicht mehr. Das tägliche Risiko erhöht sich, Unfälle sind absehbar, Gerichte und Versicherungen werden in einem nicht geahnten Maße bemüht, Anwälte freuen sich und „Gurus“ verkünden – Evangelisten nicht unähnlich - frohe Botschaften
Wie in den meisten Belangen des täglichen Lebens suchen „Jugendliche“ – solche an Jahren, aber auch solche an Erfahrung – nach Vorbildern bei älteren und erfahrenen Menschen – Vorbildwirkung kann aber nicht wirksam gepredigt, sondern nur beispielhaft gelebt werden.
Wenn ein junger Reiter bei einem schon in den Jahren befindlichen - scheinbar im Umgang mit Pferden Erfahrenen - tagtäglich sieht, dass Pferde nur am Stallhalfter geführt werden, wird er zwangsläufig daraus ableiten, dass dies richtig und die „Norm“ sei.
Wenn dieser Jugendliche des Weiteren immer wieder beobachtet, wie praktisch und zeitsparend es ist, Pferde zu Futterzeit frei und ungeregelt von der Weide in den Stall laufen zu lassen, muss er folgerichtig zur Erkenntnis gelangen, dass die die „Norm“ wäre.
Es gilt aber im Umgang mit Pferden ein ehernes Gesetz: Auch wenn etwas jahrelang ohne fatale Konsequenzen falsch gemacht wurde, wird es deshalb nicht richtig – früher oder später kommt die „Rechnung“!
Die beiden, im vorliegenden Falle involvierten Pferdes waren um die 15 Jahre alt, in keinem besonderen Trainingszustand, genutzt als reine Freizeitpferde – ohne erkennbare charakterliche Mängel. Dennoch muss auch bei solchen – braven und ruhigen – Pferden immer mit der typischen Tiergefahr (Kontrollverlust, Ausschlagen, Beißen) gerechnet werden, die sich auf Grund besonderer „Reize oder Antriebe“ verwirklichen kann.
Kontrollverlust in Form von Durchgehen kann durch Angst erzeugende Geräusche, Bewegungen oder Lichteffekte ausgelöst werden, aber auch „vorwärts-stürmender Ungehorsam“ kann auftreten:
– Im vorliegenden Fall war einerseits der Futterreiz auslösend, denn die Stute M. wusste, dass in der Box Futter wartet;
– zusätzlich war eine Irritation durch das vom sonst üblichen Hereinstürmen abweichende Führen am Halfter gegeben.
Es sei an dieser Stelle auch festgehalten, dass es Unfug ist, wenn Pferde beim Betreten ihrer Boxen schon Futter in den Trögen finden – erst wenn alle Pferde sicher in den Boxen verwahrt sind, sollte eingefüttert werden!
Doch zurück zum „Fall“: Den meisten Aussagen, auch jener des Klägers, konnte entnommen werden, dass auf seinem Betrieb Pferde in der Regel auf die Weide geführt werden, doch den Weg zurück, von der Weide in die Boxen, können sie „regelmäßig frei hereinlaufen“ [zit.] – das Tempo wird hierbei von der Hierarchie der Herde, nicht aber von einer Führperson bestimmt.
Der Lehrmeinung entsprechend sind Pferde sowohl zur wie auch von der Weide/Koppel kommend, einzeln zu führen, hierbei trägt das Pferd Stallhalfter mit intaktem Führstrick und der Pferdeführer Handschuhe. Beim Hinausführen auf die Weide/Koppel wird das Pferd innerhalb des Koppeleingangs mit dem Kopf zur führenden Person gewendet, die begrenzend im Eingang steht, und dann die Führleine geöffnet und entfernt. Nur diese Vorgangsweise entspricht der Allgemeinen Verkehrssicherungspflicht und vermag das häufig zu beobachtende Ausschlagen gegen den Menschen beim Öffnen des Führstricks – meist aus Stallmut – zu verhindern.
Beim Hereinholen wird korrekterweise jedes Pferd einzeln mit Führleine am Koppelausgang abgeholt, wobei sich als sinnvoll erwiesen hat, nicht immer die dieselbe Reihenfolge einzuhalten. Das Pferd wird in seine Box gebracht, in deren Futtertrog sich noch kein Kraftfutter befindet, sehr wohl aber Raufutter in der Raufe oder am Boden – und natürlich Wasser!
In völlig abgeschlossenen Betrieben, die ein Entkommen von Pferden in das öffentliche Straßennetz nicht eröffnen (wovon es nur sehr wenige gibt), können auch jeweils zwei – verlässliche – Pferde von einer Person geführt werden; das Kräftemessen von 1 PS (Pferdestärke) zu 1 MS (Menschenstärke) geht – vorhersehbar – immer zugunsten der Pferde aus, auch bei Ponys. Ist eine Herde homogen und ausgeglichen, können mehrere Personen auch mehrere Pferde hinter einander führen – mit mindestens jeweils einer Pferdelänge Abstand.
Aus Bequemlichkeit oder auch aus Unwissenheit (mangels guter Vorbilder) reißen in manchen Betrieben Unsitten ein, die erhebliche Gefahrenpotentiale bergen und früher oder später zum Unfall führen müssen.
Im Betrieb des Klägers war es – seinen eigenen Angaben zufolge – bisher üblich, Pferde ausschließlich am Stallhalfter zu führen – wie er selbst es auch am Vorfalltage praktizierte. Umso verwunderlicher ist deshalb die in der Klage formulierte Forderung, [zit.] „…..dass der Kläger von der (minderjährigen) Beklagten billigerweise die Verwendung eines Führstricks hätte erwarten können!“
[Wie ist das mit dem Wasser und dem Wein?? - meint da der Autor, über das eine predigt man, den anderen trinkt man – na Prost!!]
