Studie: 44 von 60 Pferden zeigen Lahmheit, und ihre Reiter bemerken es nicht
15.10.2020 / News
Traurig, aber wahr: Ein großer Teil der Reiter ist nicht in der Lage, Lahmheits-Signale bei seinem Pferd zu erkennen. / Symbolfoto: Archiv/Pixabay
Eine aktuelle Studie britischer Wissenschaftler brachte gleich zwei beunruhigende Ergebnisse: Fast drei Viertel der untersuchten Pferde gingen unter ihrem Reiter lahm – doch für diese waren die Pferde völlig in Ordnung. Die Forscher fordern nun mehr Aufklärung und zielgerichtete Schulungen für Reiter, Besitzer und Trainer.
Bereits seit vielen Jahren beschäftigt sich die renommierte Orthopädin und Verhaltens-Spezialistin Dr. Sue Dyson mit Lahmheits-Diagnostik und dem Erkennen von Schmerzsymptomen bei Pferden, was in mehreren bahnbrechenden Studien und wissenschaftlichen Arbeiten Niederschlag fand. Dr. Dyson entwickelte gemeinsam mit Kollegen ein ,Schmerz-Ethogramm für gerittene Pferde’ (,Ridden horse pain ethogram’, kurz RHpE) – also einen Katalog mit insgesamt 24 Verhaltensweisen bzw. -signalen, die nachweislich mit dem Empfinden von Unbehagen und Schmerz beim Pferd verbunden sind. Zu diesen Verhaltenssignalen zählen Schmerz-Anzeichen im Gesicht (etwa angelegte Ohren, geschlossene Augenlider, ein starrender Blick, sichtbares Augenweiß, ein aufgesperrtes Maul etc.) ebenso wie körperliche Merkmale (wiederholte Veränderung der Kopfposition, Kopfschlagen oder ständige Kopfbewegungen zur Seite, Schweifschlagen etc.) oder Eigenheiten im Gangbild (zu eilige bzw. unrhythmische Gänge, plötzliche Gangwechsel bzw. Richtungsänderungen, Scheuen, Buckeln, Ausschlagen etc.). Dieses ,Schmerz-Ethogramm für gerittene Pferde’ hat sich bereits in mehreren Studien als sehr zuverlässiges Instrument herausgestellt, um das Schmerzempfinden von Pferden zu bestimmen – mit einer eindrucksvoll hohen ,Trefferquote’.
In einer neuen, aktuellen Studie untersuchten Dr. Sue Dyson und ihre Kollegin Danica Pollard mit Hilfe dieses Ethogramms eine Gruppe von insgesamt 60 Sport- und Reitschulpferden in Großbritannien. Dies waren Pferde unterschiedlichen Alters und verschiedener Rassen, die in diversen Disziplinen eingesetzt wurden: Die größte Gruppe – insgesamt 26 Pferde – wurde zu allgemeinen Reitzwecken eingesetzt, gefolgt von Dressur (12 Pferde) und der Verwendung in einer Reitschule (11 Pferde), nur wenige kamen in der Vielseitigkeit (8 Pferde) und im Springen (3 Pferde) zum Einsatz.
Jedes Pferd wurde von seinem gewohnten Reiter geritten. Nach einem 15-minütigen Aufwärmen absolvierte jedes Reiter-Pferd-Paar eine speziell entwickelte Dressurprüfungen von ca. 8,5 Minuten Dauer mit Lektionen in Schritt, Trab und Galopp in einem abgegrenzten 20 x 40 m Viereck. Vor dem Reiten wurden die Pferde auch qualifizierten individuellen Lahmheits-Tests und klinischen Untersuchungen unterzogen, um beispielsweise Verspannungen oder Schmerzen der Rückenmuskulatur zu ermitteln. Zusätzlich bewertete ein Sattlermeister Sitz und Passform des Sattels.
