News 

Rubrik
Zur Übersichtzurück weiter

Neuerscheinung: Rösser in Wien, die Kulturgeschichte einer Pferdestadt
10.09.2023 / News

Der Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sorgt mit seiner Neuerscheinung ,Rösser in Wien' von Herausgeber Gottfried Brem für eine kleine Sensation: Das gewichtige Buch ist die erste umfassende Darstellung des großen equestrischen Erbes von Wien – ein neues Standardwerk, das man bislang schmerzlich vermisste.


Was wäre Wien ohne seine Pferde? Man mag diese Frage ironisch deuten und darauf verweisen, dass es doch nach wie vor die Lipizzaner in der Hofreitschule, die Traber in der Krieau und die Fiaker am Stephansplatz gibt, Pferde zum Wiener Stadtbild also einfach dazugehören. Doch man kann diese Frage auch in einen größeren Kontext stellen – und vor allem den Blick in die Vergangenheit richten, in der Wien ohne Pferde schlichtweg undenkbar war und Pferde eben nicht nur ,dazugehörten', sondern gleichsam die Substanz und den Kern dieser urbanen Metropole gebildet und einen funktionierenden Alltag erst ermöglicht haben.

Das soeben erschienene Buch ,Rösser in Wien' führt eindrucksvoll vor Augen, dass diese Zeit noch gar nicht allzu lange zurückliegt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also vor etwas mehr als 100 Jahren, war Wien nach schwindelerregendem Wachstum eine der größten Städte der Welt, mit ca. 2,1 Millionen Einwohnern – und schätzungsweise 200.000 Pferden, die sie im buchstäblichen Sinn ,am Laufen' hielten. Pferde waren in der Stadt allgegenwärtig – als Statussymbol, als vierbeinige Athleten bei Rennen und Turnieren, als Reit- und Zugtiere und vor allem als Transportmittel für Waren aller Art: Pferde brachten Gemüse und Obst, Wein und Bier, Holz und Kohle, sie zogen die Straßenbahn ebenso wie den Feuerwehr-, den Leichen- und den Bäckerwagen.

Kurz gesagt: Ohne Pferde ging nichts – und das war nicht nur im Wien des ,Fin de Siècle' so, sondern auch schon in den Jahrhunderten davor, wie Herausgeber Gottfried Brem minutiös nachweist: Seit dem Mittelalter waren Pferde in Wien als wichtigster „Energielieferant" unverzichtbar. Einen historischen Höhepunkt erreichte die Rolle des Pferdes beim Wiener Kongress 1814/15, als mehrere tausend Pferde innerhalb kurzer Zeit für die zahlreichen Veranstaltungen und Festivitäten aufgetrieben werden und für längere Zeit versorgt werden mussten. Die Bewältigung des damit verbundenen logistischen Aufwands – von der Unterbringung der Pferde über die Bereitstellung von Geschirren, Wägen und Ausrüstung sowie von Stroh, Heu, Hafer und Wasser bis zur Entsorgung des Pferdemists – nötigt noch heute Respekt ab und stellte der Leistungsfähigkeit der Monarchie als ,Pferdeland' ein gutes Zeugnis aus.

Die Grundsteine für diese Leistungsfähigkeit gehen – wie bei so vielem in Österreich – auf Kaiserin Maria Theresia zurück, die bei Übernahme der Regierungsgeschäfte im Jahr 1740 bald erkannte, dass ihr Reich in vielen Belangen den Konkurrenten Bayern und Preußen unterlegen war, was sich in schmerzvollen Gebietsverlusten niederschlug. Sie gründete 1752 die Militärakademie in Wr. Neustadt – und unterfertigte 1756 das sogenannte „Prager Patent“ zur Förderung der inländischen Pferdezucht, um den großen Bedarf des Militärs an Remonten zu befriedigen. Diese umsichtige und weitblickende Maßnahme wirkte sich schon bald sehr positiv auf Umfang und Niveau der Landespferdezucht aus – und trug entscheidend dazu bei, Österreichs Stellung in Europa zu festigen. Auch die Gründung einer „Lehrschule für Viehkrankheiten" im Jahr 1765 geht auf Kaiserin Maria Theresia zurück – es war die Geburtsstunde der späteren Veterinärmedizinischen Universität Wien, die als Vorbild für die Monarchie und ganz Europa diente. Ihr ist im Buch ein eigenes, ausführliches Kapitel gewidmet.