Hätte der Kläger beim Vorfall seinen Wallach G. an einem korrekten Führstrick geleitet, hätte er beim Herannahen der Stute M. von hinten „Leine geben können“ und diese wäre – möglicherweise - zwischen ihm und dem Wallach vorbei gelaufen oder durch den Strick aufgehalten worden.
Hätte die Beklagte – dem gegenüber – ihre Stute M. mit einem Führstrick geführt, hätte sie mit hoher Wahrscheinlich wegen der ungleichen Kräfteverhältnisse und ihrer nicht behandschuhten Hand diese am Wegstürmen nicht hindern können.
Aus fachlicher Sicht ist dem Kläger, der seit 40 Jahren einen Pferdeeinstellbetrieb führt, vorzuhalten, dass er durch täglich abgeführte Praxis eine Vorgangsweise „vorgelebt“ hat, die zum Zustandekommen des Unfalles wesentlich beigetragen hat und die er – wie wohl von ihm selber täglich praktiziert - der jugendlichen Beklagten nun zum Vorwurf macht.
Gutachten:
1. Die Verwendung einer Führleine durch die Beklagte beim Führen ihres Pferdes von der Koppel zu den Stallungen wäre die Voraussetzung für das sach- und regelkonforme Führen des Pferdes M. gewesen.
2. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte der Unfall dadurch nicht (gänzlich) verhindert werden können, da das Kräfteverhältnis ungleich war und die Beklagte keine Handschuhe trug.
3. Begünstigt wurde der Unfall durch die, den Pferden zur Gewohnheit gewordene, gefährliche Vorgangsweise, von der Weide /Koppel frei in die Boxen laufen zu können.
4. Der Kläger – ein erfahrener Pferdemann – praktizierte in seiner Vorbildwirkung genau diese Beispiele nicht, die er nun von der minderjähriger Beklagten als „billigerweise und korrekt“ fordert.
Im Folgenden einige Variationen über das Thema „Führen“ aus der alltäglichen Praxis ...
Vor einiger Zeit veröffentlichte ProPferd eine Artikelserie über Monster, Geister und andere für Pferde „Schreckliche Gestalten“ – findiger Menschen Einfallreichtum hat ein neues Schreckgespenst ersonnen, das sich bei gutem Wind dreht, glänzt, blitzende Signale und röhrendes Geräusch abgibt – alle Voraussetzungen für den § 1320 ABGB, 1. Satz „reizen, antreiben“ sind erfüllt – Reiter sollten beim Anblick dieser „Scheuche“ den § 1320 ABGB, 2. Satz „zu verwahren vernachlässigen“ im Bewusstsein haben.
18.06.2024
KommentareBevor Sie selbst Beiträge posten können, müssen Sie sich anmelden...Weitere Artikel zu diesem Thema:19.12.2021 - "Schreckliche" Gestalten: Gefahren für Pferd & Mensch bei Ausritt und Ausfahrt
"Schreckliche" Gestalten: Gefahren für Pferd & Mensch bei Ausritt und Ausfahrt 19.12.2021 / News
Die meisten Unfälle mit Pferden passieren beim täglichen Freizeitvergnügen – und viele davon wären mit mehr Voraussicht, Aufmerksamkeit und Pferdeverständnis durchaus vorhersehbar und damit auch vermeidbar, so der Befund des Sachverständigen Dr. Reinhard Kaun.
Die Mehrzahl der Unfälle mit Pferden ereignet sich nicht im großen Sport, sondern beim täglichen Freizeitvergnügen – die Unfallanalyse fördert häufig eine schreckliche Sorglosigkeit und Unbedarftheit zutage, die zumeist in die Beurteilung „das war vorhersehbar“ mündet.
Damit Gefahren – vorhersehbar – als solche erkannt werden, bedarf es einiger Voraussetzungen:
– Lebenserfahrung des Menschen mit erworbenem Gefahrenbewusstsein
– Lebenserfahrung des Menschen im Umgang mit Pferden
– Wissen des Menschen über die Sinnesleistungen und Wahrnehmungsvermögen des Pferdes
– „Schneller Blick“ des Menschen zur Erfassung möglicher Gefahren, bevor das Pferd dies wahrnimmt……
und ….
– Wissen und Können, um vorbeugend schnell und richtig zu reagieren
– Unbelastete positive Erfahrung der Pferde auch in brenzligen Situationen, verbunden mit grenzenlosem Vertrauen zum Menschen.
Der geneigte Leser wird vielleicht an dieser Stelle resümieren, dass diese Forderungen sogenannte „Sowieso“ – Punkte sind – bedauerlicherweise ist dies aber nicht der Fall – dazu ein Beispiel:
Vor Jahren war im Salzkammergut, wo ich damals tätig war, für einen Samstag um die Mittagszeit „schwere Sturmwarnung“ ausgegeben, ein für diese Tageszeit ungewöhnlicher Umstand, dem die meisten Bewohner durch entsprechende Vorbereitung begegnet waren. Über Rundfunk und Fernsehen sowie einschlägige Apps war aufgerufen worden, zu Hause zu bleiben und sichere Gebäude nicht zu verlassen.
Ich hatte noch einige Visiten zu absolvieren und traf, als der Wind bereits merklich aufzufrischen anhub, auf einem Reiterhof ein, wo sich gerade eine Reitergruppe mit 5 Pferden zu einem Ausritt fertigmachte. Auf meinen rüden Vorhalt „nur Wahnsinnige reiten jetzt aus….“ wurde ich kopfschüttelnd milde belächelt wie ein Bescheuerter. Die Folgen waren furchtbar, auch die Pferde die Opfer!!