Sämtliche Ritte wurde mit der Videokamera aufgezeichnet und anschließend von Experten detailliert analysiert. Sie bewerteten die Pferde auf das Vorhandensein oder Fehlen der im Ethogramm enthaltenen 24 Verhaltensweisen, während sie von ihren regulären Reitern geritten wurden.
Die Ergebnisse waren beunruhigend, ja, mitunter sogar verstörend, so die Forscher: Obwohl alle Reiter in der Studie angegeben hatten, dass ihre Pferde absolut gesund waren, ergaben die Lahmheitsbewertungen, dass 73,3 % (also 44 von 60 Pferden) an einem oder an mehreren Beinen lahm waren, so der wenig ermutigende Befund von Dr. Dyson und Dr. Pollard. Die Lahmheit war zwar nur geringgradig – bis zu einer Punktzahl von 2 auf einer Skala von 1 bis 8 – und auch nicht konstant, aber sie war vorhanden und spiegelte eindeutig das Unbehagen des Pferdes wider, so die Wissenschaftler in ihrem Resümee.
Bei 35 Pferden – also bei 58,3 % – wurde eine erhöhte Spannung und/oder Schmerzen im Bereich der Wirbel- bzw. Lendenwirbelsäule festgestellt, und fast die Hälfte der Pferde (46,7 %, das waren 28 Pferde) zeigte eine Abnormalität im Galopp, wie etwa „hoppelnde“, also verkürzte und steife Galopp-Sprünge. Auf 22 Pferde traf sogar beides zu – sie zeigten einen abnormalen Galopp und gingen zudem auch noch lahm. Ein weiterer beunruhigender Befund: Fast 47 % der Pferde (das waren 28) hatten einen schlecht sitzenden bzw. nicht korrekt angepassten Sattel – mit dem Potenzial, die Leistung nachteilig zu beeinflussen. All das – wie schon gesagt – ohne dass die Reiter der Pferde dies zuvor erkannt haben.
Als besonders irritierend wurden die Ergebnisse der Reitschulpferde bezeichnet: Hier zeigten 9 von 11 Pferden (82 %) Lahmheit und 6 von 11 (55 %) Gangstörungen im Galopp. Nur ein Pferd wurde so eingestuft, dass es keine Gangstörungen aufwies – aber dieses Pferd war mit dem Kopf ständig deutlich vor der Senkrechten und wies eine deutlich verringerte Beweglichkeit des Rückens auf. Aus diesem Grund kam es auf den ungewöhnlich hohen RHpE-Wert von 13. Insgesamt war der mittlere RHpE-Wert für die Reitschulpferde höher als für die Pferde der anderen Disziplinen. Die Wissenschaftler dazu: „Dies ist vermutlich auf den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Disziplin und dem Können der Reiter zurückzuführen, da die Reiter von Reitschulpferden naturgemäß im Schnitt das geringste reiterliche Können aufweisen. Die Verhaltensweisen vieler Reitschulpferde spiegeln wahrscheinlich chronische Beschwerden wider und sollten keinesfalls als typisches Verhalten schmerzfreier Pferde missverstanden werden.“
Insgesamt kommentierte Dr. Sue Dyson ihre Studien-Ergebnisse gegenüber dem Portal TheHorse.com ernüchtert: „Ich bin immer enttäuscht, wenn ich eine Gruppe von Pferd/Reiter-Kombinationen habe, bei denen das Pferd als klinisch gesund betrachtet wird – und sich herausstellt, dass dies leider nicht der Fall ist. Und das ist häufig der Fall.“
Dies bedeute nicht zwangsläufig, so Dr. Dyson weiter, dass die Reiter nicht auf ihre Pferde achten würden. Vielmehr spiegelt es wahrscheinlich die früheren Erfahrungen der Reiter mit Pferden und die mangelnde Schulung zum Erkennen von schmerzbedingtem Verhalten wider. Vor allem die ersten Erfahrungen mit Pferden in Reitschulen – in denen die Pferde aufgrund subklinischer Lahmheit, suboptimaler Sattelanpassung und unausgeglichener und/oder ungelernter Reiter zu leichten Schmerzen neigen – könnten sich hier besonders nachteilig auswirken: „Wir glauben, dass viele Reiter auf Schulpferden reiten lernen, die diese Verhaltensweisen zeigen – und dass dies zur Folge hat, dass diese Verhaltensweisen gleichsam generell akzeptiert und für Pferde als normal betrachtet werden“, so Dr. Dyson.
