Scharfe Spitzen an den Pferdezähnen sind zumindest lästig, meist jedoch schmerzhaft und behindern nicht nur den Fress-Vorgang, sondern auch das notwendige Abkauen. Wie man das Entstehen solcher Spitzen verhindern kann, verrät Dr. K. in diesem Beitrag – und auch, was es mit dem ,eisernen Gustav' auf sich hat.
Zuvor jedoch ein kleiner literarischer Exkurs:
Der Amerikaner Mark Twain – neben meisterhaften Erzählungen auch Autor von Tom Sawyers Abenteuer und Die Abenteuer des Huckleberry Finn – setzte im Jahre 1878 seinen Plan, die „Alte Welt“ zu Fuß zu erkunden, in die Tat um. In seinem Buche „Bummel durch Europa“ [Anaconda Verlag 2021 ISBN 978-3-86647-430-7] beschreibt er in fünfzig Kapiteln und auf fast 500 Seiten seine Erlebnisse, Beobachtungen und kritischen Anmerkungen, wobei er mit sarkastischen Anmerkungen über Land und Leute, aber auch über seine reisenden amerikanischen Landsleute nicht gerade sparsam umgeht.
„Jetzt bereiteten wir uns auf eine beachtliche Wanderung vor – von Luzern nach Interlaken über den Brünigpaß. Aber im letzten Moment war das Wetter so gut, dass ich meinen Entschluss änderte und eine vierspännige Kutsche mietete. Es war ein gewaltiges Gefährt, geräumig, in der Bewegung ruhig wie eine Sänfte und höchst bequem………
Als wir uns dem Kaiserstuhl näherten, riss ein Teil des Zuggeschirrs. Einen Augenblick lang waren wir bekümmert, aber nur einen Augenblick lang.
Die Längsleine war ………
aber lassen wir doch Mark Twain selbst erzählen:
……sie flach vor die Augen – so – und dann sank sie mit einem schrillen Schrei aus dem Sattel, und man sah nur noch ein Kleid aufleuchten, und dann war alles vorbei.“
Dann nach einer Pause:“ O ja, dieser Führer hat dies gesehen – ja, er hat alles gesehen. Er hat alles genau so gesehen, wie ich es Ihnen erzählt habe.“
Nach einer weiteren Pause: O ja, er hat alles gesehen. Mein Gott, das war ich. Ich war dieser Führer!“
Mark Twain ist ein wunderbarer Erzähler, vor siebzig Jahren habe ich die Abenteuer des Tom Sawyer und seines Freundes Huckleberry Finn ebenso freudig erregt gelesen, wie ich nun den „Bummel durch Europa“ mit allergrößtem Vergnügen gelesen – der Witz, der Scharfsinn, die Selbstironie und der – streckenweise- Sarkasmus bereiten dem Leser ein außerordentliches Vergnügen, das durch die brillante Übersetzung noch vergrößert wird.
Über Spitzen
Während die begehrten Textilerzeugnisse aus Brüssel, die Brüsseler Spitzen, in vornehmen Zeiten hochangesehene und sehr teure Accessoires in der Modewelt darstellten, Bergspitzen das Sehnsuchtsziel von Alpinisten verkörpern, sind Spitzen an den Pferdezähnen, also per definitionem „spitz zulaufende, scharf spießende Enden“, weder begehrt noch angestrebt, sondern zumindest lästig, meist jedoch schmerzhaft und behindern nicht nur den Fress-Vorgang, sondern auch das notwendige „Abkauen“ zur Erlangung einer Los-Gelassenheit von falscher Spannung psychischer und physischer Natur – also von VER-Spannung.
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„Der Kauschlag ist beim Pferd von der Art des Futters abhängig. Beim Fressen von Raufutter, wie zum Beispiel Heu, macht das Pferd einen größeren Kauschlag als beim Fressen von Hafer oder anderem Getreide. Messungen gibt es mit dem Molographen nach Leue (!941) bis hin zu modernen Methoden mit optoelektronischen Messsystemen.
Durch einen zu kleinen Kauschlag wird die Kaufläche nicht komplett abgerieben, dadurch kommt es [….] zur Bildung scharfer Zahnkanten, diese entstehen im Oberkiefer stets an der Backenseite, im Unterkiefer an der Zungenseite.
Scharfe Kanten können bei Pferden jeden Alters entstehen.
[…..]
Es ist nicht ausreichend, ein Pferd erst dann zu behandeln, wenn es Probleme beim Fressen oder bei der Arbeit zeigt!“
[Carsten Vogt: Lehrbuch der Zahnheilkunde beim Pferd, Schattauer 2011]
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Schon alleine durch sanftes Entlangstreichen an der Zahnleiste des Oberkiefers kann man mit der bloßen Hand eine Druckempfindlichkeit feststellen, das Pferd zeigt beim Schleimhautverletzungen an der Backeninnenseite ein deutliches Ausweich- oder Abwehrverhalten – der Rat und die Hilfe erfahrener Tierärzte ohne Ansehen von deren Geschlecht ist einzuholen.
