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Die neuen Fälle des Dr. K.: Der Spielraum des Nasenriemens
02.11.2024 / News

Mit der ab 2025 geplanten Einführung des ,FEI Measuring Device' soll einmal mehr versucht werden, ein verbindliches Maß für den Abstand des Nasensriemens im Pferdesport festzulegen, ähnlich dem ISES-Messkeil. Doch welches „Instrument“ nun tatsächlich zum Einsatz kommt, wird solange unerheblich sein, als man das Wesentliche nicht aus den Augen verliert.


Die Norm des Individuums & der Spielraum des Nasenriemens

Die Contradictio in dictu dieser Überschrift zeigt das Dilemma, aus der Individualität unzähliger einzelner Pferde ein verbindliches Einheitsmaß abzuleiten – aber genau dies wird in dieser Zeit – wieder einmal – versucht.

 

Die überlieferte „Zwei-Finger-Regel“ besagt, dass der Nasenriemen am knöchernen Nasenrücken einen Raum von zwei Fingern haben sollten, um während der Arbeit im Sattel dem Pferde ein ordnungsgemäßes Abkauen zu ermöglichen.

 

„Findige“ Missachter dieser Regel – welcher Beweggrund sie auch immer antreiben möge – haben alle möglichen „Alternativ-Varianten“ gefunden, z.B. die zwei Fingerregel seitlich am Kopf anzuwenden, wo dafür immer genug Platz sein wird. Dieses Maß entspricht nicht der Regel.

 

Wieder andere benützen zur (vermeintlichen) Regelanwendung den Raum zwischen den Unterkieferästen, der auch immer genügend „Freiheit“ aufweist – auch dieses Maß ist falsch angewandt.

Eine bemerkenswerte Beobachtung stellte ich immer wieder beim Unterricht von Kindern fest: Ohne von hippologischen Aufsichtspersonen korrigiert zu werden, zurren selbst sehr kleine Kinder, die nur mit Hilfe ihrer Reitstiefel schon aufrecht stehen können, den Nasenriemen  mit einer Kraft und Grobheit an, die man – besonders dem „schwachen“ Geschlecht – nicht zutrauen würde.
Zugegeben, man kann über die Maßeinheit „zwei Finger“ trefflich streiten, wieviel dies nun in Zentimetern wäre: sind es die groben Finger einer derben Männerhand oder sind es die schlanken Finger einer eleganten Dame?

Jahrhunderte trug der Mensch seine Maßeinheiten mit sich herum und hatte sie deshalb stets „griffbereit“: die Elle, die Spanne, den Fuß, den Schritt und konnte sie umgehend anwenden – und: es kam auf Detailgenauigkeit nicht an, sondern auf das Bewusstsein, dass Pferde, um losgelassen sein zu können, bei Verrichtung von Arbeit unter dem Sattel, im Geschirr oder an der Longe „kauen können“ müssen; wieviel „Raum“ ein Pferd dazu braucht, unterliegt keiner Millimeter-Norm, sondern einer beträchtlichen individuellen Bandbreite – entscheidend und wesentlich ist allein, dass es überhaupt ermöglicht wird:  

– Länge von Ober- und Unterkieferast
– Öffnungshöhe und Winkel der Kieferäste
– Ausformung des Zungenbeins
– Dimension der Zunge
– Wölbung des Gaumendaches
– Altersbedingter Zahnstatus
– Dehnungsbereitschaft der Lefzen

sind die wichtigsten Kriterien, die das Öffnungsbedürfnis des Mauls zum entspannenden Kauen bestimmen, ohne dass die Zunge über das Reit-Gebiss gelegt wird oder seitlich heraushängt oder sich das Pferd „festmacht“. Dieses Abkauen hat mit den Kaubewegungen beim Fressen nichts zu tun.

Die, schon hunderte Male von mir zitierte Erkenntnis des Grafen Wrangel „der Weg zum Pferde führt über sein Maul“ ist so zu verstehen; ein Pferd, das sich mit seinem Reit- oder Fahrgebiss wohl fühlt, ausreichend – d.h. nicht zu viel und nicht zu wenig – Platz zum Abkauen hat, kann der Zufriedenheit schon sehr nahe kommen – dieser „Weg zum Pferd“ ist also ein sehr individuelles Maß, das auch nicht ein Pferdeleben lang gleich bleibt.

Reiter oder Fahrer – welchen Geschlechts auch immer - sind also zu ermutigen, die „Zwei-Finger-Regel“ bei einem Pferde jeweils individuell und situationsgerecht anzuwenden: in der Reithalle kann möglicherweise die „Freiheit“ größer sein als am Turnierplatz – experimentieren und variieren ist der Schlüssel – und – das sauber gepflegte Reit- oder Fahrgebiss mit Honig zu bestreichen, kann Wunder wirken; als Maxime hat zu gelten: das Pferd muss sich wohl fühlen und Sicherheit muss gewährleistet sein.