Die Schlussfolgerung der Studien-Autorinnen ist daher eindeutig: „Besitzer, Reiter, Trainer und alle weiteren Experten in ihrem Umfeld müssen dringend besser geschult werden, damit sie erkennen, was abnormales Pferdeverhalten ausmacht – und damit lahme Pferde als solche auch tatsächlich erkannt und angemessen untersucht und behandelt werden können, um sowohl das Wohlbefinden der Pferde als auch deren Leistungsfähigkeit zu verbessern.“
Die Studie „Application of a Ridden Horse Pain Ethogram and Its Relationship with Gait in a Convenience Sample of 60 Riding Horses" von Sue Dyson und Danica Pollard ist am 17. Juni 2020 in der Zeitschrift ,animals' erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden.
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Die Schmerzen einer Lahmheit sind gerittenen Pferden buchstäblich ins Gesicht geschrieben – das bestätigte die Studie britischer Forscher. / Symbolfoto: Fotolia/Kseniya-Abramova
Eine speziell geschulte Tierärztin konnte anhand von Kopffotos mit hoher Zuverlässigkeit bestimmen, ob das abgebildete Pferd an Lahmheit litt oder nicht.
Die Erforschung des Schmerzausdrucks bei Pferden ist in den letzten Jahren zusehends ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Bereits im Jahr 2014 ist es einem Forscher-Team aus Italien, Deutschland und Großbritannien gelungen, eine „Skala des Schmerzausdrucks" (,Horse Grimace Scale") bei Pferden zu entwerfen, mit deren Hilfe der Schmerzzustand bei Hengsten nach einer Kastrations-OP allein anhand ihres Gesichtsausdrucks bewertet werden konnte. Die Genauigkeit bzw. Trefferquote der Skala wurde damals mit 73,3 % angegeben (siehe unseren detaillierten Bericht dazu).
Britische Wissenschaftler um die renommierte Pferde-Orthopädin Dr. Sue Dyson entwickelten diese Skala weiter und konzipierten ein Ethogramm – also einen Katalog bzw. ein Verzeichnis von beobachteten Verhaltensmustern, bei dem die Gesichtsausdrücke von Pferden im Zentrum standen. In einem ersten Schritt überprüften sie die Zuverlässigkeit dieses Ethogramms, indem sie es 13 verschiedenen Testpersonen – vom Amateurreiter bis zum erfahrenen Pferdetierarzt – zur Beurteilung vorlegten. Die Zustimmung bzw. Übereinstimmung lag bei stolzen 87 % – das Ethogramm war also ein verlässliches Beurteilungsinstrument, um das Schmerzempfinden von Pferden anhand ihres Gesichtsausdrucks zu bestimmen.
In einer aktuellen Untersuchung gingen die Wissenschaftler nun einen Schritt weiter – und wollten herausfinden, ob das Ethogramm auch dazu geeignet war, den Schmerzausdruck von gerittenen Pferden anzuzeigen. Dafür wurde eine Tierärztin speziell in der Anwendung des Ethogramms, das die Forscher ,FEReq' nannten (FER = facial expression for ridden horses) geschult und mit einer speziellen Gebrauchsanleitung ausgestattet. Die Tierärztin sollte insgesamt 519 Fotos, welche den Kopf bzw. das Gesicht von 101 Pferden unter dem Reiter im Trab und im Galopp zeigten. 76 dieser Pferde waren zuvor als „lahm" eingeschätzt worden – die restlichen 25 zeigten völlig normale Gangarten. Unter den Fotos waren 30 Abbildungen von sieben lahmen Pferden sowie 22 Fotos derselben Pferde, jedoch nach einer lokalen Schmerzbehandlung, welche die Lahmheits-Symptome beseitigt hatte. Pro Pferd wurden zwischen 3 und 13 Fotos gezeigt.