Hat man sich vor der Jahrtausendwende nur selten und wenig um Pferdezähne gekümmert, ist danach geradezu ein Boom an „horse-dentists“ (übrigens auch Tummelfeld von Personen, die der Veterinärmedizin fernstehen) losgebrochen, es wird mit den abenteuerlichsten Geräten und Verkleidungen geschliffen, geraspelt und gefräst – nicht immer zum Wohle der Pferde – denn „weniger ist meist mehr“ und hierin liegt die Kunst der Erfahrenen – nur das Störende wegzunehmen und das Notwendige zu belassen, gleichzeitig aber Nebenbefunde, wie Vollgaumen, lädierte Laden und Verletzungen der Zunge, nicht zu übersehen – auch das ist ein Aspekt medizinischer und hippologischer Ethik!
Ebenso bedeutsam wie die Behandlung ist aber die Vorbeugung – also Zahnspitzen möglichst zu verhindern.
Zahnspitzen – hier im Oberkiefer – sind scharf und verletzen die Backenschleimhaut.
Zahnspitzen – hier im Unterkiefer – sind sehr scharf und schneidend, sie verletzen die Zunge.
Die Kauflächen des Ober- und Unterkiefers weisen nur eine teilweise Deckung auf. Beim Zermalmen des Futters sollten sich die Zahnspitzen abnützen, insbesondere Kraftfutter sollte einen Härtegrad aufweisen, der dies gewährleistet.
Ein Korn von Trockenmais (links) und Pellet eines Ergänzungs- oder Fertigfutters (rechts) weisen etwa dieselbe Größe auf – Körner anderer Getreidearten sind kleiner.
Die Kaufläche eines Backenzahns vom Pferd weist etwa die gleiche Oberflächen-Struktur auf, wie der Hammer, der für die folgende Demonstration verwendet wurde.
Ein Hammerschlag auf das Maiskorn zerbrach die Oberfläche…
…..ein Hammerschlag gleicher Stärke zerlegte das Pellet in viele Einzelteile.
Daraus kann geschlossen werden, was jahrelange Erfahrung bereits bewiesen hat: eine Handvoll Körner von Trockenmais – täglich zum Futter verabreicht - erfordert eine intensivere Arbeit beim Zermalmen und Zermahlen und ist als einfache Methode zur (weitgehenden) Verhinderung der Entwicklung von Zahnspitzen anzusehen.
Der gelegentlich noch immer vorgebrachte Einwand – Kukuruz sei Hendlfutter – ist wohl nicht mehr zeitgemäß, auch wenn er von gelahrtem Munde kommen sollte.
Sehr gute Erfahrungen, um ein Pferd zum Abkauen zu motivieren, habe ich immer mit Honig gemacht; nicht nur, dass Honig den meisten Pferden schmeckt, ist er auch ein wunderbares Naturheilmittel bei Verletzungen der Mundschleimhaut: das Mundstück gut mit Honig zu bedecken, bewährt sich immer – im Sommer muss man auf herumfliegende Bienen achten; wird ein Pferd, das nicht oder wenig abkaut, mit Honig im Maul, gesattelt und gezäumt noch für 10 -15 Minuten leicht ausgebunden in die Box gestellt, wird anschließend Losgelassenheit und Anlehnung angenehmer zu erreichen sein. Diese „Ritual“ muss natürlich immer wieder zur Anwendung kommen.
Die Arbeit unter dem Sattel oder im Geschirr beginnt ja bekanntlich im Stall.