Insgesamt werden in 28 Kapiteln die wichtigsten Schätze und Bestandteile des vielgestaltigen hippologischen Erbes Wiens behandelt – kenntnis- und detailreich und auf hohem wissenschaftlichen Niveau. Darunter findet man alle wichtigen und bisweilen auch weltberühmten hippologischen Institutionen Wiens – von den Fiakern über die Hofstallungen bis zur Spanischen Hofreitschule. Selbstverständlich wird auch ausführlich auf die Entstehung und Entwicklung von Pferderennen (Krieau, Freudenau) und Pferdesport eingegangen, in dem Wien ebenfalls Erstaunliches vorweisen kann.

Doch auch den weniger bekannten Pferde-Attraktionen wird nachgespürt – so kann man beispielsweise eine höchst interessante Darstellung des sogenannten ,Scharlachrennens' nachlesen, das auf Wiener Jahrmärkten vom 14. bis ins 16. Jahrhundert stattfand und das man sich als eine Art ,Wiener Palio' vorstellen darf. (Seine Bezeichnung hat übrigens nichts mit der gleichnamigen Krankheit zu tun – scharlachfarben war das Tuch, das der Erste dieses Pferderennens als Siegespreis erhalten hat.) Und man erfährt auch, was „Sardellendragoner" und „Fliegenschützpferde" sind.

Auf zwei besonders aufschlussreiche Kapitel sei ebenfalls hingewiesen: Das eine behandelt eine Wiener Einrichtung, die vor rund 200 Jahren etabliert wurde – nämlich die Pferdetramway bzw. in bescheidenerem Maße der Pferdeomnibus, das erste öffentliche Massenverkehrsmittel und gleichzeitig „ein Verkehrskonzept, das in der Form der „Elektrischen" und der Autobusse bis heute Bestand hat", wie hier nachlesen ist. Die Geschichte der Institution ist wechselvoll und spannend und begann 1815 mit den ersten sogenannten ,Stellwägen' begann. 1824 wurde im Prater die erste Versuchsstrecke mit Schienen unterschiedlicher Materialien (Holz, Gusseisen etc.) errichtet, bis 1840 schließlich die erste Straßenbahnlinie Wiens in Betrieb genommen wurde, die von der Reiterkaserne beim Augarten in Richtung Donaukanal bis zum Vergnügungsetablissement ,Colosseum' führte. Ebenfalls interessant: Die bis heute in Wien gebräuchliche Bezeichnung „Tramway" erinnert an den ersten (misslungenen) Versuch einer Pferdestraßenbahn in New York, der 1832 spektakulär scheiterte.

Ein weiteres, nicht minder spannendes Kapitel ist der berittenen Polizei von Wien gewidmet, die in der Monarchie bis in die Zeit der Ersten Republik ein unverzichtbarer Bestandteil der Exekutive war und aufgrund ihrer reiterlichen Fähigkeiten auch internationales Ansehen genoss. Ihr jäher Untergang begann mit der Niederschlagung der Arbeiteraufstände und dem Justizpalastbrand 1927, in der die ,Berittenen' gegen die vor dem Parlament und dem Justizpalast demonstrierenden Menschen eingesetzt und in schwere Auseinandersetzungen verwickelt wurden. Beinahe alle eingesetzten Reiter wurden verletzt, zehn davon schwer. Insgesamt starben bei den Kämpfen am Tag des Justizpalastbrands 89 Demonstranten, ein Kriminalbeamter und vier Sicherheitswachbeamte. Der Einsatz gegen die demonstrierende Arbeiterschaft erwies sich als historisch verhängnisvoll und führte zu einer nachhaltigen Diskreditierung der berittenen Polizei bei großen Teilen der Wiener Bevölkerung. Als es nach 1945 aus verschiedenen Gründen nicht mehr zur Etablierung einer berittenen Polizeieinheit in Wien kam, spielte die böse Erinnerung an den Justizpalastbrand und die fatale Rolle der berittenen Polizisten dabei zweifellos eine nicht unerhebliche Rolle. Der Versuch einer ,Neubelebung' dieser Tradition durch Innenminister Herbert Kickl im Jahr 2018 war zum Scheitern verurteilt, ebenso wie vorangegangene ähnliche Bestrebungen.