Wenn im Rahmen von Unfallrekonstruktionen vom Gutachter die Frage nach möglichen Auslösern gestellt wird, die im Sinne des § 1320 ABGB (reizen, antreiben) relevant sein könnten, kommen mit schöner Regelmäßigkeit:
„der auffliegende Vogel, der bellende Hund, die stechende Mücke, das raschelnde Papier, das vorbeifahrende Auto und lärmende Kinder usw.“ Aus dieser Erfahrung ist abzuleiten, dass Erinnerung ziemlich eindimensional ist.
Tatsache ist jedoch, dass in der Realität meistens eine Bandbreite von Einflüssen und Eindrücken, von Empfindungen und Wahrnehmungen ein Pferd in seinem Verhalten beeinflussen können, die ein „Pferdemensch“ in Harmonie mit seinem Tier wahrnimmt, wenn er /sie nicht als stumpfer Passagier im Sattel oder Bock sitzt – unaufmerksam, interesselos und ICH-bezogen.
Es ist deshalb aus hippologischer Sicht für Pferdeleute vorrangig, die Gleichzeitigkeit aller sinnlichen und vegetativen Wahrnehmungen in Einheit und absoluter Harmonie mit dem Pferde aufzunehmen, zu analysieren, zu interpretieren und in pferdekonformes Reagieren überzuführen.
Die dagegen gehaltene Ansicht, dies würde zur Folge haben, dass Reiter, Fahrer, Pferdehalter usw. nunmehr nur mehr verkrampft und verspannt, lauernd und innerlich unruhig im Sattel, am Kutschbock usw. säßen ist falsch: diese „losgelassene Aufmerksamkeit“, die ich hier meine, muss durch ständiges Lernen zur „zweiten Haut“ werden – conditio sine qua non für einen Pferdemenschen.
Welchen Sinn macht es, dem Pferd alle möglichen sinnvollen und überflüssigen Kunststücke beizubringen, wenn sein Inneres und seine Verhaltensmuster nicht kennt – das vielzitierte „Druck aufbauen“ halte ich nicht für den richtigen Weg.
Neuerdings ist es Mode geworden, Tieren menschliche Gesichter mit unterschiedlicher, freundlicher und unfreundlicher Mimik auf Fotos vorzulegen und ihre Reaktion zu erforschen – sicherlich ein interessanter Ansatz. Vielleicht kommt dann als Unfallursache ein neuer Aspekt dazu: Das Pferd ist durchgegangen, weil es der Spaziergänger oder Jäger sooo böse angeschaut hat.
Das Gesichtsfeld eines Pferdes (modifiziert vom Autor) nach Prof. Dr. Roland Brückner in „Dein Pferd, sein Auge, seine Sehweise“ (Basel 1989).
Grüner Bereich: Binocularfeld 70 Grad - räumliches Sehen mit beiden Augen
Gelber/roter Bereich: Monocularfeld linkes/rechtes Auge 215 Grad – flächiges Sehen mit jeweils einem Auge
Schwarzer Bereich: Toter Winkel vor und hinter dem Pferd
In Verbindung mit der Kenntnis der einfachen physiologischen Biegemöglichkeit der Hals- und Brustwirbelsäule kann ein Reiter den Bereich der optischen Wahrnehmung ungefähr abschätzen. Als Folge der Evolution der Huftiere als Weide-, Flucht- und Beutetiere auf ebenem Gelände hat sich im Auge ein „Alarmstreifen“ (Grassè, Brückner) entwickelt, ein bandförmiges Areal oberhalb des Sehnerv- Eintrittes mit besonders dichter Anordnung von großen Ganglienzellen, die den Horizont ständig am „waagrecht am Radar“ haben. Auf hügeligen Weiden kann man beobachten, wie Pferde durch Kopfneigen eine Übereinstimmung mit dem Horizont herstellen.
Zu beachten ist ferner, dass Pferde aus ihrer Evolution optischen und akustischen Einwirkungen, die von oben kommen, häufig mit Panik begegnen, wenn sie mit Bewegung verbunden sind (z.B. Abkehren der Stallwände und Stalldecke mit Besen), jedoch unerwartet ruhig bleiben, wenn man eine solche erwarten würde.
Ich erinnere mich an ein Fahrturnier, dessen Marathonstrecke durch den Innenhof eines Vierkanters führte – als besondere Raffinesse hatte der Geländebauer an den oberen Bogen des Einfahrtstores einen großen, ausgestopften Bussard montiert, der dort als furchterregende Silhouette „thronte“ – die wenigsten Pferde nahmen Notiz von dieser regungslosen Statue.
Bemerkenswert, aber evolutionär verständlich, ist die Beobachtung, dass ein herabfallender Heuballen (also eine vertikale Bewegung) Pferde weniger aufregt als ein, vom Winde daher gewehtes Blatt Zeitungspapier (also eine horizontale Bewegung).