Der „eiserne“ Gustav
Leser, die nicht mehr gerade blutjung sind, werden sich an diesen wunderbaren Film erinnern, in dem der unvergleichliche und unnachahmliche Heinz Rühmann den in die Jahre kommenden Droschkenkutscher Gustav Hartmann darstellt, der wegen der aufkommenden Motorisierung in wirtschaftliche Bedrängnis kommt, sie aber mit einiger Hilfe durchsteht und gestärkt in eine neue Zeit aufbricht; obwohl mit sehr persönlichem, schnoddrigem Sprachduktus unverwechselbar ausgezeichnet – immer verständlich – weil mit Sprachkultur quasi verheiratet (ganz im Gegensatz zu den Bildschirm-Nuschlern unserer Zeit, die sogar „Burg“- Erprobten reine Sprache abgewöhnen - wie Pferden, die den Schritt verlernt haben oder denen er „versaut“ wurde) und die, wenn man den Versicherungen glauben darf, einen beträchtlichen Teil meiner geschätzten Leserschaft darstellen - diesen werten Damen und Herren möchte ich nun von einem anderen „Gustav“ berichten:
Hergestellt vor mehr als dreißig Jahren in England, aus Kunststoff, lebensgroß und lebensecht in seiner Erscheinung, kam dieser „Gustav“, ein Rappe, im Jahre 1995 in einem großen Karton nach Österreich, per LKW und zu Anschaffungs- und Transportkosten, die bei einem „echten“ Pferde nicht höher gewesen wären – aber gerade das war der Punkt – alles, was ich im Rahmen der Ausbildung von Pferdesanitätern und Fire&Emergency VETS „echten“ Pferden nicht zumuten wollte, musste fürderhin „unser Gustav“ ertragen – er tat es, ohne Widerspruch, ohne Abwehr und mit eiserner Geduld – und er tut es bis heute, nunmehr seit 2013 unter der Obhut und Aufsicht von Dr. Andreas Sendlhofer, Kärnten: nachzulesen zusammen mit der kürzlich ergänzten Namensliste
„Pferdesanitäter in Einsatzbereitschaft“.
[www.pferdesicherheit.at/Schützen und Helfen]
Übungen mit dem (damals) neu entwickelten Rettungs- und Berge- Geschirr der Fa. Haberkorn waren zunächst nur mit „Gustav“ möglich; man erkannte dabei Verbesserungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten – auch die unbedingt notwendige Fixierung des Pferdekopfes (Pfeil) wurde als klare Erfordernis festgehalten.
Auf der ,Retter Wels' war „Gustav“ viele Jahre lang ein „eye-catcher“, wenn - wie im Bild oben – die Situation „Person unter Pferd“ dargestellt und ihre Lösungsmöglichkeiten gezeigt wurden.
Unverzichtbar war „Gustav“ immer bei Notfallübungen, die von meinem Pferdespital PRO EQUO veranstaltet wurden und bei denen die Feuerwehren aus Wiesen, Pinsdorf, Ohlsdorf, Gmunden und Altmünster ebenso regelmäßig mitwirkten wie die Ortsstelle Gmunden des Roten Kreuzes und die Notärzte MR Dr. Koller und Dr. Hohn.
Die Übungsannahmen wurden meist vom damaligen Kommandanten der FF Wiesen Thomas Treibmeier vorgegeben, sie beruhten meist auf Realfällen und waren immer herausfordernd.
(Bild oben) Ein „Zuschauermagnet“ waren stets die Übungen mit dem Rettungs-Helikopter am Freigelände der ,Retter Wels' – ein Reiter, so die Annahme, liegt schwer verletzt unter seinem Pferd, zu seiner Rettung muss das Pferd ordnungsgemäß sediert und fixiert werden, um den Downwash und Lärm des Hubschraubers zu tolerieren.
(Bild unten) Nach der Rettung des verunglückten Reiters kommt „Gustav“ an die Reihe: Die italienische- südtiroler Tierärztin Dr. Kathrin Schrott, die im Pferdespital PRO EQUO die Ausbildung zur Fire&Emergency VET absolviert hatte, überwacht - und der stets hochmotivierte Pferdesanitäter Heinz Hiesl sichert V-förmig den Kopf des „Pferdes“ am Schutzhelm, während es unter dem Kommando (und nur unter diesem!!) der Feuerwehr angehoben wird.
„Gustav“ – nun bald dreißigjährig – hat ein ereignisreiches Jahr 2024 hinter sich, zahlreiche „Einsätze“ in Pferdesanitäter-Kursen standen auf dem Programm, aber auch in der Aus- und Weiterbildung von Feuerwehrleuten – weiblich wie männlich – war „Gustav“ heuer viermal in Kärnten wichtiger, weil nie ungeduldiger Teamplayer. Auch im kommenden Jahr 2025 wird der eiserne Gustav aus Kunststoff wieder als Übungspferd für die Kämpfer an vorderster Front unter der fachlichen Regie von Tierarzt Dr. Sendlhofer seinen kaum ersetzbaren Platz einnehmen.
Gutachten, Fotos, Grafiken und Literatur: Archiv und ex libris Dris. Kaun.
Eine Bitte: Meine Aufsätze, Publikationen und Kommentare sollen Pferdeleuten unserer Tage zu Orientierung, Selbsteinschätzung und Beziehung zu Pferden dienen. Personen, die kommerziell mit Pferden Kontakt haben, mögen die von Anstand und Benehmen vorgegebenen Regeln respektieren, Quellen anführen und korrekt zitieren – danke!
Sollten Leser meiner Aufsätze einzelne Themen vertiefen wollen, so kann auch - unter den oben angeführten Bedingungen - aus dem reichen Fundus der kostenlosen Downloads auf www.pferd.co.at geschöpft werden.