Der Tod eines jungen Menschen – zumal unter tragischen, völlig unverschuldeten Umständen – erfüllt uns mit Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Es ist wie ein grausamer Prankenhieb des Schicksals, der eine Wunde aufreißt, die sich niemals wieder ganz schließt. Die beiden so tragischen Todesfälle der 19-jährigen Caitlyn Fischer und – wenige Wochen zuvor – der 17-jährigen Olivia Inglis haben etwas verändert, auch in mir, wie ich gestehen muss.
Seit mehr als 25 Jahren bin ich Pferdejournalist und aufmerksamer Beobachter der Pferdeszene. Und ich war – und bin es immer noch – ein Bewunderer der Vielseitigkeit. Keine Disziplin ist mit ihr vergleichbar – nirgendwo sonst gibt es diese einzigartige Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd, die sich in drei so grundverschiedenen Aufgaben bewähren muss und in der, neben vielem anderen, vor allem das ,Horsemanship' des Reiters über den Erfolg entscheidet. Und nirgendwo sonst gibt es mitreißendere, schönere Bilder als am Geländetag einer Vielseitigkeit, wenn Pferd und Reiter, ganz zur Einheit verschmolzen, über Hügel und Wasser hinweg durch ein Menschenspalier fliegen. All das macht die Faszination der Vielseitigkeit aus.
Doch – wie alles im Leben – hat auch diese Schönheit ihren Preis: Es gibt – wenngleich verläßliche Statistiken dazu fehlen – wohl keine andere pferdesportliche Disziplin, die einen solchen Tribut an Menschen- und Pferdeleben fordert. Tote Reiter und tote Pferde sind in der Vielseitigkeit seit jeher in erschreckend hoher Zahl zu beklagen – das Gefahrenpotential dieses schönen, faszinierenden Sports wird niemand leugnen, der sich ernsthaft damit beschäftigt hat.
Nun kann man einwenden: Auch andere Sportarten sind gefährlich – und auch beim bloßen Ausreiten oder sogar beim Voltigieren könne es zu schicksalhaften, unvermeidbaren Unfällen kommen. Es gäbe keinen völlig risikofreien Sport, wie es auch kein völlig risikofreies Leben gibt. Das stimmt zweifellos – doch die entscheidende Frage ist stets die Relation zwischen Risiko und Glücksgewinn: Welches Gefahrenpotential kann man noch guten Gewissens akzeptieren – und ab wann verzichten wir lieber auf den genussvollen Schauer der Glückshormone, weil uns die Sache zu brenzlig wird? Diese Frage stellt sich für jeden individuell, also auf persönlicher Ebene – aber im Falle des Sports auch für die zuständigen Veranstalter bzw. Verbände: Diese haben nämlich die Verantwortung, alles dafür zu tun, um eine faire und sichere Ausübung des Sports zu gewährleisten und dürfen die Aktiven keinen übermäßigen Gefahren aussetzen.
Niemand wird in Abrede stellen, daß der Vielseitigkeits-Sport insgesamt in den letzten 10 bis 15 Jahren vieles unternommen hat, um der Dauerkritik und der permanent gestellten Sicherheits-Frage etwas entgegegenzusetzen. Man hat Reglements und Startbedingungen verschärft, damit nur ausreichend qualifizierte ReiterInnen und Pferde in den jeweiligen Bewerben teilnehmen; man hat die Ausrüstung sukzessive verbessert, Protektoren, Airbag-Westen und bessere Helme eingeführt, um optimalen Schutz für die Reiter zu gewährleisten; und man hat – nach langjähriger Diskussion und mühsamer Überzeugungsarbeit – endlich begonnen, abwerfbare Hindernisse zumindest teilweise in die Geländeparcours zu integrieren. Man hat etwas getan, das steht ohne Zweifel fest – aber hat man auch genug getan? Und vor allem: Hat all das auch tatsächlich und nachweisbar zu mehr Sicherheit geführt?
Ein Blick auf die menschlichen Unglücksfälle (die der Pferde kommen noch erschwerend hinzu) der letzten Jahre – der wohlgemerkt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit stellt – lässt einen daran zweifeln:
– Am 29. Juni 2007 starb die 40-jährige Anke Wolf beim Hamburg-Cup in Neu Wulmsdorf.
– Am 3. August 2007 starb die 32-jährige Tina Richter-Vietor bei der deutschen VS-Meisterschaft in Schenefeld bei Hamburg.
– Am 6. April 2008 starb der 62-jährige Franz Graf beim Vielseitigkeitsturnier in Aspang/NÖ.
– Am 18. September 2010 starb der 22-jährige Sebastian Steiner beim CIC*** im italienischen Montelibretti.
– Am 21. September 2011 starb die 30-jährige Irene Dempsey bei einem Trainingssturz an der MilAk in Wr. Neustadt.
– Am 2. März 2013 starb der 60-jährige Franzose Bruno Bouvier im portugiesischen Barroca D'Alva.
– Am 18. August 2013 verstarb der 26-jährige Neuseeländer Tom Gadsby bei den Somerford Park International Horse Trials im englischen Congleton.
– Am 14. Juni 2014 starb der 25-jährige Benjamin Winter nach einem Sturz in Luhmühlen
– Am 14. Februar 2015 starb der 30-jährige Portugiese Francisco Seabra im spanischen Sevilla.
– Am 12. April 2015 starb die 25-jährige Italienerin Sabrina Manganaro im italienischen Cuceglio.
– Am 6. März 2016 starb die 17-jährige Olivia Inglis bei den Scone Horse Trials in Hunter Valley/Australien.
– Am 30. April 2016 starb die 19-jährige Caitlyn Fischer bei den Sydney Horse Trials in Australien.
