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Die Fälle des Dr. K.: Verletzung einer Person beim Führen eines Pferdes
10.12.2021 / News

Als zwei Pferde gemeinsam von der Koppel geholt wurden, schlug ein Pferd plötzlich aus und verletzte die unmittelbar dahinter gehende Person – die spätere Klägerin – im Brustbereich erheblich. War hier sorglos oder gar fahrlässig gehandelt worden? Dr. K. nahm den Sachverhalt penibel unter die Lupe ...


Am 9.9.20XX beabsichtigte die Klägerin, die damals ihr Pferd bei der Beklagten  eingestellt hatte, dieses von der Koppel zu holen, um es in weiterer Folge zum Putzplatz zu führen.  Sie wurde dabei von der Zeugin R. (Tochter der Beklagten) begleitet, die in diesem Zuge im Auftrag der Beklagten deren Stute „L“ ebenfalls auch der Koppel zum Putzplatz bringen sollte. R. öffnete von innen die Koppelumzäunung, nachdem sie „L“ am Führstrick verwahrt hatte, die Klägerin ging mit dem, von ihr geführten Pferde hinter R.  nach. Als beide Frauen und die von ihnen geführten Pferde den Koppelausgang passiert hatten, schickte sich R. an, den Elektrozaun wieder zu schließen. Während dieser Prozedur schlug das Pferd „L“ plötzlich aus und verletzte die Klägerin im Bereich des Brustkorbs nicht unerheblich.

Die Klägerin wirft der Beklagten nunmehr vor, dass ihre vierzehnjährige, äußerst zierliche Tochter (Zeugin) R. ungeeignet gewesen sei, ein bekanntermaßen sehr schreckhaftes Tier unter Gewahrsam zu halten. Ferner hätte es die Beklagte unterlassen, das junge Mädchen R. über die Eigenheiten des Tieres aufzuklären und die nötigen Anweisungen im Umgang mit dem Pferde zu erteilen.

Befunde

Die Verletzungshöhe am Brustkorb der Klägerin wird mit ca. 1.35 m über dem Boden ermittelt. Die Klägerin zeigt dem SV die Stelle, an der sie getroffen worden ist.

„Am Hof der Beklagten wird es immer so wie von mir beschrieben praktiziert, die Koppel zu verlassen. Ich habe dies daher schon häufig mit anderen Pferden so gemacht, jedoch nie mit dem Pferd „L“.

Die sexuellen Avancen der Stute „L“ gegen meinen Wallach waren allen Beteiligten ……. Bekannt und wir haben uns im Wesentlichen darüber immer nur lustig gemacht, da ich auch keine Gefahr für mein Tier darin erblickte. [zit. Klägerin]

„Ich habe keinerlei reiterlichen Ausbildungen erfahren. Ich habe wohl einige Kurse besucht, jedoch keine Abschlüsse gemacht.“ [zit. Klägerin]

Befunde an der Stute „L“:

In einer Höhe von 90 cm wird bei maximaler Streckung der linken Hinterextremität ein Abstand auf eine Senkrechte vom Sitzbeinhöcker von 55 cm gemessen. Eine Streckung auf 135 cm Höhe (Höhe der Verletzung der Klägerin) war bei stehendem Pferde nicht möglich.

„L“, ÖE, Stute, braun, StM 1,49 cm.

Bericht  Zeugin R.(Tochter der Beklagten):
„Einer von uns beiden öffnete jedenfalls die Koppel, ich habe sie nach dem Passieren wieder verschlossen und zwar derart, dass ich jedes der einzelnen drei Seile einzeln eingehängt habe. In weiterer Folge begab ich mich zu meinem Pferd und habe das mitgebrachte Seil an dessen Halfter befestigt und in weiterer Folge das Pferd wieder zum Koppelausgang zurückgeführt; dazu musste ich wieder  alle drei, erst knapp davor geschlossenen Seile öffnen, habe mein Pferd herausgeführt und zwar in einem Bogen nach links und zwar derart, dass ich etwa auf halber Torbreite zum Stillstand kam und zwar mit dem Gesicht zur Koppel schauend, das Pferd L. befand sich rechts von mir, ebenfalls in rechtem Winkel zum Längsverlauf des Koppelzaunes. In dieser Position warte ich das Verlassen der Koppel durch die Klägerin und ihr Pferd ab…. Als die Klägerin die Koppel bereits verlassen hatte und sich schon rund 1.5 m außerhalb der Koppel befand, drehte sich plötzlich mein Pferd mit seinem Hinterteil nach links und schlug gegen die Klägerin hin aus…. Zu diesem Zeitpunkt betrug der seitliche Abstand von mir zur Klägerin etwa 2 m.
………….  
… so ist es wohl richtig, dass unsere Stute „L“ den Wallach der Klägerin öfters anrosste; zum Unfallzeitpunkt war sie aber nicht rossig.

