In einer aktuellen Übersichts-Studie weisen Wissenschaftlerinnen auf die Bedeutung des sozialen Umfelds auch und gerade für Hengste hin: Die meisten Probleme entstehen, weil viele Hengste ein einsames Leben in einer relativ kargen Umgebung führen müssen und oft keinen direkten sozialen Kontakt zu anderen Pferden haben, so die Autorinnen.
In der soeben veröffentlichten Übersichts-Studie, in der 172 wissenschaftliche Arbeiten analysiert werden, haben Forscherinnen die Herausforderungen untersucht, denen sich frei lebende Hengste gegenübersehen, ebenso die Rolle, die sie in sozialen Gruppen spielen, und die daraus resultierenden sozialen Bedürfnisse. „Basierend auf dem Verständnis dieses Drucks und wie Hengste darauf reagieren, haben wir die Bedeutung des sozialen Umfelds für den Hengst hervorgehoben“, so Aleksandra Górecka-Bruzda, Joanna Jaworska und Christina Stanley in der Zeitschrift Animals.
Aus der Analyse der Lebensbedingungen von Hengsten in „freier Wildbahn" lässt sich klar ableiten, dass das Leben eines freilebenden Hengstes stressig sein kann, so die Forscherinnen einleitend. Dieses Leben sei mit vielfältigen Herausforderungen verbunden, zu denen – neben der Futter- und Wassersuche, der Abwehr von Gefahren und dem Behaupten gegen die Witterungseinflüsse – auch die ständige Bewachung der geschlechtsreifen Stuten vor Rivalen gehört. Aber im Allgemeinen erleben wilde Hengste ein stabiles Sozialleben, entweder mit eng aneinander gebundenen Haremsstuten oder mit Artgenossen in einer Junggesellengruppe.
Ein Leben in Freiheit ist für Pferde kein Zuckerschlecken: Kämpfende Konik-Hengste im Popielno-Reservat in Polen (Foto von Michał Bruzda).
Dieser Lebensstil steht in starkem Kontrast zu dem von Hengsten, die in Gefangenschaft leben und deren Existenz auf den ersten Blick geradezu idyllisch anmutet, so die Forscherinnen: „Hengste, die unter von Menschen kontrollierten Bedingungen gehalten werden, sind normalerweise frei von Hunger und Durst und von Unbehagen beim Ausruhen. Sie sind geschützt, geimpft, entwurmt und ihre Hufe sind in gutem Zustand. Wenn sie in der Zucht eingesetzt werden, müssen sie nicht um den Zugang zu fruchtbaren Weibchen kämpfen. Sie haben oft ein höheres Maß an sexueller Aktivität und bringen insgesamt mehr Fohlen hervor als freilaufende Hengste."
Man könnte daher annehmen bzw. argumentieren, dass sie „ein Leben in relativem Luxus erleben", so die Autorinnen. Doch dem ist in Wahrheit nicht so – ganz im Gegenteil: Modern gehaltene Hengste zahlen für ihr vermeintlich sorgenfreies, behütetes Leben einen hohen Preis, so die Forscherinnen: „In vielen Fällen führen Hengste ein einsames Leben in einer relativ kargen Umgebung und haben oft keinen direkten sozialen Kontakt zu anderen Pferden.“
In einer kargen Umgebung sucht ein Hengst (rechts) den Sozialkontakt mit dem Hengst in der Nachbarbox. Foto: Aleksandra Górecka-Bruzda
Ihre Übersichts-Studie zeigt, dass sich das Sozialleben von in Gefangenschaft gehaltenen Hengsten vom Fohlenalter bis ins hohe Alter zumindest in einigen wichtigen Entwicklungsstadien stark von dem unter natürlichen Bedingungen unterscheidet:
– Sie werden viel früher (normalerweise mit 4 bis 7 Monaten) von den Müttern getrennt, als dies unter natürlichen Bedingungen der Fall wäre (etwa im Alter von 2 Jahren).
– Sie haben in allen Lebensphasen keinen Kontakt zu Weibchen und haben kein natürliches Lernen über das Sexualverhalten von Stuten.
– Sie sollen sich mit jeder Stute paaren, oft auch mit einer, mit der sie nicht vertraut sind. Oder sie sollen sogar verwandte Stuten decken, wenn die Züchter dies für erforderlich halten.
Obwohl in den meisten Zuchteinrichtungen junge Hengste gemeinsam aufgezogen werden, sind die meisten letztendlich Wallache, nur wenige ausgewählte Individuen bleiben Hengste. Und ab diesem Zeitpunkt sind erwachsene Hengste sozial isoliert.