Ein weiteres, fast jedem Reiter und Fahrer bekanntes Phänomen scheint ursächlich noch nicht wirklich endgültig geklärt zu sein:
Am Wege von A nach B gehen die Pferde an einem Holzstoß, einer Mischmaschine oder einem abgestellten Mähdrescher problemlos vorbei, als wären diese „Monster“ überhaupt nicht vorhanden – am Rückweg aber, also von B nach A nur 30 Minuten später hat es den Anschein, dass sich die vorher nicht beachteten Objekte plötzlich in feuerspeiende Drachen verwandelt hätten. Dazu meint Beaver( Equine Vision in Animal Clinician 1982), dass der Grund dafür wohl darin läge, dass das Pferd die Sehbilder nicht „kreuzweise“ abspeichern kann, also das „Bild“ des rechten Auges beim Ritt von A nach B bei der Rückkehr im Gehirn nicht zur Verfügung steht und neu aufgenommen werden muss, obwohl die anatomischen Voraussetzungen vorhanden sind. Evans vertritt in „The Horse“(1977) hingegen die Ansicht, dass durch plötzliche Kopfbewegungen das Bild eines „Objektes“ vom flächigen Bereich des monokularen Sehens plötzlich in den räumlichen Bereich des binokularen Sehens „überspringt“, wodurch selbst die geringste Bewegung – z.B. eine im Winde flatternde Schnur - vom Pferde wahrgenommen werden kann. Brückner hingegen attestiert dem Pferd ein ausgezeichnetes optisches Ortsgedächtnis, das die kleinsten Veränderungen einer sonst gewohnten Umgebung registriert und zum Scheuen führt (Brückner: Das Pferd, sein Auge, seine Sehweise; Basel 1989).
Tatsache ist, dass kein Mensch – zumindest soviel mir bekannt ist – je Zeit als Pferd verbracht hat und deshalb aus eigener Erfahrung berichten könnte. Es wird also weiterhin an jedem, mit Pferden lebenden Menschen liegen, die Eigenheiten seiner Tiere kennen zu lernen und ihnen mit bestem Wissen beim Aufbau von Vertrauen zu begegnen – ein ängstlicher, unaufmerksamer und unsicherer Egoist oder Narzisst (beiderlei Geschlechts !!) kann dem Pferde keine Sicherheit geben.
Durch den Abstand zwischen linkem und rechtem Auge (Pferd etwa 20 cm, Mensch etwa 6 cm) steht dem Pferd ein sehr großer Binocularwinkel von etwa 70 Grad zur Verfügung. Dieses dreidimensionale, also räumliche Sehen ist auf eine Distanz von einem bis mehrere hundert Meter in die Ferne ausgelegt. Da Zeitunglesen und Handyspielen für das Pferd ohne große Relevanz ist, benötigt es keine extreme Nahsicht.
Zum Farbsehen bei Pferden gibt es keine abschließenden Erkenntnisse. In Abgleich zwischen Beobachtung und anatomischen Voraussetzungen kann angenommen werden, dass Pferde die Farbe BLAU wahrnehmen. Unsicherer werden die Befunde bei der Unterscheidung von GELB und GRÜN. Die Farbe ROT konnte in Studien von einem Großteil der Pferde erkannt werden – ein enger Zusammenhang zwischen Beleuchtungsintensität und Erkennbarkeit einer Farbe scheint zu bestehen.
Obwohl Pferde – so wie auch Menschen – bei Nacht keine Farben unterscheiden können, so ist doch ihr Dämmerungssehen infolge der großen Augen und eines besonderen „Spiegelsystems“ (Tapetum lucidum fibrosum) besser als das des Menschen – weshalb manche Reaktionen von Pferden bei Dämmerungs- und Nachritten oft anders ausfallen, als vom Reiter erwartet.
Das Hörspektrum eines Pferdes ist bedeutend weiter als das des Menschen – bis zu 38.000 Hertz nach oben und bis zu 8.000 Hertz nach unten reicht die Skala. Besonders zischende Geräusche und hohe Frequenzen irritieren leicht: Ultraschallerzeuger (Rattenvertreiber, medizinische Geräte), schnelle Verkehrsmittel, Lüftungsanlagen (Schweine-/Hühnerställe), schnell rotierende Maschinen (wie Kreissägen), technische Ausrüstungen von TLFs der Feuerwehr.
Ein gut meinender Motorradfahrer, der im Leerlauf vorbeizischend ein Gespann überholt, tut dem Fahrer des Gespannes nichts Gutes: Besser ist es, Gas und Tempo zu drosseln, damit die Pferde mit ihren (fast) rundum beweglichen „Radarohren“ die Entfernung der nahenden Geräuschquelle dennoch abschätzen können.
Der Geruchssinn von Pferden wird natürlich von der Wahrnehmung über die Nase, aber zusätzlich noch über die „Geruchsbrille“ (Jacobsonsches Organ) bestimmt, das durch das „Flehmen“ (Hochheben der Oberlippe) am oberen, äußeren Gaumendach aktiviert wird. Eine Reihe von Geruchsqualitäten werden von Pferden als unangenehm bis bedrohlich empfunden, heftige Reaktionen sind vorhersehbar: Schweine- und Geflügelställe, Brandgeruch, Blutgeruch des Fleischhauers, Angstschweiß und Geruch toter Pferde, auch als frische Leichen.
Menschen, die häufig mit Pferden Umgang pflegen, muss klar sein, dass Wahrnehmungen über Seh-, Hör- und Geruchsorgane simultan zu taktilen Reizen (Hilfen) auf den Organismus eines Tieres einwirken, dessen vegetativer Empfängerstatus durch die Tagesverfassung (Umwelt, Wetter, Trainingszustand, Gesundheit, hormonelle Schwankungen, Tagesrhythmus usw.) bestimmt ist.
Bei Aktivitäten mit Pferden im Freien ist deshalb immer auch die Wetterlage (Föhn, Gewitterlage, Wetterwechsel, Lage vor dem ersten Schnee, auffrischender Wind) zu berücksichtigen. Bei Schneelage und zunehmender Tageserwärmung ist vorhersehbar, dass sich Dachlawinen vom Dach der Reithalle lösen oder Schnee von Bäumen fällt. Der Einbruch der Dunkelheit erfolgt nicht schicksalhaft, sondern voraussehbar.
