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Stress bei Pferden bleibt oft unerkannt – aus einem überraschenden Grund
07.01.2020 / News

Die Test-Videos zeigten Pferde in unterschiedlichen Situationen bzw. reitsportlichen Disziplinen, nämlich Dressur (1), Natural Horsmanship (2), Arbeit an der Hand (3) gebissloses Reiten (4), Reining (5) und Verhaltenstraining (6).
Die Test-Videos zeigten Pferde in unterschiedlichen Situationen bzw. reitsportlichen Disziplinen, nämlich Dressur (1), Natural Horsmanship (2), Arbeit an der Hand (3) gebissloses Reiten (4), Reining (5) und Verhaltenstraining (6). / Foto: Catherine Bell et.al./animals

Eine aktuelle Studie zeigt, dass Reiter sehr häufig Anzeichen für Stress und Unbehagen bei Pferden nicht erkennen – das gilt auch für erfahrene Pferdebesitzer und Profis. Der Grund dafür ist höchst bemerkenswert ...

 

Die vor kurzem veröffentlichte Studie, die von Mitgliedern der britischen ,Equine Behaviour and Training Association’ und des Portals Epona.tv aus Dänemark durchgeführt wurde, zeigt auf, wie schwer es Pferdebesitzern fällt, einen objektiven Blick auf das Verhalten und die Verfassung von Pferden zu werfen – und dass selbst langjährige, erfahrene Besitzer große Schwierigkeiten dabei haben, Stress-Symptome oder Anzeichen von Unbehagen, Angst oder Schmerzen bei Pferden korrekt zu erkennen bzw. richtig zu interpretieren.

Um diese Fähigkeit, Anzeichen von eingeschränktem Wohlbefinden bei Pferden zu erkennen, zu überprüfen, wurden Mitglieder aus diversen Facebook-Gruppen zum Thema Pferd (darunter auch die Community des Magazins ,Horse&Hound’) dazu eingeladen, sich sechs unterschiedliche Videos anzusehen und zu kommentieren. Die Videos waren von den Studien-AutorInnen ausgewählt worden und zeigten Pferde in unterschiedlichen Situationen bzw. reitsportlichen Disziplinen, nämlich Dressur (Video 1), Natural Horsmanship (Video 2), Arbeit an der Hand (Video 3) gebissloses Reiten (Video 4), Reining (Video 5) und Verhaltenstraining (Video 6). Allen sechs Videos war eines gemeinsam – sie zeigten Pferde, die mehr oder weniger deutlich erkennbare Anzeichen von Stress, Angst, Schmerzen oder Überforderung erkennen ließen, die also Verhaltensweisen zeigten, die auf einen negativen Einfluss des Reiters bzw. Trainers hindeuteten. Dies war auch von sechs ausgewiesenen Verhaltens-Spezialisten bestätigt worden, die ebenfalls diese Videos bewerteten und deren Urteil als Vergleichsbasis für die Online-Befragung diente.

Die Auswertung der Befragung – an der insgesamt 185 Personen (davon ca. 80 % aus Großbritannien) teilgenommen hatten – ergab ein überaus interessantes Ergebnis, das auch die Erkenntnisse vorangegangener Untersuchungen bestätigt: dass nämlich „Pferdehalter die Verhaltenshinweise für Stress, die von Pferden gezeigt werden, nicht immer erkennen. Während viele der Befragten zumindest in einigen Videos negative Verhaltensweisen erkennen konnten, machten einige gleichzeitig widersprüchliche Angaben und vergaben auch positive Attribute für diese Videos. Die Videos 2 und 4, in denen Natural Horsemanship bzw. gebissloses Reiten gezeigt wurden, waren besonders gefährdet, falsche Antworten hervorzurufen, was darauf hindeutet, dass die Befragten zwar negative Verhaltensweisen in konventionellen Reitdisziplinen erkennen können, aber zugleich häufig dazu neigen, das Verhalten in weniger traditionellen Reitweisen falsch zu interpretieren.“

Im konkreten Fall stuften etwa sämtliche sechs Verhaltens-Spezialisten das in Video 4 (gebissloses Reiten) gezeigte Pferd als ,gestresst' ein - während es von den 185 Befragten lediglich 65 taten. Das Attribut ,ängstlich' (fearful) vergaben fünf von sechs Experten – aber nur 38 der 185 Personen der Online-Befragung. Beim Video 2 (Natural Horsemanship) war es ähnlich: Hier erkannten vier der sechs Experten ein „gestresstes" Verhalten – aber nur 40 der 185 Online-Befragten.