Die Tierärztin musste die Fotos anhand des Ethogramms ohne jegliche Vorkenntnisse über Lahmheit oder Gesundheit der abgebildeten Pferde analysieren. Sie beurteilte den Schmerzausdruck auf einer vierstufigen Skala (0 = normal, 1-3 = abnormal) für jedes einzelne Kriterium des Ethogramms. Insgesamt wurden so 27.407 einzelne Gesichts-Marker durch die Tierärztin identifiziert.
Wie sich zeigte waren die Bewertungen des Schmerzausdrucks bei den lahmen Pferden signifikant höher als für die gesunden Pferde. Die lahmen Pferde erhielten geringere Bewertungen, nachdem sie eine lokale Schmerzbehandlung erhalten hatten – wie es das Studien-Team erwartet hatte.
Die deutlichsten Indikatoren für Schmerzen waren ein verdrehter Kopf, eine asymmetrische Position des Gebisses, die Stellung der Ohren (beide Ohren angelegt, ein Ohr zurück und ein Ohr zur Seite gedreht, ein Ohr zurück und ein Ohr nach vorn gedreht) und bestimmte Augenmerkmale (Augenweiß sichtbar, das Auge teilweise oder ganz geschlossen, Muskelspannung kaudal zum Auge und ein starrender Blick).
Für die Forscher steht fest, daß das von ihnen entworfene Ethogramm in Kombination mit einer Bewertung des Schmerzausdrucks sehr gut geeignet ist, zwischen gesunden und lahmen Pferden zu unterscheiden: „Das Ethogramm kann in vereinfachter Form Pferdebesitzern, Trainern, Reitern und Tierärzten dabei helfen, Schmerzen bei Pferden – auch in Zusammenhang mit Lahmheit – einzuschätzen. Das wäre ein bedeutender Schritt für eine bessere Beurteilung des Wohlbefindens von gerittenen Pferden", so die Wissenschaftler.
Das Studienteam bestand aus Dr. Sue Dyson, Jeannine Berger, Andrea Ellis und Jessica Mullard (sie war auch die Tierärztin, welche die Fotos beurteilte). Die Untersuchung wurde von der Tierschutzorganisation ,World Horse Welfare' und von ,Saddle Research Trust' unterstützt.
Die Studie ,Can the presence of musculoskeletal pain be determined from the facial expressions of ridden horses (FEReq)?" ist im März 2017 in der Zeitschrift ,Journal of Veterinary Behavior – Clinical Applications and Research' erschienen und kann in englischsprachiger Kurzfassung hier nachgelesen werden.
21.06.2018 - Lehrvideo: Subtile Anzeichen von Lahmheit erkennen
Lehrvideo: Subtile Anzeichen von Lahmheit erkennen 21.06.2018 / News
Ein deutliches Zeichen von Lahmheit ist eine asymmetrische Kopfhaltung beim Vortraben (hier nach unten zeigend) – doch andere, subtilere Signale sind wesentlich schwieriger zu erkennen, wie das Lehrvideo verrät. / Foto: Screenshot Youtube-Video
Viele Reitpferde leiden unter Lahmheiten oder Gang-Anomalien aufgrund von Schmerzen – doch diese werden im Alltag vielfach übersehen oder auf andere Faktoren zurückgeführt. Ein eindrucksvolles Lehrvideo möchte Reiter und Pferdebesitzer auf das Problem hinweisen und über die Ursachen aufklären.