Üblicherweise schalte ich bei Annäherung an die Koppel den Strom aus. Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob ich dies am Vorfalltag auch machte. ………..
Das Ausschlagen der Stute war für mich im Vorfeld nicht erkennbar, es hat mich also richtiggehend überfallen.
……Nach dem Ausschlagen ist meine Stute ganz ruhig stehen geblieben.“ [zit.]

Befund zur Zeugin R.:  14 a, Körpergröße 1.65 cm, Gewicht rund 55 kg.

Ambulanzbefund vom 9.9.20XX  LKH S. – Patient: Klägerin

Serienrippenbrüche II bis VI links, Bluterguss in die Brusthöhle und Luftansammlung in der Unterhaut an der linken Brustseite,   Prellung des linken Ellbogens.

Sachverständige Fallanalyse
Zum Vorgang am Koppel-Eingang bzw.-Ausgang:
Das am Hof der Beklagten übliche Prozedere beim Führen der Pferde aus der Koppel war der Klägerin bekannt, es ist also nicht ein völlig unbekannter Vorgang über sie hereingebrochen.
Es war ihr ebenso das angeblich schreckhafte Wesen der beteiligten Stute bekannt, es wäre also an ihr gelegen gewesen, durch Einhalten eines Sicherheitsabstandes von mindestens einer oder besser noch zwei Pferdelängen (3 bzw. 6 Meter) ein entsprechendes Alternativverhalten an den Tag zu legen. Auch ein etappenweises Herausbringen der Pferde, zuerst „L“, dann der Wallach, wäre als mögliche Alternative bestanden.

Dass man weder die eine noch die andere Möglichkeit gewählt hat, lässt den Schluss zu, dass dieser „standardisierte“ Vorgang bisher von keinen Schwierigkeiten begleitet war und der „Sicherheitsgedanke“ bei den beteiligten Personen offenbar in den Hintergrund getreten ist.
Bis auf eine – nicht unwesentliche – Abweichung ist die Schilderung der Klägerin über das Herausführen der Pferde deckungsgleich mit jener der Zeugin R.: Die Klägerin schildert nämlich (und unterstreicht dies durch ihre Demonstration), dass die Zeugin R. – die Stute „L“ mit der rechten Hand führend und die Koppelbänder in der linken Hand haltend – praktisch parallel zum Koppelzaun gegangen ist, um die Weidezaunbänder einzuhängen.
Diese Version ist aus praktischer Sicht nicht sehr wahrscheinlich, wäre diesfalls das Pferd doch zwischen die Zeugin und den Elektrozaun gekommen, was jeder Pferdehalter jedoch tunlichst vermeidet.

Die Zeugin R. schildert – und unterstreicht ihre Schilderung durch ihre Darstellung -, dass sie etwa in der Mitte des ca. 4.50 m breiten Koppeleingangs gestanden wäre, das Pferd „L“ mit der rechten Hand am Führstrick haltend, in der linken Hand die Weidezaunverschlussfedern. Auf diese Art und Weise blockierte sie einerseits mit den Bändern, ihrer Person und dem Pferd „L“ die – Richtung Koppel gesehen – rechte Hälfte des Ausgangs für die noch in der Koppel befindlichen Pferde, ließ aber links von sich genügend Raum, um der Klägerin das Verlassen der Koppel mit ihrem Wallach zu ermöglichen.