Nicht zu unterschätzen ist die Macht des Lichtes auf die Wahrnehmung der Umwelt durch Pferde.
Aus Erfahrung weiß man, dass Pferde über ein beachtliches assoziatives Gedächtnis verfügen – es muss also nicht unbedingt der Holzstoß, die Mischmaschine oder der Mähdrescher selbst sein, der ein Pferd „aus dem Häuschen“ bringt, sondern es kann eine Gesamtsituation bestehen, die assoziativ mit diesen „Monstern“ in Verbindung gebracht wird.
„Als ich zum letzten Mal diesen Holzstoß gesehen habe, stand die Abendsonne blutrot am Himmel, es herrschte eine unangenehme Föhnstimmung, in einer entfernten Wiese stand regungslos eine „komische“ Figur und ich wollte aus Unsicherheit nicht vorwärts gehen – da bekam ich arge Rüffler mit der Trense, einige Sporenstiche und Gertenhiebe, heute ist wieder eine ähnliche Stimmung, ich kehre lieber gleich um und laufe in den Stall und das nächste Mal gehe ich nicht mehr bis hierher!“
Eine schwer definierbare Figur steht in der Wiese.
Bei dieser Abendstimmung ist die „Doppelspiegelung“ durch das Tapetum lucidum geeignet, Angst entstehen zu lassen.
Ein bisher harmloser Hochspannungsmast wird zum bedrohlichen Monster, rundherum dunkle Gestalten und dieses seltsame Surren in der Luft….
Diese Figur war immer schon furchterregend, beim nächsten Ausritt wird ein großer Bogen fällig.
Eine schwierige Wahrnehmungssituation auf einem wohlbekannten Weg…
Eine vielköpfige Schlange lauert am Wegesrand.
Ein Geist zwischen Rebstöcken.
Die Fotos wurden, vorbereitend für diesen Artikel, vom Verfasser aufgenommen, entsprechen der wahrnehmbaren Originalstimmung und sind nicht bearbeitet.
Die Sicherheit, ohne Angst und Verspannung durch solche Lichtverhältnisse zu gehen, muss das Pferd von seinem Menschen bekommen.
(Fortsetzung folgt)
22.02.2022 - "Schreckliche" Gestalten: Was Pferde beunruhigt, Teil 2
"Schreckliche" Gestalten: Was Pferde beunruhigt, Teil 2 22.02.2022 / News
Zu gefährlichen Situationen im Umgang mit Pferden kommt es nicht nur durch mangelnde Aufmerksamkeit und Voraussicht, sondern auch durch ein oftmals unterentwickeltes Gefahrenbewusstsein und fehlende ,hippologische Wachheit'. Wie man diese entwickeln und schärfen kann, verrät der Sachverständige Dr. Reinhard Kaun in Teil 2 seiner analytischen Betrachtung.
Der Text und besonders die Lichtbilder (aus eigener Kamera) in diesem zweiteiligen Artikel bezwecken vor Allem, aufmerksamen Blick und Gefahrenbewusstsein im Umgang mit Pferden und bei Ausübung pferdesportlicher Aktivitäten zu schärfen, zu fokussieren und – als „zweite Haut“ – eine hippologische Wachheit zu entwickeln, die auf Kenntnis der Sinneswahrnehmung von Pferden beruht (nachzulesen in Teil 1) die dem Menschen erlaubt, angemessen zu reagieren – dies ist ein konstanter Lernprozess, der aus Personen, die Pferde haben, „Pferdemenschen“ macht.
Erfahrene mögen manches belächeln - und hoffentlich als erfrischende Wiederholung betrachten; Unerfahrene jedoch, Newcomer und Lernbereite sollen ihren Wissensschatz erweitern und ihr Auge für Gefahren schärfen. Besserwisser und Unbelehrbare können die Lektüre an dieser Stelle abbrechen.
Naturgewalten und Naturgesetze
Menschen, die zu Pferde oder mit Pferden in der freien Landschaft und in abgelegener Natur unterwegs sind, können infolge der Heftigkeit, mit der in zunehmendem Maße durch Veränderung des Weltklimas Wetterstürze mit Sturm, Regengüssen und Gewittern hereinbrechen, in Not geraten, wenn sie nicht schon beim Abritt oder dem Beginn einer längeren Ausfahrt mit dem Gespann alle Imponderabilien in Betracht ziehen und mit der – heute jedermann zur Verfügung stehenden – Technik überprüfen; der immer wieder zitierte Terminus der „Vorhersehbarkeit“ wird hier als juridischer Begriff von Bedeutung: Durch Einfahrt in einen Lawinenhang bei Warnstufe 3-4, durch Beginn eines harmlosen Segeltörns bei bereits blinkender „Sturmwarnung“ oder durch einen Ausritt vor einem erwartbaren und angekündigten Unwetter gefährden Unbesonnene nicht nur sich selbst, sondern reißen möglichweise auch Helfer mit ins Verderben.
Red in the morning – fishermen's warning,
Red at night – shepard's delight.
Noch nie war Gedankenlosigkeit, unbekümmerte, aber arrogante Dummheit und Unbesonnenheit so verbreitet, noch nie war aber das Angebot an technischen Hilfsmitteln und Warngeräten so umfangreich, noch nie war die Zahl der vermeintlichen, meist selbsternannten „Experten (und Selbstdarsteller)“ so groß wie in unseren Tagen – jedem wird eine Bühne geboten.
