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Wie Pferde aus einem autistischen Mädchen eine weltberühmte Professorin machten
10.07.2019 / News

Prof. Temple Grandin zählt zu eindrucksvollsten Wissenschaftlerinnen der USA.
Prof. Temple Grandin zählt zu eindrucksvollsten Wissenschaftlerinnen der USA. / Foto: Colorado State University

In einem bemerkenswerten Artikel schildert die bekannte Tierwissenschaftlerin Prof. Temple Grandin, wie sie mit ihrem Autismus umzugehen lernte und welch wichtige Rolle dabei Pferde gespielt haben.

 

Prof. Temple Grandin ist zweifellos eine der schillerndsten und faszinierendsten Wissenschaftlerinnen der USA. Die Dozentin für Tierwissenschaften an der Colorado State University in Fort Collins ist Autistin – die es jedoch geschafft hat, aus dem Schatten ihrer Erkrankung zu treten und die Besonderheiten ihres Zustands für ihre wissenschaftliche Arbeit zu nutzen. Ihre besondere Empfindsamkeit und feine Auffassungsgabe machten sie zu einer der führenden Expertinnen auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie – und ermöglichten es ihr, zu einer weltweit anerkannten Spezialistin für die Konzeption von tierfreundlichen Viehhaltungs-Systemen zu werden. Im Jahr 2010 wurde ihr Leben unter dem Titel „Du gehst nicht allein" (Originaltitel: Temple Grandin) mit Claire Danes in der Hauptrolle vom Fernsehsender HBO verfilmt. Diese Produktion wurde vielfach ausgezeichnet, darunter mit mehreren Emmys sowie einem Golden Globe. 2016 wurde Prof. Grandin zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.

In einem aktuellen Artikel für die Zeitschrift ,Int. Journal of Environmental Research and Public Health' berichtet Prof. Grandin von ihrem eindrucksvollen beruflichen und persönlichen Werdegang – und welche besondere Rolle dabei Pferde gespielt haben. Sie beschreibt, wie Aktivitäten rund ums Pferd es ihr ermöglichten, Freunde durch das gemeinsame Interesse an Pferden zu finden – und wie ihr die Vertantwortung, jeden Tag für Pferde zu sorgen und ihre Boxen zu putzen, auch beigebracht haben, diszipliniert und gewissenhaft zu arbeiten. „Nach meinen Erfahrungen kann man enorm viel von der Arbeit mit Pferden profitieren", so Prof. Grandin. In ihrem Fall führte dieses Interesse an Pferden zu einer über 40-jährigen erfolgreichen Karriere im Bereich der Viehhaltung – und machte sie zu einer international bekannten Expertin für Tierschutz und Autismus.

Temple Grandin berichtet, dass sie im Alter von drei Jahren „alle Anzeichen von schwerem Autismus" aufwies: Sie konnte nicht sprechen, zeigte ständiges Wiederholungs-Verhalten und wurde von Wutanfällen überwältigt. Durch eine frühe intensive Sprachtherapie und der Technik des Sprecherwechsels bei Spielen konnte sie diese Defizite aber rasch kompensieren und war im Alter von vier Jahren in der Lage, vollständig zu sprechen.
So war es ihr auch möglich, mit fünf Jahren in eine normalen Grundschule einzutreten. Hier hatte sie noch keinerlei Probleme mit ihren MitschülerInnen und wurde durch ältere, erfahrene Lehrer wie Alice Dietsch besonders gefördert und unterstützt. Dietsch erklärte den anderen Kindern, „dass ich eine Behinderung habe, die nicht so sichtbar ist wie ein Rollstuhl. Alice Dietschs Erklärung motivierte die anderen Schüler, mir zu helfen, anstatt mich zu ärgern und zu schikanieren. Die anderen Schüler ermutigten mich, mit ihnen zu spielen und die Regeln eines Spiels zu befolgen. Heutzutage wird diese Methode als Peer-vermittelte Intervention gegen Autismus bezeichnet. Untersuchungen zeigen, dass es wirksam ist."