Die Attacke der Stute „L“ dürfte sich mit großer Sicherheit im nun folgenden Schritt ereignet haben, als die Zeugin R., um die Weidezaunbänder am etwa 2 m entfernten Pfosten einzuhängen, entweder den  etwa 1.50 m langen Führstrick am  äußersten Ende erfasste und in Richtung Koppelsteher ging, wobei die Stute – möglicherweise fressend- stehen blieb oder sie bewegte sich mit dem Pferd an ihrer Seite in Richtung der linken Koppelöffnung und näherte sich somit dem eben vorbeigehenden Wallach der Klägerin. Diesen Moment nützte die Stute „L“, um sich in einem Radius von etwa 1.00 - 1.50 m auf der Vorhand um die Zeugin R. zu drehen und mit beiden Hinterextremitäten gegen den Wallach auszukeilen. Die beiderseitigen sexuellen Avancen – die nach der Schilderung vorwiegend von „L“ ausgegangen sind – waren offensichtlich ein rituelles Spiel, das sich auch auf das Verhaltensmuster „abschlagende Stute“ bei unbotmäßiger Annäherung eines männlichen Pferdes ausgedehnt hatte. Der Abstand zum Wallach war dabei so groß, dass „L“ ihn nicht getroffen hätte. Da aber „L“ im Augenblick des „Abschlagens“ die hinter ihr befindliche, aber nähere Klägerin im „toten Winkel“ hatte, wurde diese – versehentlich und zufällig – Opfer dieses Ausschlagens.

Der Eingang bzw. Ausgang einer Koppel ist eine bekannte, aber unvermeidbare Gefahrenquelle. Die Gefahr kann jedoch durch entsprechende Gestaltung reduziert werden.

Im vorliegenden Falle ist kein spezieller, risikominimierender Eingang vorgesehen, sondern vielmehr sind zwischen zwei normalen Koppelstehen im Abstand von 4.50 m die Weidebänder mit drei Spiralfedern befestigt, die beim Betreten bzw. Verlassen der Koppel jeweils aus- bzw. wieder eingehängt werden müssen.

Während der kurzen Zeit der „offenen Koppel“ besteht natürlich immer die Gefahr, dass andere, noch in der Koppel befindliche Pferde nachdrängen und entkommen.

Der Klägerin war diese Gefahr bewusst, weshalb sie langsam, aber nach ihren Worten, in ständiger Vorwärtsbewegung, ihr Pferd durch den von der Zeugin R.  halb offen gehaltenen Ausgang führte. Sie hätte sich – alternativ – aber richtig verhalten, wenn sie mit ihrem Pferd durch den von der Zeugin Rebecca offengehaltenen Ausgang zügig durchgegangen wäre, hierauf in sicherem Abstand ihr Pferd gewendet hätte, um so ein Entkommen anderer Pferde zu verhindern.

Eine weitere Alternativvariante wäre darin bestanden, dass die Klägerin vor der Zeugin R. die Koppel verlassen hätte.

Die Trefferhöhe der Schlagverletzung am Körper der Klägerin lässt den Schluss zu, dass die Stute „abgeschlagen“, also mit beiden Extremitäten nach hinten ausgeschlagen hat. Dies passiert regelmäßig dann, wenn sich ein männliches Pferd einer Stute von hinten nähert.

Die Zeugin R.  – eine „tüchtige“ Gehilfin?
Zum Vorfallzeitpunkt war die Zeugin R. 14 jährig, bereits seit drei Jahren im Besitz des Reiterpasses und seit zwei Jahren Inhaberin der Reiternadel. Diese beiden, per Prüfung zu erwerbenden Qualifikationen beweisen, dass die Zeugin über Grundkenntnisse im Umgang mit Pferden verfügte. Am Tag der Befundaufnahme ging die Zeugin mit der Stute „L“ sehr selbstverständlich und routiniert um.
Der angesprochene zarte Körperbau der Zeugin ist für die Beurteilung der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles ohne Relevanz, da weder in der Klageerzählung noch in der Darstellung des Ablaufs  durch die Zeugin selber irgendwo von einem notwendigen „Kraftakt“ zur Beherrschung der Stute berichtet wird. Daraus ist zu schließen, dass der Vorfall bei ein und derselben Durchführung auch durch eine Person mit kräftigem Körperbau    nicht hätte verhindert werden können.