Unbedarfte und Gewissenlose können nach oberflächlichen und inhaltlich dürren Schnellsiedekursen an einem einzigen Wochenende zweifelhafte, oft sogar windige Diplome erwerben, werden tags darauf über soziale Medien zu „Influencern“ und reißen Scharen von „Followern“ mit in das unendliche, finstere Dickicht von Halbwissen und Dummheit. Tertiär- und Quartärliteratur, also wo Abgeschriebenes von bereits mehrfach Abgeschriebenem leicht verändert als neue Quelle der Erkenntnis präsentiert wird, hat in Form von Ratgebern Hochkonjunktur – auch am großen Feld der Hippologie und des Pferdesports – und – was ich als besonders gefährlich und verwerflich empfinde: Kultur und Tradition, Wissen und Können rund ums Pferd wird auf „Pferdesport“ reduziert!
Althergebrachtes und auch Neues zu hinterfragen ist wohl eine hervorragende Eigenschaft des vernünftigen und verantwortungsbewussten Menschen – doch verwechseln so manche Pseudokluge „hinterfragen“ mit „alles in Frage stellen“ – eine Entwicklung, die zwingend zu Chaos und Nihilismus führen muss: Orientierungslosigkeit ist die Folge, „Pferde- Gurus“ werden wie Erlöser vergöttert.
Auf der Titelseite einer österreichischen Tageszeitung erschien am 18. Februar 2022 eine Glosse unter dem Pseudonym A.S. mit dem Titel „Schamscham“, in der ihr Autor ironisch seine Gedanken zum aktuellen Volkssport „Sich für etwas zu schämen“ ausbreitet. Doch nicht genug damit: die Adoptivschwester der „Scham“ ist die „Bitte um Verzeihung“, der neuerdings auch namhafte Stellvertreter auf Erden mit Inbrunst nachkommen.
Doch wie verhält es sich, wenn der Mensch dem Pferde Ungemach, Leid oder Qual zufügt oder sogar dessen Tod verantwortet? Befällt diesen Menschen dann die „Pferde-Scham“ oder die „Tierquäler-Scham“ – womit ein „T-Wort“ geboren wäre, was dann die kollektive Entschuldigung gemäß § 5 Tierschutzgesetz bzw. § 222 Strafgesetz bedeutend erleichtert.
4. April vor vielen Jahren: Die Luft war schon milde und duftete, der Tagesanbruch früher, erkennbar ging der Winter seinem Ende zu. Aber es lag noch Schnee und die Wiesen waren nass. Vier Freunde hatten sich für diesen ersten milden Sonntagmorgen des noch jungen Jahres zu einem Ausritt verabredet, die Pferde waren frisch und alles wies auf pures Vergnügen hin.
Doch plötzlich – völlig unerwartet – stürzte ein Pferd beim Überqueren eines Wiesenstücks, ein zweites brach unter seinem Reiter zusammen, ein drittes fiel mitsamt Reiter – wie vom Blitz getroffen – um. Das vierte Pferd ging – nach einem durchdringenden Schmerzschrei (!) - durch und konnte mit nur mit Mühe unter Kontrolle gebracht werden, das gutmütige Tier zitterte am gesamten Körper, schwitzte und war völlig verstört und berührungsscheu.
Ein Strommast war umgefallen, Folge eines Sturms der letzten Nacht, die Stromleitungen lagen quer über die feuchte Wiese und in den Resten von Schnee – die ganze Parzelle stand unter Strom. Die drei mit Hufeisen beschlagenen Pferde waren tot, das Vierte – nicht beschlagene – schwer geschädigt und nie mehr reitbar.
„Ein Stromschlag ist keine Meinungssache. Über Naturgesetze müssen wir nicht verhandeln. Sie wirken, ob wir das wollen oder nicht.“
(Zitat aus „VERWIRRT“ von D.I. Dr. Florian Aigner, „Die Zeit“ Nr. 6, 3. Februar 2022)
Sowohl die Elektrizitätsgesellschaft wie auch deren Versicherung lehnte jede Haftung ab und begründete dies damit, dass die Ursache für das Unglück im Sturm, somit in höherer Gewalt bestanden hat und die Reiter, überdies, unbefugt und ohne ausdrückliche Erlaubnis des Grundeigentümers über Privateigentum geritten sind. Im folgenden Zivilverfahren argumentierten die Rechtsvertreter des beklagten Unternehmens ähnlich und brachten überdies vor, dass Reiter – ähnlich wie Fahrzeuglenker – „auf Sicht“ zu reiten haben und, dass das in der Wiese liegende Stromkabel sowie der umgestürzte Strommast einem „durchschnittlich fleißigen Menschen auffallen musste, speziell von der erhöhten Sitzposition eines Reiters“ [zit.]. Lichtbilder unterstrichen dieses Vorbringen. Das angerufene Gericht wies die Klage ab.
„Im Gegensatz zu Naturgesetzen funktionieren juristische Gesetze nur dann, wenn sie in der Gesellschaft verankert sind. Ihr Nutzen folgt nicht aus ihrer bloßen Existenz, sondern aus dem Umstand, dass sie im Großen und Ganzen eingehalten werden – vielleicht nicht von jedem, aber doch zumindest von sehr vielen. Auf welcher Straßenseite man fährt, ist wissenschaftlich betrachtet völlig egal. Aber dass wir uns auf eine bestimmte Seite geeinigt haben, macht das Leben jedes Einzelnen deutlich sicherer.“
(Zitat aus „VERWIRRT“ von D.I. Dr. Florian Aigner, „Die Zeit“ Nr. 6, 3. Februar 2022)
An dieser Stelle sei die ausgezeichnete Informationsbroschüre der Vereinigung der Freizeitreiter und -fahrer in Deutschland e.V. (VFD) sowie des Ausschusses für Blitzschutz und Blitzforschung des VDE zur Lektüre empfohlen – abrufbar unter diesem Link!