Erst mit der Einschreibung an der Highschool begannen die Probleme – die Highschool wurde für Temple Grandin „eine absolute Katastrophe. Mit 14 Jahren kam ich in die Pubertät, und zu diesem Zeitpunkt begann das Mobbing. Es gab keinen Lehrer, der den anderen Mädchen erklärt hätte, dass sie mich nicht schikanieren sollten. Zu dieser Zeit interessierten sich andere Mädchen für Kleidung, Jungs und Schmuck. An alldem hatte ich kein Interesse. In der Grundschule hatte ich Freunde durch gemeinsame Interessen im Kunstunterricht, Nähen und Holzarbeiten."

Das änderte sich mit der Highschool grundlegend, so Grandin. Dort „hatte ich keine Freunde mehr aus einem besonderen gemeinsamen Interesse. Gemeinsame Interessen sind eine wichtige Möglichkeit für Teenager mit Autismus, Freunde zu finden. In der neunten Klasse – ich war damals 14 Jahre alt – wurde ich von der Schule verwiesen, weil ich ein Buch nach einem Mädchen geworfen hatte, das mich als zurückgeblieben bezeichnet hatte. So kam ich auf ein spezielles Internat, das sich auf einer Farm befand, auf der sowohl Pferde als auch Milchkühe lebten. Viele der Schüler dieser Schule hatten Autismus. In meinem Buch ,Animals in Translation' habe ich erklärt, dass sich mein Leben fortan um Pferde drehte. Zu diesem Zeitpunkt erkannte ich nicht, wie sehr ich in Wahrheit von ihnen profitierte." Die Pferde haben Temple Grandins Entwicklung durch zwei wesentliche Aspekte unterstützt: sie halfen ihr in ihrer sozialen Entwicklung und beim Aufbau von Freundschaften – und sie haben ihr das Arbeiten beigebracht.

Der Besuch des Internats beendete das Mobbing nicht. Die anderen Schüler nannten sie ,Kassettenrekorder', weil sie immer die gleichen Sätze benutzte. Andere Studenten langweilten sich, wenn sie über meine Lieblingsthemen wie Karnevalsumzüge sprach. Doch, so Temple Grandin: „Es gab eine Zuflucht, die mich vor Mobbing und Scherzen schützte: Keiner der Mobber nahm am Reiten teil. Als ich entweder auf einem Ausritt unterwegs war oder in der Reitbahn Unterricht nahm, war ich mit Teenagern zusammen, die alle das gleiche Interesse an Pferden hatten wie ich. Dadurch konnte ich Freundschaft mit einem Mädchen namens Carol schließen. Wir wurden Mitbewohner und unsere ganze Welt drehte sich um Pferde. In unserem Stall befand sich ein wirklich gutes Pferd, das für Turniere geeignet war. Carol und ich teilten uns die Stute, als wir an einem Turnier teilnahmen. Ich bin einige Bewerbe mit ihr geritten – und Carol andere. Dabei habe ich gelernt, wie man teilt.“

Weiter schreibt Temple Grandin: „Die Forschung zeigt deutlich, dass Reiten und Pferdeaktivitäten soziale Kommunikation und Engagement verbessern. Im Allgemeinen sind Therapieaktivitäten mit Tieren nützlich, um die soziale Interaktion zu fördern. Pferdeaktivitäten haben den größten Nutzen, wenn Kinder sie regelmäßig durchführen – wobei zu beachten ist, dass die Therapie mit Pferden oder Hunden nicht bei allen Menschen mit Autismus funktioniert. Ich habe drei verschiedene Arten beobachtet, wie Menschen mit Autismus auf Tiere reagieren: 1) Sie lieben sie, 2) sie haben zuerst Angst, lieben sie dann oder haben 3) sensorische Probleme, die das Kind dazu bringen, Tieren auszuweichen. So kann beispielsweise ein Kind fürchten, dass ein Hund bellt oder ein Pferd wiehert und so ihren Ohren wehtut. Auch Geruch kann ein weiteres Hindernis für einige Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sein."