Auf die hochkarätige Lehrvideos haben wir bereits in einem anderen Beitrag hingewiesen. Den Auftakt der bahnbrechenden Video-Serie bildet die Folge „Recognizing Subtle Lameness“ (Subtile Anzeichen von Lahmheit erkennen), in dem es ebenfalls darum geht, frühzeitig Schmerzanzeichen bzw. Schmerzäußerungen beim Pferd zu erkennen, in diesem Fall bezogen auf das Gangbild und die Bewegungen des Pferdes – also Lahmheiten im weitesten Sinn des Wortes. Verhaltens- und Lahmheits-Spezialistin Dr. Sue Dyson weiß aus ihrer täglichen Praxis, dass Reiter, Pferdebesitzer und Trainer bei Problemen meist das Pferd selbst verantwortlich machen: „Jeder glaubt, es muss irgendein Verhaltensproblem oder ein Problem beim Training sein. Dass Schmerzen die Ursache dafür sein könnten, warum das Pferd irgendetwas nicht machen will, ist meist das letzte, woran die Leute denken.“
Dabei dürfte Schmerz der mit Abstand häufigste Grund dafür sein, dass Pferde – vielfach versteckt – Lahmheits-Symptome in unterschiedlicher Intensität zeigen. Dr. Sue Dyson verweist dabei auf eine unter ihrer Leitung erstellte Studie, bei der 506 Sportpferde, die von ihren Besitzern normal gearbeitet wurden und nach deren Ansicht keinerlei Beeinträchtigung oder Lahmheit zeigten, einer eingehenden Analyse durch Experten unterzogen – und das Ergebnis war erschreckend: 47 % dieser Pferde zeigten entweder Anzeichen von Lahmheit oder anderer Gang-Anomalien wie z. B. eine auffallende Steifheit bzw. Verhaltenheit im Galopp. Dr. Sue Dyson: „Einige davon waren zwar nur geringgradig – doch andere waren ziemlich offensichtlich.“
Das bestätigt auch Anne Bondi, die Gründerin des ,Saddle Research Trust’: Sie sehe auf jeglichem Niveau – bei Anfängern ebenso wie bei Amateuren, aber auch bei professionellen Sportreitern auf hochkarätigen Events Pferde, die mit Problemen kämpfen – und die Reiter bemerken das einfach nicht bzw. verlassen sich auf die Kommandos und Instruktionen ihres Trainers. Und die sagen meist „Mach einfach weiter, du musst das durcharbeiten („working through it“) – ohne sich selbst die Frage zu stellen: Was ist ,das’ überhaupt?
,Das’ sind in vielen Fällen Schmerzen als darunterliegende Ursache – die sich sogar noch verschlimmern, wenn man sie einfach übergeht und mit den Lektionen weitermacht. Umso wichtiger wäre, sie als solche zu erkennen – doch genau das bereitet vielen Pferdeleuten große Probleme: Subtile, versteckte Schmerz-Symptome sind in der Tat schwer zu identifizieren, und zwar aus einem einfachen Grund: Das Pferd ist, wie Tierärztin Karin Leibbrandt erklärt, von seiner gesamten Evolution her ein Beutetier und möchte daher keine Krankheiten oder Schwäche zeigen, die es zu einem bevorzugten Beuteobjekt machen würden: „Ein Pferd möchte niemals Schmerz zeigen, weil es in freier Natur von anderen Raubtieren gejagt wird, etwa von Löwen – und natürlich möchte ein Pferd einem Löwen nicht zeigen, dass es Schmerzen hat. Daher müssen wir wirklich sehr gute Beobachter sein, um diese entdecken zu können. Zudem sind Pferde sehr gut darin, derartige Schmerzen zu kompensieren“, so Karin Leibbrandt weiter. „Wenn einem Pferd das linke Vorderbein wehtut, wird es sein Gewicht vermehrt auf das rechte Vorderbein verlagern, nur um sein Handicap zu kompensieren, es wird seine Rückentätigkeit verändern und den Schmerz in gewisser Weise gleichmäßig auf alle anderen Körperteile verteilen.“