Wie diese schreckliche Aufstellung zeigt, waren in den letzten Jahren zumindest ein bis zwei Todesfälle pro Jahr zu beklagen – ein Blutzoll (auch wenn dieser Vergleich in mancher Hinsicht hinkt) in einer ähnlichen Dimension, wie sie der Formel I-Sport in den 60er und 70er Jahren aufgewiesen hat (siehe diese Aufstellung auf Wikipedia). Und wie sie für die Formel I Anlass war, eine grundsätzliche Sicherheits-Diskussion einzuleiten und auch entschiedene Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die positiven Auswirkungen sind durch Zahlen klar dokumentiert: Seit dem ,schwarzen Wochenende' von Imola 1994, als Roland Ratzenberger und Ayrton Senna tödlich verunglückten, hat es nur mehr einen einzigen Todesfall in der Formel I gegeben, nämlich von Jules Bianchi am 17. Juli 2015. Davor waren 20 Jahre ohne Todesfall in Rennen oder Training.
In diesem Vergleich schneidet der Vielseitigkeits-Sport denkbar schlecht, ja, katastrophal ab. Trotz aller Verbesserungen sinkt die Zahl der tragisch Verunglückten nicht – im Gegenteil, sie scheint seit 2013 sogar noch zu steigen. Und hier muss sich – bei allem Verständnis – der Vielseitigkeits-Sport die Frage gefallen lassen, ob wirklich alles erdenklich Mögliche getan wurde, um den Sport für Mensch und Pferd sicherer zu machen – und vor allem, ob man es entschlossen und entschieden genug getan hat? Aus meiner Sicht kann die Antwort darauf nur ,Nein' lauten. Der VS-Sport hat viel zu zaghaft, zu halbherzig und zu kompromisslerisch reagiert und aus Angst, irgendwelche ,Stakeholders' zu verärgern, vor entschiedenen Maßnahmen zurückgescheut. Diese aber wäre er den Sportlern und den Pferden schuldig gewesen. In der Formel I hat man das gewusst und hat entschiedene Schritte gesetzt – hier ist man aber auch gleichsam von Natur aus innovations-getrieben, ganz im Gegensatz zum konservativen Pferdesport, in dem die Tradition so hochgehalten wird und man Veränderungen grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Diese Haltung muss endlich überwunden werden.
Denn die Verantwortlichen wissen genau, wo die größte Gefahr auf der Geländestrecke lauert: es sind die sogenannten ,Rotationsstürze' (,rotational falls'), bei denen das Pferd am festen Hindernis hängenbleibt, sich überschlägt und in allzu vielen Fällen auf den Reiter fällt. Genauso war es bei nahezu allen zuvor angeführten Todesfällen der letzten Jahre – sie alle waren Opfer eines Rotationssturzes und wurden von ihrem Pferd erschlagen (eine Ausnahme war der tragische Tod von Benjamin Winter 2014 in Luhmühlen, der nicht von seinem Pferd getroffen wurde, sondern bei seinem Sturz so unglücklich am Boden aufschlug, daß er an den erlittenen schweren Kopfverletzungen verstarb). Bei keinem einzigen der Todesfälle wurde Kritik an den Parcoursdesignern oder technischen Delegierten geübt – nie konnte man unfairen, zu schweren Geländebau vorwerfen, der Pferd oder Reiter überfordert hätte. Und niemals war dem Reiter oder der Reiterin ein Fehler vorzuwerfen, eine zu riskante Linie oder ein allzu waghalsiges Tempo. Nie trug irgendjemand persönliche Schuld – es war das Schicksal, das grausam zuschlug, ein ,freak accident', wie es im Englischen so bezeichnend heißt, ein außergewöhnlicher, unvorhersehbarer und nicht zu verhindernder Unfall.
Doch können wir das tatsächlich noch ernsthaft behaupten – oder dient es nicht eher der eigenen Gewissensberuhigung? Längst ist bekannt, daß der entscheidende Auslöser die fest gebauten Hindernisse sind, an denen die Pferde hängenbleiben und sich überschlagen, oft mit verheerenden Folgen. Längst gibt es ausgereifte und hinreichend erprobte Alternativen in Form von abwerfbaren bzw. nachgebenden Hindernissen – die zwar Stürze und Unfälle nicht gänzlich ausschließen können, aber die fürchterlichen ,rotational falls' weitgehend verhindern würden. Die Vielseitigkeits-Szene hat mit der flächendeckenden und obligatorischen Einführung dieser Hindernisse viel zu lang zugewartet, auf zuviele Meinungen und Interessen Rücksicht genommen und sich zu sehr in technischen und grundsätzlichen Debatten verzettelt, ob der Sport dadurch nicht seinen Charakter und seinen Reiz verliere und anderen Unsinn.
Im Lichte der aktuellen, so entsetzlichen Geschehnisse kann der Befund nur lauten: Es ist genug! Wieviele Menschen und Pferde müssen noch sterben, ehe man endlich die viel zu riskanten festen Hindernisse beseitigt und den Sport endlich sicherer macht? Jeder Sport muss mit der Zeit gehen und sich anpassen – das muss endlich auch der Vielseitigkeits-Sport tun, oder er wird sich irgendwann ganz aufhören. Ich weiß nicht, wie es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser geht – aber mir reicht's. Es reicht mir, Jahr für Jahr die Todesmeldungen von 17-, 19- oder 22-jährigen Menschen zu lesen, die bei unvorhersehbaren, tragischen Unglücksfällen ums Leben kommen. Dafür gibt es keine Rechtfertigung mehr – jetzt nicht mehr, meint
Ihr
Leopold Pingitzer
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