Auch der Faktor Erfahrung bot lt. den Wissenschaftlern „keinerlei Garantie dafür, dass man korrekte Antworten erhielt. Auch die selbst-zugeschriebene Fähigkeit, Anzeichen von Furcht, Stress oder Beunruhigung erkennen zu können, hatte keinerlei Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, korrekte Antworten zu bekommen.“ So war für die Studien-AutorInnen besonders interessant, dass von den 21 Befragten, die in mindestens einem Video ,Sturheit’ bemerkt haben wollten, 19 erfahrene Pferdebesitzer bzw. Pferde-Profis waren. Auch dies deutet darauf hin, „dass die Reiterfahrung keinerlei Garantie dafür bietet, dass man das Verhalten von Pferden exakt und korrekt erkennen kann“, so die Forscher.

Eine weitere interessante Beobachtung: Bei den Befragten, die als ihre bevorzugte Arbeits- bzw. Trainingsmethode das Clicker-Training angegeben hatten, war die Übereinstimmung mit den Experten-Urteilen größer als bei den anderen Umfrage-Teilnehmern – sie schienen also besser in der Lage zu sein, die in den Videos gezeigten Verhaltensweisen korrekt zu interpretieren.

Dr. Bell: „Diese neuartigen Methoden lullen uns ein!"
Das Resümee der Wissenschaftler: „Es war spannend festzustellen, dass Anzeichen von Stress und Angst bei Pferden, die beim Natural Horsemanship verwendet oder gebisslos geritten wurden, nicht so gut erkannt wurden wie Anzeichen von Stress etwa bei einem Dressur- oder Reining-Pferd", so Autorin Dr. Catherine Bell. „Es scheint, als ob diese neuartigen Methoden bzw. Reitweisen uns in gewisser Weise ,einlullen’ und uns zur Annahme verleiten, dass das Pferd in Ordnung ist." Soll heißen: Das „Image" von Natural Horsemanship und gebisslosem Reiten, wonach diese beiden Methoden als besonders sanft und pferdefreundlich gelten, verleitet vielfach dazu, Symptome von Stress oder Unbehagen bei diesen Reitweisen zu übersehen bzw. zu ignorieren. Man versucht gleichsam unbewusst, die eigene Beobachtung mit dem öffentlich suggerierten Bild in Übereinstimmung zu bringen – anders gesagt: Wir sehen das, was wir sehen wollen bzw. was unseren Erwartungen entspricht – ein aus der Psychologie wohlbekanntes Phänomen, selektive Wahrnehmung genannt.

Bemerkenswert war für Dr. Bell auch, dass „selbst langjährige Pferdebesitzer und sogar Profis die subtile Körpersprache des Pferdes nicht besser erkennen konnten als Anfänger. Und viele von uns überschätzen auch die eigenen Fähigkeiten, unabhängig von der Reiterfahrung."

Die Forscher glauben, dass ihre Ergebnisse sowohl für das Wohlergehen von Pferden als auch für die Sicherheit des Menschen relevant sind. Anstatt zu warten, bis ein Pferd gefährliche Anzeichen von Angst wie z. B. Rückwärtsweichen oder Durchgehen zeigt – und diesen Verhaltensweisen auch noch mit erhöhtem Druck zu begegnen – könnten Pferdebesitzer lernen, bereits auf subtilere Anzeichen von Stress zu reagieren und so Unfälle zu verhindern.

„Man darf die Auswirkung, die schon der normale Umgang mit unseren Pferden auf deren Wohlbefinden hat, niemals unterschätzen", so Dr. Bell abschließend. Wenn man diese frühen Anzeichen von Angst und Stress ignoriert, kann das Verhalten von Pferden leicht eskalieren und für den Menschen gefährlich werden. Wenn man hingegen mitfühlend und rechtzeitig auf diese feinen Signale reagiert, verringert sich die Wahrscheinlichkeit von gefährlichen Verhaltensweisen, „und das bringt mehr Sicherheit für uns selbst und unsere Pferde.“

Und das Phänomen der ,selektiven Wahrnehmung' überlistet man am besten, in dem man die eigenen Ansichten kritisch hinterfragen lernt – und versucht, die Fakten zu sehen. Auch dazu können Untesuchungen wie diese zweifellos beitragen ...

Die Studie „Improving the Recognition of Equine Affective States" von Catherine Bell, Suzanne Rogers, Julie Taylor und Debbie Busby ist am 19. Dezember 2019 in der Zeitschrift ,animals' erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden.

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