Entgegen der landläufigen Meinung hat das Scharren eher nichts mit Langeweile bzw. Ungeduld oder dem Betteln um Aufmerksamkeit zu tun. Eine Studie brachte eine Spezialistin für Pferdeverhalten auf eine andere Spur.
Das Scharren mit den Vorderbeinen ist grundsätzlich keine Verhaltensstörung oder Untugend, sondern eine normale Verhaltensweise: In freier Natur scharren Pferde bei der Futtersuche, denn oftmals verbirgt sich das begehrte Futter unter einer Schicht von Erde oder Schnee oder verborgen hinter Gestrüpp – und muss erst mit den Hufen freigelegt werden.
Wenn Pferde aber – trotz regelmäßiger Fütterung – dieses Verhalten immer wieder oder über einen längeren Zeitraum zeigen, kann es sehr wohl die Züge einer Verhaltensstörung oder Stereotypie annehmen, die auf ein tieferliegendes Problem hinweist. Doch auf welches genau – darüber herrschen höchst unterschiedliche Meinungen. Die meisten gehen davon aus, dass ein Pferd durch das Scharren mit den Hufen gleichsam um Aufmerksamkeit „bettelt" und etwas Bestimmtes (z.B. Futter, Belohnung oder Zuwendung) vom Menschen bekommen möchte.
Andere Hypothesen gehen davon aus, dass Pferde durch das Scharren Stress oder Frust abbauen, Ungeduld oder Nervosität demonstrieren oder schlicht ihren Bewegungsdrang nicht ausreichend ausleben können. An all diesen Theorien mag etwas dran sein – doch wissenschaftlich belegt sind sie bislang nur unzureichend, weil es kaum Forschung zu dieser speziellen Frage gibt.
Eine der wenigen WissenschaftlerInnen, die sich näher damit beschäftigt haben, ist Prof. Dr. Katherine Houpt, emeritierte Professorin für Verhaltensmedizin am ,Cornell University College of Veterinary Medicine' in Ithaca, New York (USA). Prof. Houpt ist auch Gründerin des ,American College of Veterinary Behaviorists', einer Zertifizierungsstelle für Tierärzte, die eine Spezialausbildung im Zusammenhang zwischen dem Verhalten eines Tieres und seiner Gesundheit erhalten. Die Organisation wurde 1976 gegründet, als das Interesse von Tierärzten und Forschern an diesem Thema zunahm.
Im Jahr 2014 veröffentlichte Prof. Houpt gemeinsam mit ihrer Kollegin Christina Butler eine spannende Studie zu diesem Thema, in der Daten von insgesamt 41 Trabrennpferden ausgewertet wurden. „Wir haben Traber verwendet, weil das Hufscharren das einzige Verhalten war, über das sich ihre Trainer beschwerten“, so Prof. Houpt. Die Pferde wurden während des Trainings auf dem New York State Fairgrounds untergebracht und in Boxen mit Lehmboden gehalten. Sie wurden täglich von Montag bis Samstag 30 Minuten lang trainiert.
Die Aktivitäten jedes Pferdes wurden dann anhand mehrerer Verhaltenskategorien dokumentiert, darunter Scharren, Weben, Trinken, Liegen [in Brustlage oder vollständiger Seitenlage] oder Stehen. Insgesamt wurden 58,5 Prozent der untersuchten Pferde mindestens einmal beim Scharren beobachtet, und innerhalb dieser Gruppe machte das Scharren fast 9 Prozent des gesamten beobachteten Verhaltens aus.
Die Analyse der gesammelten Daten deutete darauf hin, dass weder Alter noch Geschlecht die Wahrscheinlichkeit des Scharrens eines Pferdes beeinflussten. Doch die Forscherinnen entdeckten ein unerwartetes Muster: Pferde scharren eher nachmittags, nachdem sie trainiert worden waren, und sie waren weniger geneigt, dieses Verhalten an Sonntagen an den Tag zu legen, an denen sie nicht trainiert wurden. „Scharren wird normalerweise mit Langeweile und mangelnder Aktivität in Verbindung gebracht, daher war dieser Befund überraschend“, so Prof. Houpt.
Darüber hinaus war das Scharren am häufigsten während der Verhaltensüberprüfung am Nachmittag, die zwei Stunden vor der Mahlzeit durchgeführt wurde. Dies, so Prof. Houpt, deutet darauf hin, dass die Pferde nicht scharren, weil sie die Fütterungszeit erwarteten.