Jeder Pferdemensch, der Reiten, Fahren usw. nicht bloß als schnöden Sport betrachtet, sondern sich auch seiner kulturellen Verpflichtung den Pferden und der Gesellschaft gegenüber bewusst ist, hat ein großes Maß an Eigenverantwortung aus der hippologischen Tradition. Der „Leuchtturm-Bick“ sollte im Sattel und am Kutschbock zu einem speziellen Sinn entwickelt werden, der Gefahren frühzeitig erkennt – und mit Vernunft vermeidet.
Der aufkommende Sturm treibt einen Plastikfetzen vor sich her – Entsetzen pur auch für abgebrühte Pferde.
Krachen, Knacken und Knirschen im sonst stillen Walde – eine erhebliche Belastung für den ausgezeichneten Gehörsinn eines Pferdes.
Die modernen „Zierden“ der bäuerlichen Landschaft mit flatternden Planen – glitzernde Scheußlichkeiten an allen Ecken und Winkeln.
Es muss ja nicht die „reine Vernunft“ (des deutschen Philosophen) – also Vernunft ohne Erfahrung – sein, ein „vernünftiges Maß an Vernunft“ genügt in der Regel, um später vor Gericht als „durchschnittlich fleißiger – also ziemlich vernünftiger – Mensch“ beurteilt zu werden.
Minimale Erschütterungen, die vorbeitrabende Pferde im Boden auslösen, können genügen, um den Bruch an einem Baum zum Absturz zu bringen oder den, wie ein Bogen gespannten Baum hochschnellen zulassen – als Gefahr deutlich sichtbar, die Folgen vermeidbar!
Zutritt, Benützung und Verhalten im Wald ist geregelt, der Eigentümer hat prinzipielle Oberhoheit, die respektiert und nicht ungefragt hintergangen werden sollte. „Das kann aber nur funktionieren, wenn ein Konsens darüber herrscht, dass man sich an die Gesetze halten soll. Dafür gibt es wichtige Voraussetzungen:
– Die Regeln müssen bekannt sein.
– Die Regeln müssen verständlich sein
– Die Einhaltung von Regeln muss überprüft, ihre Nichteinhaltung sanktioniert werden.
(Zitat aus „VERWIRRT“ von D.I. Dr. Florian Aigner, „Die Zeit“ Nr. 6, 3. Februar 2022)
Sichtbar, erkennbar – vorhersehbar!
Während der laufenden Arbeit am zweiten Teil von „Monster, Geister, schräge Gestalten – was Pferde beunruhigt“ las ich bei meiner wöchentlichen Lektüre der Wochenzeitung DIE ZEIT [Nr. 6, 3. Februar 2022] den Essay „VERWIRRT“ von D.I. Dr. Florian Aigner, der sich mit diversen Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid – Epidemie befasste. Dabei stachen mir einzelne Passagen auf Grund ihrer pointierten Formulierung derart ins Auge, dass ich spontan mit dem Verfasser Dr. Aigner in Kontakt trat und seine Erlaubnis erbat, zitieren zu dürfen: nicht Corona war das beabsichtigte Thema, sondern zumutbare Vernunft im Zusammenhang mit hippologischer Tradition und risikoarmen Pferdesport in Natur und Landschaft.
„Die einen denken sich ihre eigenen Regeln aus, weil sie aus eigenem Antrieb vorsichtig sein wollen, die anderen betrachten die offiziellen Regeln bloß als Schikane, an die man sich nicht halten muss.
[……]
Man gewöhnt die Bevölkerung daran, sich nicht an Regeln zu halten. Menschen, die immer gesetzestreu waren, werden zu Regelbrechern. Wenn Vorschriften ihren Nutzen daraus beziehen, dass man sich gemeinschaftlich daranhält, der Staat aber ihre gemeinschaftliche Einhaltung nicht gewährleisten kann – warum sollte man sich als Einzelner daran halten?“
(Zitat aus „VERWIRRT“ von D.I. Dr. Florian Aigner, „Die Zeit“ Nr. 6, 3. Februar 2022)
Mein Dank an:
Dipl. Ing. Dr. Florian Aigner - Physiker, Autor, Wissenschaftspublizist
Was man nicht erklären kann, das hat man nicht verstanden.
(Florian Aigner, http://www.florianaigner.at)
Fallen, Gespenster und „Pferdefresser“
Dieses Loch hat sich auf einem Güterweg, den ich damals täglich benützte, nach nächtlichen Regenfällen aufgetan – auch Wege, die man „immer schon“ benutzt hat, können spontan zur Gefahr werden.
Diese „Naturschönheit“ ist für Pferde regelmäßig ein Grund, zu blasen, sich zu verbiegen und -zumindest vorübergehend – bisherige Losgelassenheit durch „Ver“ – Spannung zu ersetzen.
Manche Landwirte lassen buchstäblich „Gras über alte Maschinen wachsen“.
Ein verwaister Müllsack – out of nowhere – den Sturm freut`s, Pferde versetzt er in Panik.
Ein Gespenst in traditionellem Gewande – mit Wind eine wahre Geisterstunde beim Ausritt.
Solche Gitter scheppern und „fangen“ die Stollen der Hufeisen.
Im Zweifel > absitzen!
Glatteis im Schatten – gefährliche Sturzgefahr auch für beschlagene Pferde.