„Die soziale Rolle, für die sie sich entwickelt haben, wird nicht erfüllt, und das tröstliche soziale Feedback ihrer Familien- oder Begleitgruppen wird ihnen verwehrt.“ Dies führt häufig zu Frustration, die abnormales Sexualverhalten, unerwünschte, sich wiederholende Verhaltensweisen (bekannt als Stereotypien) und sogar Selbstverstümmelungen auslösen kann.
Das Autorinnenteam sagte, dass mehrere spezifische Empfehlungen ausgesprochen werden können, um das Wohlergehen von in Gefangenschaft gehaltenen Hengsten zu schützen und zu verbessern, von denen viele in früheren Veröffentlichungen umrissen wurden. „Unsere Übersichts-Studie gibt jedoch eine Grundlage, auf die man sich bei der Planung und Betreuung von Hengstunterkünften beziehen kann. Nur wenn wir das soziale Umfeld verstehen, in dem sich Hengste entwickelt haben, können wir hoffen, dies nach Möglichkeit in Gefangenschaft zu replizieren."
Aus den untersuchten Studien lassen sich mehrere Schlüsse über eine optimierte Hengsthaltung ziehen, so die Autorinnen: „Offensichtlich wäre die Weideaufzucht oder die Haltung eines Hengstes mit Stuten und Fohlen das ganze Jahr über die wünschenswerteste Methode, um die Bedürfnisse eines Hengstes zu befriedigen.“ Wo dies nicht möglich oder praktikabel ist, müssen die Halter sicherstellen, dass alternative Vorkehrungen getroffen werden, um die natürlichen Triebe der Hengste zu unterstützen.
Die wichtigsten und praktikabelsten Bereicherungen eines Hengstlebens konzentrieren sich auf die Ermöglichung von mehr Sozialkontakten. Dabei kann es sich um die Gruppenhaltung von Hengsten handeln oder zumindest um den direkten Kontakt zwischen den Hengsten, zum Beispiel in „Sozialboxen“ – eine vielversprechende Methode, um soziale Bindungen zu ermöglichen und damit das Sozialleben der Hengste zu verbessern. „Da Weidegang und ständige Bewegung im Freien die vorherrschenden Aktivitäten im Zeitbudget des Pferdes sind, ist der Zugang zu umweltgerechten Auslaufflächen und Weiden unerlässlich“, so die Forscherinnen.
Die Autorinnen stellten fest, dass die Fortpflanzung unter natürlichen Bedingungen auf einen kurzen saisonalen Zeitraum beschränkt ist. Für die moderne Hengsthaltung bedeutet dies, unnötige sexuelle Erregung zu vermeiden, wenn keine Paarung stattfindet, um Frustration und potenzielle Aggression bei Hengsten zu reduzieren. „Wenn diese einfachen Empfehlungen umgesetzt werden können, werden deutliche Verbesserungen des Wohlergehens der Hengste schnell möglich sein“, so die Forscherinnen.
Sie stellten fest, dass Pferde seit vielen Tausenden von Jahren unter natürlichem Selektionsdruck stehen, der durch die Domestikation auferlegte Druck jedoch vergleichsweise neu ist. „Dies ist besonders wichtig bei Hengsten, also sozialen Tieren, deren korrektes physiologisches und psychologisches Funktionieren oft stark von sozialen Erfahrungen beeinflusst wird. Leider scheinen normale reproduktive Interaktionen und Verhaltensweisen im Zeitalter der künstlichen Befruchtung überflüssig zu sein. Vielleicht kann durch das Zulassen eines natürlicheren Verhaltens das Wohlergehen von in Gefangenschaft lebenden Hengsten sichergestellt und Probleme im Zusammenhang mit geringer Fruchtbarkeit überwunden werden.“
Sie hoffen, mit ihrer Arbeit neue Perspektiven und auch neue Wege in der modernen Hengsthaltung aufgezeigt zu haben: „Es ist zu hoffen, dass ein besseres Verständnis des Lebens von wilden Hengsten dazu führt, dass ihre Bedürfnisse in Gefangenschaft besser erfüllt werden.“
Die Studie „The Social and Reproductive Challenges Faced by Free-Roaming Horse (Equus caballus) Stallions" von Aleksandra Górecka-Bruzda, Joanna Jaworska und Christina R. Stanley ist am 24. März 2023 in der Zeitschrift ,animals' erschienen und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden. (https://doi.org/10.3390/ani13071151)