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"Sein der Pferde": ein Buch, so ungewöhnlich wie lesenswert!
31.10.2024 / News

Warum tun Pferde Menschen so gut? Warum ziehen sie uns in ihren Bann? Autorin Barbara Schönher ist dieser Frage in ihrem neu erschienenen Buch nachgegangen – und kommt beim Versuch, „die Geheimnisse der Pferde zu ergründen", zu erstaunlichen Antworten. Eine Buchbesprechung von Dr. Reinhard Kaun.


„Sein der Pferde“ ist ein ungewöhnliches Buch – langatmig, weitschweifend und tiefgründig, jeweils in der Wörter ureigensten positiven Bedeutung; wohltuend hebt sich der Text auf etwa 350 Seiten vom heute üblichen, oberflächlich und atemlosen  Dahinhecheln ab, indem Gedanken in ständigem Wechsel der Persönlichkeitsschichten der Autorin  entstehen, ergründet werden, reifen, verworfen werden, erneut an die Oberfläche kommen und langsam, sehr langsam zu einem Entschlusse reifen, an dessen Gipfel ein weißes Pferd steht.

Im Jahre 1878 veröffentlichte Heinrich von Kleist (Das Käthchen von Heilbronn, Der zerbrochene Krug,…) die denkwürdige Schrift „Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden“, in der er den Redefluss als treibende Kraft zur dynamischen Entwicklung von Gedankengängen darstellt, eigene Ressourcen vorausgesetzt – an diesen Traktat wurde ich als Leser jetzt erinnert. Verfeinert und modifiziert wurde Kleists Grundidee durch den österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessman in seinem Grazer Referat (2013) „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“:

„Zwei Thesen stellte Liessmann an den Beginn seines Vortrags. Erstens: „Jeder Text, der geschrieben werden will, kann nur geschrieben werden, indem er in eine lineare Form gebracht wird“. Und zweitens: „Meist ist es aber so, dass man die Ordnung der Gedanken erst dann wirklich kennt, wenn man sie hingeschrieben hat“. Ein Paradoxon, das die Probleme beschreibt, die – vor allem, aber nicht nur – jene Menschen haben, die wissenschaftlich schreiben müssen. Die Lösung dieses Problems liegt für Liessmann in der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“. Erst beim Schreiben selbst würden sich die Gedanken formieren, sich Zusammenhänge erschließen und vorher ungeahnte Erkenntnisse einstellen. So generiere sich Wissen durch das Schreiben.

Liessmann versteht Schreiben nicht als plan- und kontrollierbaren Akt, sondern als Prozess. Am Beginn dieses Prozesses steht „die große Leere“ des weißen Blattes Papier, die mit dem ersten Satz gefüllt sein will. Dieser erste Satz hat das Potenzial, alles darauf Folgende zu bestimmen – einfach schon dadurch, ob der zweiten Satz mit einem „und“, „oder“, „aber“, „jedoch“ oder einer anderen logisch-syntaktischen Verbindung fortgeführt werden kann. „Der erste Satz zeitigt den zweiten Satz“, so Liessmann. Gleichzeitig kann die Eigentümlichkeit des Schreibflusses dazu führen, dass am Ende etwas ganz anderes herauskommt als am Anfang gedacht. Wenn man sich vom eigenen Schreiben führen und treiben lässt, ist das Ziel ungewiss, die Möglichkeiten sind aber gleichzeitig auch unbegrenzt.“
 [zit. 05.08.2013, Text: Adrian Zagler, Online-Redaktion https://erwachsenenbildung.at]

Diese Betrachtungen des großen Heinrich von Kleist (geb. 1777) und des bedeutenden Konrad Paul Liessmann (geb. 1953) kamen mir beim Lesen immer wieder in den Sinn, als die Autorin ihr Leben in Abschnitten aufzurollen begann: die Zeit, die sie zur wissenschaftlich Ausbildung und für ihr Doktoratsstudium in London zubrachte, ohne Pferd, denn ihres war gestorben, aber dennoch auf Schritt und Tritt (im Unterbewusstsein) von ihm begleitet – ständig Assoziationen hervorrufend bei jedem Reiterdenkmal, bei jeder Reiterstatue, bei den Wachablösen der Berittenen.

Um jedoch angesichts eines leeren Blatt Papiers von der Muse der Intuition geküsst zu werden, bedarf es bei Autor oder Autorin eines wohlgefüllten „Speichers“ an Wissen, Erfahrung, Gefühlen und Meta-Beobachtungen, denn auch hier gilt das ewige Gesetz „de nihilo nihil“ – aus Nichts wird nicht Nichts-  ist der Kopf und das Herz ebenso leer wie das unbeschriebene Blatt, wird keine gedankliche Eruption erfolgen können, heiße Luft und Wortebrei bestenfalls. 

