News 

Rubrik
Zur Übersichtzurück weiter

Die neuen Fälle des Dr. K.: Tod eines Stunt-Pferdes
08.06.2024 / News

Anhand von ausgewählten Fällen der Jahre 1989 bis 2005 möchte der Sachverständige Dr. Reinhard Kaun Pferdemenschen „Anhaltspunkte und Leitlinien für das Leben mit Pferden" vermitteln. Im ersten Beitrag geht es um den Wert eines Stunt-Pferdes, dem ein durch Leichtsinn herbeigeführter Unfall das Leben kostete.

 Symbolfoto: Archiv/Pixabay


Als ich Mitte des Jahres 2018 , vor sechs Jahren also, in mehreren, auch internationalen Publikationen (Forensischen Hippologie, Skills & Tools der Forensischen Hippologie, Zukunftsfelder der Veterinärmedizin) den bis dahin nicht bekannten oder gebräuchlichen Begriff „Forensische Hippologie“ einführte, war ich verblüfft, mit welcher Rasanz sich diese Bezeichnung auf Briefpapieren, Visitenkarten und Internetauftritten gewisser Verkehrskreise  verbreitete, ja es erweckte und erweckt den Anschein – vermutlich als Folge der zahllosen Tatort-Serien – als  gäbe es unzählige „Hippologische Forensiker“ – Plagiatoren aufgepasst: auch dies ist eine bisher nicht gebräuchliche Wortkombination!!

Ich hatte damals – 2018 – ausgeführt:
„Forensische Hippologie (diese Bezeichnung wurde vom Autor auf der Basis langjähriger Erfahrung als Gerichtsgutachter eingeführt) umschreibt -in Analogie zu anderen Disziplinen der Wissenschaft- dasjenige Teilgebiet der Pferdewissenschaften, das auf der Basis von
–  Befunden,  
–  Empirie und
–  wissenschaftlichen Erkenntnissen
Schlüsse zieht, die in ein (gerichtliches) Gutachten münden – mit anderen Worten: Die Erkenntnisse der Klassischen Hippologie – von alters her bis in unsere moderne Zeit – werden gerichtsverwertbar und somit geeignet gestaltet, verfahrens- und rechtsrelevante Fragen in einschlägigen Verfahren zu erhellen bzw. zu beantworten.
Eine direkte Schwester der Forensischen Hippologie ist die klinisch-forensische Veterinärmedizin, die jedoch nicht zwingend immer in der Lage ist, jene Lücke zu schließen, die sich zwischen Pferdewissenschaften (Hippologie) und Pferdemedizin (Hippiatrie) in zunehmendem Maße aufgetan hat.
Nicht jeder, noch so renommierte Pferdemediziner ist auch auf dem Gebiet der Wissenschaft vom Pferde ein profunder Kenner oder hat die Prinzipien der Reit- und Fahrkunst je selbst „er-ritten oder er-fahren“.
Nicht jeder, noch so hochangesehene Hippologie hat auch das Wissen und die wissenschaftliche Grundlage, um auf Basis seiner persönlichen Fähigkeiten medizinische oder gerichtlich relevante Rückschlüsse zu ziehen.“  [zit.]

 
Zwar leitet sich bekanntermaßen das Wort „forensisch“ vom öffentlichen Marktplatz des forum romanum ab, Forensik als Arbeitsgebiet ist aber in allen Sparten längst mehr als nur  eine „öffentliche, weil gerichtliche Beschäftigung“ geworden – der wissenschaftliche Anspruch in unserer Zeit besteht in Erkundung, Erforschung, Interpretation und Begutachtung von Fakten, Handlungen, Situationen und Vorkommnissen von öffentlicher Bedeutung oder – wie ich es seit Jahren zu bezeichnen pflege – von Forensischer Relevanz.
Nachdem ich nun seit Jahren meine Erfahrungen, Erkenntnisse, Forschungen und Versuche in nunmehr 20 Sammelwerken zum Thema „Angewandte und forensische Hippologie“ zusammengefasst habe:

–  1. Forensische Relevanz im Umgang mit Pferden
–  2. Fachtexte, Regeln, Essays, Checklisten
–  3. Befund und Gutachten in der klinischen Forensik
–  4. Unfälle mit Pferden
–  5. Angewandte Hippologie
–  6. Strafrecht und Tierquälerei
–  7. Nachvollziehbare Gutachten
–  8. Klinisches Notfallmanagement und Katastrophenmedizin
–  9. Klinisch-forensische Veterinärmedizin
–  10. Hippologische Leckerbissen
–  11. Wohlbefinden des Pferdes
–  12. Physikalische Medizin beim Pferd
–  13. Bemerkungen zum Hufbeschlag
–  14. Sicherheitsexperte für Pferde und Pferdesport
–  15. Methodisches Training von Pferden
–  16. Vergleichende forensische Human – und Veterinärmedizin
–  17. Zeitgemäßer Fahrsport: Tradition und Sicherheit
–  18. Streifzüge: Hippologisches Lesebuch
–  19. Energetische Hippologie und Hippiatrie
–  20. Leistungsorientierte Fütterung von Sportpferden
 
 ist mir klar geworden, dass eine rein akademische Aufbereitung der Themenbereiche dann sinnlos ist, wenn die „grundlegenden Aussagen“ nicht an die Pferdeleute herangetragen werden.

Ich werde deshalb als Konsequenz dieser Erkenntnis – und mit ausdrücklicher Ermunterung durch Herrn Chefredakteur Mag. Pingitzer in den nächsten Wochen unter dem Generaltitel „Angewandte forensische Hippologie“ die Quintessenz von ausgewählten Gutachten der Jahre 1989 bis 2005 (Bild weiter unten) darstellen - kurz und episodisch, aber subjektiv – mit der Absicht, Pferdeleuten Anhaltspunkte und Leitlinien für das Leben mit Pferden – jeweils im Spiegel meiner Gutachten und meiner persönlichen Meinung – darstellen;  andere, von meiner Sicht abweichende Ansichten und Meinungen sind natürlich immer möglich, manchmal sogar wahrscheinlich und werden auch respektiert: es soll Pferdeleute auszeichnen, eine eigene Meinung zu bilden, die Basis dazu sollte breit, solide und fundiert sein, persönliche Einzelerfahrungen dürfen nicht zur „Lehre“ erhoben werden.

 Die Essenz jahrzehntelanger Tätigkeit: 20 Bände „Angewandte und forensische Hippologie"
 
Der Tod eines Stunt-Pferdes

Ich weiß, es ist nicht nötig, zu erklären, was man unter einem „Stunt-Pferd“ versteht; dennoch lohnt es, darüber kurz nachzudenken, worin – abgesehen von der Spezies – der Unterschied zwischen einem Stunt-Man oder einer Stunt – Women und diesen besonderen Pferden besteht: übersetzt bedeutet „stunt“ ein gefährliches, akrobatisches Kunststück im Film oder auf der Bühne, bei der „Stunt – Akteure“ die Rolle der eigentlichen Darsteller oder Schauspieler übernehmen – im Gegensatz dazu sind aber „Stunt-Pferde“ niemals „Stellvertreter“; sie mögen gefärbt, bepinselt oder verkleidet sein, in jeder Maskerade sind sie aber sie selbst, auch wenn sie andere darstellen – jede Gefahr, in die sie am Set oder auf den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten, gebracht werden, ist ihre persönliche Bedrohung. Daran sollten Pferdeleute bewundernd und – inneren Applaus spendend – immer denken, wenn sie „Stunt-Pferde in action“ sehen.

Das Pferd, von dem ich hier erzähle, möchte ich deshalb entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten, mit realem Namen vorstellen:

Der sechzehnjährige Milchschimmel-Wallach IKVA war engagiert zum Auftritt in der Oper „Carmen“ auf der größten Seebühne hierzulande – er sollte den Toreador Escamillo, den gefeierten Stierkämpfer über die Bühne tragen, während dieser seine Arie „Auf in den Kampf Torero…“ im Sattel sang. Massenszenen der Arena, künstlicher Tumult, üppiger Chorgesang, herumlaufende Kinder und wuchtige, orchestrale Pracht würden diesen Auftritt begleiten, Scheinwerfer und glitzerndes Gewässer rundherum.

Es bestand kein Zweifel, dass IKVA, der Schimmel mit den stählernen Nerven, diese Aufgabe mit Bravour meistern würde, den reichströmenden, samtenen  Bariton des Sängers liebte er bereits seit der ersten Probe – aber, nicht er, der abgebrühte und erfahrene, stoische Wallach, sondern die zweibeinigen Darsteller benötigten noch weitere Proben - und so stand IKVA viele Stunden in den Kulissen der Seebühne und ließ ungerührt alle Aufforderungen zu weiteren Wiederholungen über sich ergehen – mit altungarischer Noblesse  war stolz darauf ein „Bühnen-Professional“ zu sein.