Drei Gefahrenmomente auf einmal ...
In der Regel weigern sich Pferde, Sumpf- und Moorlandschaften zu betreten – im Zweifel sollte man immer dem Pferd glauben und aus Vorsicht absitzen!
Es poltert, kann rutschig sein, ein Brett kann durchbrechen, es besteht Absturzgefahr in den Bach etc. etc.! Stege sollten niemals beritten überquert werden.
Bei Reitergruppen: Absitzen, eine Person testet ohne Pferd die Sicherheit, dann mit einem verlässlichen Pferd vorgehen und einzeln zügig mit den anderen Pferden folgen.
Wichtig ist, dass am anderen Ufer kein Stau entsteht, also langsam mit Sichtkontakt weitergehen bis alle Pferde in Sicherheit sind.
Da hat´s jemand ganz besonders gut gemeint: Ein großes Loch am Rande eines häufig berittenen Weges wurde erst mit trockenem Gras zugehüllt, dann mit Eisenstangen begrenzt und – damit auch der Wind Freude hat – noch ein Trassierband gespannt. Der „Täter“ hat vermutlich dabei erwogen: „Das haben wir immer schon so gemacht“ und „dabei hab` ich mir nichts gedacht“ – ich denke, das sieht man.
Was bei älteren Pferden (und Menschen) durch Erfahrung kompensiert werden kann, ist für junge Individuuen oft furchterregend. Ein Reiter oder Fahrer sollte deshalb stets bedenken, dass extreme „Licht-Spiele“ eine gewohnte Umgebung stark verändern können.
Good & „bad vibrations“
Der kluge Pferdmensch vermeidet unnötigen Einfluss von „Schwingungen“ – welcher Art auch immer – am besten, indem man sie unterlässt (z.B. Telefonieren oder Spielen mit dem Handy im Sattel) oder indem er/sie möglichen Gefahrenquellen aufmerksam und mit ansteckender Ruhe für das Pferd begegnet:
Elektrizität
Brandgeruch
Pferde reagieren auf den Geruch nach „Feuer“ stets mit Skepsis.
Flugplätze, Modellflieger, Paragleiter usw.
Vielfältig sind Objekte, die sich im Luftraum bewegen: sieht man von den eher seltenen, mit Aliens besetzten Untertassen ab, so sollte man rechnen mit: Drohnen, Modellflugzeugen, Segel- und Motorflugzeugen, Luftmopeds, Drachenflieger, Paragleiter und Ballone – und große Vögeln!
Der Reiz geht einerseits optisch und akustisch vom „Flugobjekt“ selbst aus, andrerseits wirft der „Flieger“ seinen Schatten auf den Boden, der Pferde durchgehen lässt. Am besten meidet man so gut es geht belastete Gegenden.
Unterirdische Wasseradern
Aufmerksame Pferdemenschen haben die umgebende Landschaft im Blick. Reihenweise mit Misteln bewachsene Bäume weisen auf unterirdische Wasserläufe hin – Pferde sind „Strahlenflüchter“!
Weiden, Koppeln, Offenstallungen
An Weiden, Koppeln oder anderen Freiflächen vorbei zu reiten oder zu fahren, kann mit Aktionen der dort befindlichen Tiere (Pferde, Rinder, Schafe, Strauße) verbunden sein, die dann zu oft heftigen Re-Aktionen der Pferde unter dem Sattel oder an der Stange führen können.
Speziell weiße Ponys galoppieren gerne mit unschuldigen Gesichtern, aber hinterhältiger Attitüde bis an die Weidezäune und lösen so bei den berittenen bzw. eingespannten Pferden panisches Verhalten aus, als ob der Teufel persönlich hinter ihnen her wäre – stets sind dies unfallträchtige Situationen.
„Bad energy und schlechte vibes“
Ohne Zweifel gibt es Menschen mit schlechter Ausstrahlung – Pferde und Hunde haben dafür einen eigenen Sinn. Größere Menschenansammlungen wie bei Turnieren, Georgi- und Leonhardiritten, bieten diesen Typen die Anonymität der Menge. Manchmal genügt die bloße Annäherung an ein Pferd, manchmal ist es die Stimme oder der Geruch, manchmal ein „komisches“ Bewegungsmuster, das Pferde scheinbar grundlos „ausflippen“ lässt.
Am Besten vermeidet man grundsätzlich, dass fremde Personen ohne Zustimmung des Reiters oder Fahrers sich in „plumpen Vertraulichkeiten“ mit dem Pferd ergehen, es füttern, streicheln oder gar umarmen.
Das Schock- und Schmerzgesicht eines Pferdes kurz nach einer physisch und psychisch äußerst belasteten Situation mit völligem Kontrollverlust in Panik.
Die Erfahrungen, die hier aufgezeichnet sind, verdanke ich Großteils meinen eigenen Pferden, die ich ab den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Sattel und an der Deichsel haben konnte: Lisi (Deutsches Reitpony), Farah (Lipizzaner -Stute, halbseitig blind), Iwan (Trakehner-Wallach), Wendel (ÖWB, Wöhlernachkomme, Wallach), Desiree (ÖWB nach Furioso, Stute), Shy Blossom (Coloured Cob, Stute) sowie den Pferden meiner Frau, der schwierige Grannus-Sohn Goldrausch, der Spanier Marquis Posa, die gütige Knabstrupper-Stute Sevilla und den beiden vornehmen Alt-Kladruber-Wallachen Solo Ronda und Favory Fialka.
Dr. Reinhard Kaun/www.pferd.co.at / www.pferdesicherheit.at
|