Auch in anderer Weise profitierte Temple Grandin von der Beschäftigung mit Pferden: „Mit Pferden verbesserte sich mein soziales Leben, aber ich war immer noch eine schlechte Studentin, die kein Interesse am Lernen hatte. Abgesehen vom Biologieunterricht hatte ich kein Interesse an Schularbeiten. Mr. Patey, der Schulleiter, beschloss daher, mich mit der Pflege der Pferde und der Reinigung ihrer Boxen zu beauftragen. Er sagte meiner Mutter, dass ich meine Pubertät überstehen müsse und später studieren könnte. Ich putzte jeden Tag neun Boxen für acht Pferde und einen Esel. Es war harte Arbeit, aber ich blühte förmlich auf unter der Verantwortung, den Pferdestall zu managen. Zusätzlich zur Stallreinigung habe ich die Pferde auf die Weide gebracht und sie gefüttert. Es war ein richtiger Job und ich habe ihn jeden Tag gemacht. Eines der größten Probleme für Menschen mit Autismus ist die Beschäftigung]. Sich um die Pferde zu kümmern war eine verantwortungsvolle Aufgabe. Ich habe sehr darauf geachtet, den Getreidekasten nie offen zu lassen. Ich wusste, dass ein Pferd, das an eine offene Getreidekiste gerät, sich überfressen und sterben kann." Die harte, körperliche Arbeit im Pferdestall trug außerdem dazu bei, ihre Ängste zu beruhigen.

Insgesamt habe sie von der Arbeit und der Beschäftigung mit Pferden enorm profitiert, so Prof. Grandin abschließend – und zwar in zweifacher Hinsicht: „Der erste Vorzug bestand darin, sich durch ein gemeinsames Interesse an Pferden und Reiten anzufreunden. Meine Mitbewohnerin und ich haben eng zusammengearbeitet, um unsere Pferde auf das Turnier vorzubereiten. Dies brachte mir auch jene Disziplin bei, um beim Reiten voranzukommen. Ein zweiter Vorteil war das Erlernen von Verantwortung und Arbeitskompetenz. Ich putzte jeden Tag Ställe, fütterte die Pferde, brachte sie auf die Weide und wieder zurück in den Stall. Dadurch konnte ich auch Selbstvertrauen gewinnen. Der für das Pferdeprogramm zuständige Mitarbeiter machte mir auch klar, dass er meine gute Arbeit im Stall anerkannte."

Ihr eindrucksvolles Resümee: „In der Highschool bot das Reiten eine Zuflucht vor Mobbing, und ich habe Freunde durch gemeinsame Interessen an Pferden gewonnen. Die Fähigkeit zu arbeiten habe ich durch die Pflege von Pferden und die Reinigung ihrer Boxen gelernt. Für Menschen mit Autismus ist es wichtig, sich die Kompetenz für zielgerichtetes, produktives Arbeiten anzueignen. Pferdeaktivitäten können Jugendlichen mit ASS beim Erlernen sozialer und beruflicher Fähigkeiten zugute kommen."

All das beweist das persönliche Beispiel von Prof. Temple Grandin überaus eindrucksvoll ...

Der Artikel „Case Study: How Horses Helped a Teenager with Autism Make Friends and Learn How to Work" von Prof. Temple Grandin ist am 1. Juli 2019  im ,International Journal of Environmental Research and Public Health' erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden.

Hier der Kino-Trailer des Films „Du gehst nicht allein", der die Lebensgeschichte von Prof. Temple Grandin auf sehr berührende und beeindruckende Weise nachzeichnet ...

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