Doch da, plötzlich, blecherner Lärm und schneidender Schmerz – disziplinlos herumalbernde Statisten hatten ein, in den Kulissen verwahrtes Lüftungsrohr umgeworfen – die scharfe Metallkante hatte dem Schimmel die Beugesehnen beider Hinterbeine durchtrennt.
Der Eigentümer des Pferdes hatte als Schadenersatz DM 38.000 geltend gemacht, weitere DM 50.000.00 für entgangene Einnahmen infolge des Todes von IKVA – seinem Erwerbspartner.
Die in Anspruch genommene Versicherung wollte in einem Gutachten geklärt wissen, ob diese Summen gerechtfertigt wären – eine detaillierte gutachterliche Wertermittlung umfasste der Auftrag nicht.

Mein Gutachten:

„Nach Prüfung sämtlicher Unterlagen sowie Konsultation inländischer und ausländischer Ausbildner im Circus- und Showgeschäft kommt der Sachverständige zur Ansicht, dass der Betrag von DM 38.000.00 für die Anschaffung und Ausbildung eines Stuntpferdes sowie DM 50.000.00 für den Verlust von Einnahmen nach dem Tod des Pferdes IKVA gerechtfertigt und nicht überhöht ist.“[zit]

Dieser Unglücksfall, der einem bedeutsamen Pferde das Leben kostete, liegt nun fast 30 Jahre zurück – Internetrecherchen und Mailverkehr steckten – wenn überhaupt möglich – noch in sehr kleinen Kinderschuhen.

Symbolfoto Dr. Kaun/Gestütsparade Ganschow MVP
 
Da zum Zeitpunkt des Gutachtensauftrages das Pferd nicht mehr am Leben war, konnte ein status praesens durch den SV nicht erhoben werden – aber: Der SV kannte dieses Pferd von seinen Besuchen der Equitana 1987, der Wiener Stadthalle 1988 und der Pferd Wels 1992 – jeweils in Aktion – als Zuschauer.

Auf den vorgelegten Fotos und Videoaufzeichnungen präsentiert sich der Schimmel jeweils sehr gehorsam, losgelassen, durchlässig, bestens trainiert, ausgebildet und kooperativ, mit guten und gleichmäßigen Grundgangarten, insbesondere imponiert er durch eine betont „sichere“ Hinterhand. Das Pferd war ganz offensichtlich in der gesamten Bandbreite der Arbeit eines Show- und Stuntpferdes ausgebildet und eingesetzt. Die gezeigten Aktionen, die auf Video nachvollziehbar festgehalten sind, wirken selbst auf einen abgebrühten Pferdemann wie den SV atemberaubend.

Insbesondere sei hervorgehoben:
–  Schwimmen mit Reiter durch einen reißenden Fluss
–  Reiterattacke mit Sturz
–  Sturz nach Ritt auf explodierender Brücke
–  Liegendes Pferd
–  Laufen von Menschen hinter dem Pferd
–  Ritt durch eine Feuerwand
–  Sitzen „bei Tisch“
–  Unzählige Cowboy – und Film-Stunts.
 
Das Schicksal beschreitet gelegentlich seltsame Wege:
„Der berühmte General und Heerführer, Sieger in unzähligen Schlachten, nie verwundet, starb in seinem Bette an spanischer Grippe.“
Leo Perutz Der Marques de Bolibar

------------------------------------

Ich habe in den langen Jahren, die ich bisher an der Welt der Pferde teilhaben konnte, in der professionellen „Show-, Stunt- und Circus-Reiterei“ sehr viele, sehr bedeutsame, sehr ernsthafte Menschen und wunderbare, solitäre Pferdepersönlichkeiten kennengelernt, die größte Hochachtung und tiefen Respekt aller Pferdeleute verdienen – Partner Pferd wird auf seidenem Kissen getragen!

------------------------------------

07.06.2024

Kommentare

Bevor Sie selbst Beiträge posten können, müssen Sie sich anmelden...
Zur Übersichtzurück weiter

 
 
ProPferd.at - Österreichs unabhängiges Pferde-Portal − Privatsphäre-Einstellungen