Wie Dr. Sue Dyson weiter ausführt, sind die offensichtlichen, deutlich erkennbaren Lahmheiten meist das Endstadium einer negativen Entwicklung, dem lange Schonhaltungen und Kompensationen vorausgegangen sind. Das eigentliche Ziel für jeden Reiter und Pferdebesitzer müsse es daher sein, bereits frühzeitig versteckte bzw. subtile Anzeichen von Lahmheit zu erkennen. Eine detaillierte Schilderung – untermauert durch aussagekräftiges Bildmaterial – bildet daher auch das Hauptstück dieses Lehrvideos. Die Liste dieser ,subtilen’ Signale einer Lahmheit ist lang und vielfältig, wie Dr. Sue Dyson bestätigt: So können etwa plötzliche Veränderungen im Bewegungstempo – das Pferd wird plötzlich schnell oder verlangsamt seine Bewegung unvermittelt, das Pferd ist unwillig, hat Schwierigkeiten beim Reiten von Wendungen – oft in eine spezifische Richtung (also nach rechts oder links), Schwierigkeiten bei bestimmten Bewegungen, etwa bei Galoppwechseln, Schwierigkeiten beim Wechsel in eine andere Gangart, etwa beim angaloppieren; das Pferd geht deutlich auf der Vorhand und zeigt zuwenig Hinterhandaktivität, es macht sich im Rücken fest etc. Viele schmerzgeplagte Pferde zeigen auch Anlehnungsprobleme: Der Reiter spürt, dass die Zügelspannung nicht gleichmäßig ist, das Pferd scheint den Kontakt zur Reiterhand vermeiden zu wollen – oder hängt sich nur an einer Seite in den Zügel. Auch wenn das Pferd seinen Kopf ständig hochnimmt oder Kopf und Genick zur Seite nimmt, kann dies auf darunterliegende Schmerzen zurückzuführen sein.
Die plastische und kenntnisreiche Beschreibung der diversen Lahmheits-Symptome durch Dr. Sue Dyson ist eindrucksvoll – die dazu gezeigten Bilder und Video-Sequenzen sind es ebenso und machen dieses Video zu einer enorm lehrreichen, bisweilen auch bedrückenden Erfahrung. Unter den Kommentaren des Youtube-Videos ist etwa zu lesen: „Nachdem ich dieses Video gesehen habe, muss ich erkennen, dass mein Foxtrotter wahrscheinlich lahm ist. Mein Quarter Horse ist es ohne Zweifel. (…) Das Video ist traurig, aber es öffnet einem die Augen.“
Mehr ist dazu kaum zu sagen – ansehen lohnt sich!
10.01.2016 - Manche Lahmheiten nur unter dem Reiter erkennbar
Manche Lahmheiten nur unter dem Reiter erkennbar 10.01.2016 / News
Vor allem Lahmheiten an den Hinterbeinen zeigen sich oft nur unter dem Reiter, so die britische Studie. / Archivfoto: Irene Gams
Eine britische Untersuchung konnte zeigen, daß bestimmte Lahmheiten nur unter dem Reiter sichtbar sind – und daß sowohl Hobby- als auch Profi-Reiter in vielen Fällen nicht in der Lage sind, eine Lahmheit zu erkennen.
Dr. Sue Dyson ist Leiterin der Orthopädie am Centre for Equine Studies des Animal Health Trust in Newmarket und gilt als international anerkannte Expertin für Lahmheiten bei Pferden. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Line Greve untersuchte sie insgesamt 57 Turnierpferde, die normal gearbeitet wurden und laut ihren Reitern, Trainern und Besitzern ein einwandfreies Gangbild zeigten, mit den gängigen Methoden der Lahmheits-Diagnostik, sprich: Sie führte bei sämtlichen Pferden Beugeproben an allen vier Beinen sowie eine Gangbeurteilung an der Hand, an der Longe sowie unter dem Reiter, jeweils auf weichem und hartem Boden. Bei jeder einzelnen Untersuchung wurde die Lahmheit von Dr. Sue Dyson auf einer Skala von 0 bis 8 klassifiziert. Die Pferde stammten aus insgesamt vier verschiedenen Reitställen, drei davon waren auf Dressur spezialisiert, einer auf Springen.