In einem weiteren Abschnitt reift in der Ich-Erzählerin der Gedanke, der Wunsch – nein – die unstillbare Sehnsucht, wieder ein eigenes Pferd zu besitzen; was zunächst wie eine unwirkliche, fast wahnhafte Vorstellung als weißes Einhorn in der inneren Welt auftaucht, wird in einem nächsten Abschnitt – die Autorin ist zurück in Wien – zur lebendigen Wahrheit: der Schimmel „Galante“. Über viele Seiten hindurch vermeint die Erzählerin das junge, dominante Pferd zu erziehen, sie gibt ihm gekonnt und bewusst Sicherheit – aber ist doch letztendlich selbst die Behandelte und schließlich Genesene.

Wie im Weiteren beschrieben, geht dieses Beginnen so lange gut, bis innerer und äußerer Druck die Harmonie stört: der Druck von innen, der die Zweisamkeit von Pferd und Eigentümerin stört, entsteht durch verschiedenste Scherereien, die auf die Eigentümerin von „Galante“ einwirken und von ihr - ohne ihr bewusst zu sein - an die feinen Antennen des Pferdes ausgesandt werden, mit dem Ergebnis, dass das Pferd sich verändert, schreckhaft wird und durchzugehen beginnt. Wie viele Menschen, denen Ähnliches widerfuhr und widerfährt, vermeint sie, Reitlehrer könnten das Problem lösen, also Druck von außen beginnt nun einzuwirken. Die erlösende Erkenntnis braucht Zeit: ein übernervöser Mensch sollte nicht im Sattel sitzen und anstatt eines wenig einfühlsamen Reitlehrers ist das Studium alter Reitmeister und die Befolgung der bewährten Ausbildungsskala der größte Nutzen: Im guten Schritt zu reiten und Losgelassenheit beider Individuen erspüren bringt Takt, Anlehnung und – irgendwann einmal – Versammlung bei natürlicher relativer Aufrichtung in der „Art der Meister“ – nicht der Blender oder Strampler. Erfreulich ist, dass die suchende Autorin stets zu Primärquellen greift und Abgeschriebenes von Abgeschriebenem peinlich meidet.

In weiterer Folge schildert die Autorin ihren sehr persönlichen Weg zur weiteren Förderung ihres „weißen Pferdes“ – probiert Vieles aus – geleitet von Eklektizismus und Trial & Error und findet den Pfad - sowohl zu sich selber wie auch zu ihrem Pferde.

Pferde grübeln nicht, wenn ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind, können sie mit ihrem Dasein in eine ausgewogene Zufriedenheit gelangen; ständig unzufrieden zu sein, ständig mehr zu wollen ist ihnen dann fremd; gelingt es dem Menschen, der in tiefer Harmonie mit einem „Leib-Pferde“ lebt, kann diese Zufriedenheit auf ihn übergreifen und ihn einhüllen – dann wird „Reiten“ als Sinn per se  begriffen, ohne Accessoires, nur mit gedanklich Hilfen.

Dichter besingen den Odem der Liebe – und „Od einzublasen“ – also dem Pferd in die Nüster zu hauchen – (ohne „Fahne“ von Alkohol, Kaffee oder Zigaretten!) lehrte den Rezensenten in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts der alte Pferdehändler Ludwig Schauflinger, als probates Mittel, mit einem Pferd zu verschmelzen – in einem der letzten der fünfzig Kapitel macht die Autorin ebendiese Erfahrung.

In einem abschließenden „Geleitwort“ fasst die Autorin die Absicht, die sie mit dem vorliegenden Buch verfolgte, mit der Frage zusammen: „Warum tun Pferde Menschen gut?“ – auf fast 350 Seiten hat sie diese Frage, besser unzählige Fragen, beantwortet, hat langsam,  immer neue, sehr persönliche Aspekte entwickelt, warum ihr Pferd „Galante“ – das weiße Pferd – ihr Wege zeigte, in eine für sie neue Dimension des Seins zu gelangen; ihrer „Doktorarbeit“ im Fach Ontologie, also der Lehre des Seins kann somit hinzugefügt werden: Quod erat demonstrandum! 

Leser benötigen langen Atem, viel Zeit und Wissensdurst, gepaart mit Stehvermögen, um das Wesen dieses Buchs zu ergründen – ist diese Voraussetzung erfüllt, winkt reicher „Lohn“!

Dr. Reinhard Kaun

Das Buch „Sein der Pferde" von Barbara Schönherr (Paperback, 360 Seiten, ISBN-13: 9783759776921) ist im September 2024 erschienen und kann hier beim Verlag BoD bestellt werden!

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