In der öffentlichen Debatte um die berittene Polizei spielten auch das Pferdewohl und der Tierschutz eine maßgebliche Rolle – und es ist ein besonderes Verdienst dieses Buches, auch diesen Aspekt offen und ausführlich anzusprechen. Denn damals wie heute gilt: Je mehr Pferde im öffentlichen Raum Verwendung fanden und somit auch ,sichtbar' waren, umso mehr Unfälle ereigneten sich auch – und umso öfter wurde das Los der ,geschundenen' und ,ausgebeuteten' Pferde zum Gegenstand von Zeitungsschlagzeilen und Ziel der Kritik von Tierschutzorganisationen. Diese Kritik war gewiss oftmals berechtigt – doch nicht immer entsprach das medial kolportierte Bild auch der Realität, wie das Buch am Beispiel der ,Tramwaypferde' nachweisen kann. Dazu heißt es: „Die Pferde waren für die Tramway-Gesellschaften das wichtigste Betriebskapital und wurden sehr professionell und sorgfältig versorgt. Die ermittelte Krankheitshäufigkeit, gemessen in Krankentagen pro Jahr, ist mit 1,3 bis maximal 9 Prozent als gering anzusehen. Die durchschnittliche Nutzungsdauer der Tramwaypferde von 5,6 bis maximal 8,1 Jahren liegt über den Werten, die beispielsweise in letzter Zeit für Dressurpferde (5 Jahre) ermittelt wurden."

Verbesserungen des Pferdewohls sind dennoch eine permanente Notwendigkeit und Herausforderung für alle Pferdebesitzer und Pferdebetriebe Wiens geblieben. Nirgends wird dies deutlicher als am sogenannten „Fiakerproblem", das auch in diesem Buch ausführlich behandelt wird. Diese so typische Wiener Tradition, die 1693 mit der ersten kaiserlichen Lizenz für eine zweispännige, vierrädrige Lohnkutsche ,nach französischem Muster' begann, steht bekanntlich seit Jahren auf dem Prüfstand – und die öffentliche Debatte darüber wird immer mehr von emotionalen Standpunkten bestimmt. Ob die Fiaker auch künftig durch Wien traben werden – und wo und wie sie das tun dürfen – wird die Zukunft zeigen. Doch hier kann man nachlesen und nachempfinden, wie groß der Verlust wäre.

Gottfried Brem schreibt in seiner Einleitung: „Das vorliegende Buch möchte daran erinnern, welche bedeutenden Rollen und Funktionen das Pferd in Wien innehatte und dass der Aufstieg Wiens zur Großstadt ohne diese Tiere nicht denkbar gewesen wäre." Das führt uns wieder zur anfänglichen Frage zurück: Was wäre Wien ohne seine Pferde? Und wäre Wien denkbar ohne seine Fiaker?

„Rösser in Wien" lädt zum Nachlesen und Nachdenken ein – es ist ein eindrucksvolles, spannendes, wunderbares Buch, das in keiner Pferdebibliothek fehlen sollte und  jedem Pferdefreund mit Nachdruck ans Herz gelegt sei!

Gottfried Brem (Hg.): Rösser in Wien. 637 Seiten, Format 27x22 cm, mit zahlreichen Farb- und s/w-Abbildungen. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2023. Preis: 98,– Euro. Bestellung ist über diesen Link möglich.

Kommentare

Bevor Sie selbst Beiträge posten können, müssen Sie sich anmelden...
Zur Übersichtzurück weiter

 
 
ProPferd.at - Österreichs unabhängiges Pferde-Portal − Privatsphäre-Einstellungen