Der Untersuchung lag die Annahme zugrunde, daß sich bestimmte Lahmheiten nicht bei den traditionellen Beurteilungsmethoden – also beim Vorstellen an der Hand bzw. beim Longieren – zeigen, sondern ausschließlich unter dem Reiter, worauf immer mehr Forschungsergebnisse hindeuten.
Die Ergebnisse bestätigten nicht nur die Hypothese, sondern zeigten ein in vielerlei Hinsicht ernüchterndes Bild:
– Von den insgesamt 57 untersuchten Pferden wurden lediglich 14 (= 24,6 %) als absolut einwandfrei bei jeder Untersuchungsmethode beurteilt. Sechs Pferde (= 10,5%) waren zwar bei der Beurteilung an der Hand, an der Longe und unter dem Reiter einwandfrei, bei den Beugeproben zeigten sie jedoch geringgradige Lahmheiten (Grad 1 oder 2) auf einem Bein.
– 16 Pferde (= 26,3 %) zeigten Lahmheiten bei der Vorstellung an der Hand.
– 24 Pferde (42,1 %) zeigten Lahmheiten an der Longe auf weichem Untergrund, 23 Pferde (40,4 %) zeigten Lahmheiten an der Longe auf hartem Untergrund.
– 27 Pferde (=47,4 %) zeigten Lahmheiten unter dem Reiter – und sieben Pferde (=12,3 %) zeigten Lahmheiten nur beim Reiten.
Das letzte Ergebnis bestätigte die Hypothese der Untersuchung, daß sich bestimmte Lahmheiten ausschließlich unter dem Reiter zeigen, nicht jedoch bei der Beurteilung an der Hand oder an der Longe – und das sollte künftig bei Ankaufs- und Lahmheits-Untersuchungen vermehrt berücksichtigt werden, so Dr. Dyson: „Wenn ein Pferd bei einem Ankaufstest nicht unter dem Reiter beurteilt wird, kann eine bereits existierende Lahmheit übersehen werden. Und es kann – wenn sich unter dem Reiter ein Lahmheits-Problem zeigt – dieses nicht immer durch eine weitere Begutachtung an der Hand oder an der Longe bestätigt werden." Vor allem Lahmheiten an den Hinterbeinen zeigen sich – wie klinische Beobachtungen bestätigen – oft nur unter dem Sattel, so Dr. Dyson.
Als beunruhigend, ja, als verstörend bezeichnen die Wissenschaftler auch den Umstand, daß ein so großer Teil der 57 untersuchten Pferde – die von ihren Reitern, Besitzern und Trainern allesamt als absolut gesund eingestuft und auch voll geritten und trainiert worden waren – an Lahmheiten litt. Dr. Dyson: „Diese Ergebnisse bestätigen leider vorangegangene Beobachtungen, daß ein erschreckend hoher Prozentsatz von lahmen Pferden ganz normal gearbeitet und als gesund betrachtet wird." Man könnte es wohl auch so formulieren: Viele Reiter – egal ob Hobby- oder Profireiter – sind nicht in der Lage, eine Lahmheit ihres Pferdes korrekt zu erkennen: ein Armutszeugnis. Dr. Dyson und Dr. Greve weisen nachdrücklich darauf hin, wie wichtig es für Reiter und Trainer ist, sich durch spezielle Schulungen eine entsprechende Kompetenz in der Lahmheits-Beurteilung anzueignen. Dr. Dyson: „Diese Pferde können zwar bestimmte Leistungen zeigen – aber sie würden wahrscheinlich viel bessere Leistungen zeigen, wenn sie keine Lahmheiten hätten."
Die Studie „Subjective gait assessment of 57 sports horses in normal work: a comparison of the response to flexion tests, movement in hand, on the lunge and ridden" von Dr. Sue Dyson und Dr. Line Greve ist im ,Journal of Equien Veterinary Science' erschienen und kann in englischer Kurzfassung hier nachgelesen werden.
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