Es hat sich eine typische Tiergefahr des Pferdes, nämlich Ausschlagen, verwirklicht. Im vorliegenden Geschehen ist nichts untypisches, unvorhersehbares oder unvermeidbares zu erkennen; selbst bisher zwischenfallfreie Vorgänge mit „Schwachstellen“ ändern nichts daran, dass sich die typische Tiergefahr – somit vorhersehbar und durch Alternativverhalten vermeidbar – jederzeit verwirklichen kann. Routine ist der Tod des Sicherheitsdenkens: „Das machen wir immer so…“ ist einer der häufigsten Kommentare nach Unfällen – aber fehlerhaftes Verhalten wird auch nach der tausendsten Reprise nicht richtig.

Sowohl die Klägerin wie auch die Zeugin R.  haben im Vertrauen darauf, dass beim Abholen der Pferde aus der Koppel in der Vergangenheit keine Zwischenfälle aufgetreten sind, ein zwar routiniertes, aber die besonderen Gefahren der Pferde außer Acht lassendes Verhalten an den Tag gelegt. Die Konzeption des Koppeleingangs, an dem sich der Unfall zugetragen hat, ist zudem wenig durchdacht und - vor Allem – nicht von Sicherheitsaspekten geprägt. Alle Beteiligten haben aber bisher diese Situation billigend in Kauf genommen.

Die Klägerin ging am Vorfalltage mit ihrem Wallach hinter der Zeugin R. und deren Pferd Stute „L“ her, obwohl ihr bekannt war, dass beide Pferde in einer – wenn auch notgedrungen platonischen – sexuellen Attraktion stehen und sie selber die Stute „L“ als „schreckbar“ einstufte.

Die Stute empfand ganz offensichtlich die körperliche Annäherung des Wallachs von hinten als subjektiv unangemessen, weshalb sie nach hinten ausgeschlagen hat. Dass dabei die Klägerin getroffen und verletzt wurde, ist dem Zufall zuzuschreiben, obwohl sich die Klägerin dazu selbst in eine „erreichbare“ Nähe begeben haben musste. Sie war aber – im Vertrauen auf die bisherige Vorgangsweise beim Abholen der Pferde – davon ausgegangen, dass ein korrekter Sicherheitsabstand, der auch den kreisförmigen Bewegungsradius berücksichtigt – nicht vonnöten sei.

Insgesamt stellt der Unfall die Verwirklichung der potentiellen typischen Tiergefahr als vorhersehbares und vermeidbares Ereignis dar – die tatsächliche Verwirklichung war lediglich eine Frage der Zeit.

Die Zeugin R. war zum Zeitpunkt des Unfalles seit Jahren im Umgang mit Pferden ausgebildet und dürfte mit hoher Sicherheit über die notwendige Pferdekenntnis für das Abholen von Pferden aus einer Koppel verfügt haben. Da es im Zuge des Unfallgeschehens zu keiner Situation gekommen ist, die durch „Kraft“ zu bewältigen gewesen wäre, spielte ihr zarter Körperbau keine unfallbegünstigende Rolle. Aus fachlicher Sicht war die Zeugin R. für das beabsichtigte Vorhaben eine geeignete und tüchtige Person.

 

ZUM AUTOR: Dr. Reinhard Kaun ist Tierarzt seit 1969 und ständig beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, der im Laufe seiner 33-jährigen Tätigkeit als Gerichtsgutachter mehr als tausend Gutachten erstattet  hat. Neben vielen Qualifikationen im Pferdesport (z.B. FEI-Tierarzt, Turnier- und Materialrichter, FEI-Steward, Dopingbeauftragter)  war er  als Fachtierarzt für Pferdeheilkunde und Fachtierarzt für Physikalische Therapie und Rehabilitationsmedizin tätig. Die „Fälle des Dr. K." haben sich tatsächlich zugetragen, wurden aber jeweils in Text und  Bildern verfremdet und anonymisiert,  womit  geltendem Medienrecht und Datenschutz vollinhaltlich genügt wird. Die Fälle wurden vom Autor um das „Fall-spezifische“ bereinigt und werden somit nun als neutraler Lehrstoff von allgemeiner hippologischer Gültigkeit  für interessierte Verkehrskreise zur Weiterbildung dargestellt.

VORSCHAU: Eine professionelle Bereiterin und Pferdewirtschaftsmeisterin war nach drei schweren Reitunfällen so stark beeinträchtigt, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte – das Gutachten der Versicherung stellte jedoch nur einen mittleren Grad der Einschränkung fest. Aber war dies haltbar? Einmal mehr war Dr. K.s Expertise gefragt ...

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