 

ISES-Mess-Keil als Variante zur den „Fingern“

 

ISES Mess-Keil: Gesamtlänge 20 cm, Länge des Keiles 10 cm
Messraster für Mundstückstärke
Liegend: zwei Finger breit
z.B. englisches Reithalfter
Stehend: zwei Finger hoch
z.B. hannoversches
Reithalfter

 

 
FEI Measuring Device – ein Messinstrument, das ab 2025 verpflichtend sein soll.

 

 

Das FEI Measuring Device unterscheidet sich in den Maßen nur unerheblich vom ISES-Messkeil.


Welches „Instrument“ nun tatsächlich zum Einsatz kommt, wird solange unerheblich sein, als man das Wesentliche nicht aus den Augen verliert:

Abkauen, schaumiges oder (zumindest) feuchtes Maul, Ab-Schnauben, Reiner Gang und ein physiologisches Zusammen-Arbeiten der Muskelgruppen auch unter höchster Spannung sind bedeutsame Zeichen für Losgelassenheit, die ihrerseits die Voraussetzung für Arbeit von Pferden bei Wohlbefinden ist.

Trockenes und totes Maul, festgehaltener Rücken, über oder hinter dem Gebiss zu gehen, Zähneknirschen, Zungenstrecken, Krampfkauen, Schweifschlagen und Schlauchgeräusch sowie Taktfehler zeigen die Abwesenheit von Losgelassenheit an. Auch eine „Zügellahmheit“ ist in ihrer Ursache zu erforschen und abzustellen.

Das FEI-Measuring Device kann dabei bestenfalls für die Dauer einer Prüfung das absolut einzuhaltende Mindestmaß an Spielraum festlegen, Pferdemenschen werden auch weiterhin ihren Pferden den individuell passenden Freiraum zum Kauen gewährleisten.

Nach Vorkommnissen übler Art, die in der Pferdewelt für „allgemeine“ Entrüstung und Empörung sorgen, ist in den offiziellen Medien der Verbände – vom lokalen Verein bis zum Weltreiterverband – immer wieder zu lesen:
„Es wird in dieser Sache vom Verband ermittelt, der sich um die Wahrung des Tierwohls besorgt zeigt!“

Nun, ich denke, man sollte sich nicht der leeren Sprache der Politik bedienen, man sollte sich nicht besorgt zeigen, sondern man sollte besorgt sein!

Studien, Publikationen, Artikel, Tagungen, Kongresse und Bücher über „Tierethik“ sprießen wie Pilze im Herbstwald – es wird höchste Zeit, dass sich zur „Angewandten Hippologie“, zur „Angewandten hippologischen Forensik“ auch endlich eine „Angewandte hippologische Ethik“ gesellt, die von der Moral der Menschen, die mit Pferden umgehen, getragen wird – „Ermittlungen“ sind nämlich Sache von Polizei und Staatsanwaltschaft! 

Organisationen und Verbände, in deren Mittelpunkt Pferde stehen, sollen fachlich untersuchen, analysieren und Befunde nach fachlicher Glaubhaftigkeit und Übereinstimmung mit der hippologischen Lehre zum Wohlbefinden der Pferde prüfen und bewerten – dabei aber die Lehre an der Basis nicht vergessen – die Pferdewelt besteht nicht (nur) aus „Klasse S international“!
    

 

PS: Dem aufmerksamen Leser, der zwar vernünftigerweise kritisch geblieben ist, aber nicht dem „Beckmesserismus“ (wem dieser Begriff fremd ist, möge in Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ nachlesen) verfallen ist, wird klar geworden sein, dass das „weiche Fixieren“ der Trense – in diesem Fall eine Golden Wings Trense von Stübben – wie am rechten Foto (unten) dargestellt und jahrelang praktiziert, keineswegs ein Zäumungsfehler, sondern eine bewährte und erlaubte Zäumungsvariante ist, die dann zur Anwendung kommt, wenn Nasenriemen und Sperr- Riemen  besonders viel Raum zum Abkauen bieten. Mit diesem Freiraum ist aber verbunden, dass bei allen Gangarten das Gebiss auf den Laden „klappert“, was dem Pferde unangenehm ist – weshalb Reitergrößen aller Zeiten, die über die Gnade der „guten Hand“ verfügten, diese bewährte Zäumungsvariante angewendet haben – allen, die nach einer „Reiterhand“ streben, kann sie empfohlen werden – weiter Naseriemen und langgeschnallter Sperr-Riemen vorausgesetzt: Der Leser mag sich erinnern, auch wenn er's nicht mehr „hören“ kann:
„Der Weg zum Pferde führt über sein Maul!“ 

 


Gutachten, Fotos, Grafiken und Literatur: Archiv und ex libris Dris. Kaun.

Eine Bitte: Meine Aufsätze, Publikationen und Kommentare sollen Pferdeleuten unserer Tage zu Orientierung, Selbsteinschätzung und Beziehung zu Pferden dienen. Personen, die kommerziell mit Pferden Kontakt haben, mögen die von Anstand und Benehmen vorgegebenen Regeln respektieren, Quellen anführen und korrekt zitieren – danke!

Sollten Leser meiner Aufsätze einzelne Themen vertiefen wollen, so kann auch - unter den oben angeführten Bedingungen - aus dem reichen Fundus der kostenlosen Downloads auf www.pferd.co.at geschöpft werden.

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