Die Ergebnisse legen vielmehr die Annahme nahe, dass es sich um ein Verhalten handelte, „mit dem sich Pferde Erleichterung verschaffen möchten.“ Die Forscherinnen vermuten, dass beispielsweise Muskelkater nach dem Training die Zunahme des Scharrens am Nachmittag erklären könnte. Sie äußerten auch die Hypothese, dass die Pferde mit den Scharren Löcher im Boden hinterlassen, in die sie ihre Hufe stellen können, um das Gewicht neu zu verteilen oder Bodenunebenheiten auszugleichen – doch dies müsste in einer eigenen Studie untersucht werden, so die Autorinnen.
In einem späteren Beitrag räumte Prof. Houpt aber ein, dass das Scharren zu jenen Formen stereotypen Verhaltens gehören kann, die vom Menschen unbeabsichtigt belohnt werden: Ein Pferd, das etwa zur Fütterungszeit mit den Hufen scharrt, wird dies tun, bis es gefüttert wird. Da es schließlich sein Futter bekommt, kann es die beiden Aktivitäten miteinander assoziieren.
„Der natürliche Grund, warum Pferde mit den Pfoten scharren, ist, um an Futter zu kommen, normalerweise wenn es mit Schnee oder Dreck bedeckt ist. Daher ist es nicht überraschend, dass dies häufig zur Fütterungszeit geschieht“, so Prof. Houpt weiter.
Das Pferd nicht zu füttern, es „warten“ zu lassen, um es auf diese Weise zu mehr „Geduld“ zu erziehen, wird übrigens mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht funktionieren: Die Lerntheorie der operanten Konditionierung hat gezeigt, dass eine seltene oder länger erwartete Belohnung die Verbindung zwischen einem Verhalten und der Belohnung nur noch mehr vertieft, so Prof. Houpt.
Sie halte es aber, wie sie an anderer Stelle anmerkte, ganz allgemein nicht mehr für angemessen, derartige Verhaltensweisen als „Laster“ oder „Untugenden" zu bezeichnen, da dies gewissermaßen dem Tier die Verantwortung für seine schlechte Angewohnheit zuschreibt. Es sei passender, diese Verhaltensweisen als „stereotype Verhaltensweisen" oder, noch genauer, als „sich wiederholende, funktionslose Verhaltensweisen" zu bezeichnen.
Fast jedes stereotype Verhalten ist Ausdruck einer Art von Stress oder Schmerz, den das Pferd empfindet. Wenn man sich ansieht, wie domestizierte Pferde gehalten werden, so Prof. Houpt, sei das kein Wunder: Studien an Wildpferden haben ergeben, dass sie 60 % ihrer Zeit mit Fressen verbringen, 25 % mit Ruhen im Stehen, 9 % mit Herumlaufen und Futtersuchen und 7 % mit Liegen.
Ein Stallpferd teilt seine Zeit ganz anders ein und wird wahrscheinlich nicht so viel grasen, es sei denn, es hat die freie Wahl, jederzeit Heu zu fressen (was bei vielen nicht der Fall ist). Selbst wenn es das Heu frei zur Verfügung hat, wird es nicht herumlaufen, um es zu suchen, und die hochkonzentrierten Mahlzeiten, die Stallpferden üblicherweise gegeben werden, führen zu einer anderen Umgebung für den Magen-Darm-Trakt als eine auf Raufutter basierende Ernährung.
Auch die Unterbringung in den Ställen ist in vielen Fällen alles andere als optimal: Ställe werden oft so gebaut, dass sie für die Stallbesitzer am bequemsten sind (oder am günstigsten), aber die sozialen Bedürfnisse der Pferde werden dabei häufig nicht berücksichtigt. Pferde sind es gewohnt, sich nicht nur zu sehen, sondern auch berühren zu können. Sie sind es auch gewohnt, einem gereizten Nachbarn entkommen zu können. Ställe mit schlechter Sicht auf andere Pferde können all das verhindern, was Stress auslöst. Manche Pferde empfinden solche Situationen als stressiger als andere.
In diesem Sinne könne auch das Scharren mit den Hufen letztlich als Mittel des Stress-Abbaus verstanden werden – als Bewältigungsstrategie, „die dem Pferd hilft, mit dem fertig zu werden, was es stresst". Als Pferdehalter und -besitzer sollte man sich dennoch mit diesen Verhaltensweisen nicht abfinden, sondern danach trachten, die zugrundeliegenden Stress-Quellen zu beseitigen bzw. zu reduzieren, „indem man mehr Raufutter gibt, die Weidezeit verlängert, die sozialen Gruppen wechselt, die Sichtbarkeit anderer Pferde in Ställen und Paddocks verbessert – oder eine Kombination davon."
Die Studie „Pawing by Standardbred Racehorses: Frequency and Patterns" von Christina L. Butler, Katherine Albro Houpt ist 2014 im ,Journal of Equine Science' erschienen und kann in englischer Kurzfassung hier nachgelesen werden.