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Sexuelle Übergriffe im Reitstall – so kann man sich schützen!
21.06.2015 / Wissen

Finger weg: Sexuelle Übergriffe im Reitstall oder Reitverein sind ein weitgehend tabuisiertes Thema – sind aber ein reales Problem, das man bekämpfen soll.
Finger weg: Sexuelle Übergriffe im Reitstall oder Reitverein sind ein weitgehend tabuisiertes Thema – sind aber ein reales Problem, das man bekämpfen soll. / Foto: Archiv
Eine sexuelle Grenzverletzung liegt dann vor, wenn die Grenze zwischen aufmerksamer Zuwendung und distanzlosem, ja, zudringlichem Verhalten überschritten wird.
Eine sexuelle Grenzverletzung liegt dann vor, wenn die Grenze zwischen aufmerksamer Zuwendung und distanzlosem, ja, zudringlichem Verhalten überschritten wird. / Foto: Archiv

Sexuelle Belästigung oder gar sexueller Missbrauch kommen, wie viele Medienberichte beweisen, auch in Reitvereinen und Pferdeställen vor, besonders gefährdet sind junge Mädchen. Die Psychologin Mag. Julia Nöbauer gibt Tipps, wie man sich davor schützen kann.

 

Dass es sexuelle Übergriffe auch im Sport gibt, ist leider Tatsache. Mit diesem Problem sind die Sportorganisationen bisher etwas verhalten umgegangen. Jetzt spricht eine 28-seitige Broschüre des Vereins Zartbitter e.V. (www.zartbitter.de) erstmals im deutschen Raum ungeschminkten Klartext. Um Jugendliche beiderlei Geschlechts (!) vor Missbrauch zu schützen, werden unter dem Titel „Platzverweis! Tipps gegen sexuelle Übergriffe im Sport“ sämtliche Formen sexuellen Missbrauchs in altersgerechter Sprache geschildert. Die Botschaft an die Jugendlichen ist klar und eindeutig: Niemand darf dich bedrohen, dir Angst machen, dich erpressen oder zu sexuellen Handlungen überreden!

Im Pferdeland England ist man sich der Problematik schon lange bewusst, so sehr, dass die British Equestrian Federation (BEF) ein 45-seitiges Dossier „Child Protection Policy & Duty of Care Guidelines“ für alle Reitlehrer herausgegeben hat. Indem man sich seitens der obersten Pferdesport-Organisation eingehend und öffentlich damit befasst, wird das Problem enttabuisiert und zugleich als realer Umstand dargestellt, dem man begegnen kann und soll. In Österreich ist man davon zwar noch weit entfernt – immerhin bietet seit kurzem die Infoschrift „Sexuelle Übergriffe – bei uns doch nicht?!“ wertvolle Informationen und Ratschläge. Dieses Heft sollte in jedem Reitverein aufliegen.

Tatort Reitverein
Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass zwei Drittel aller sexuellen Übergriffe innerhalb des nahen sozialen Umfeldes von Opfern* passieren – zu diesem zählt bei Pferdesportlern natürlich auch der Reitverein bzw. die Reitschule. Bei sexuellem Missbrauch oder sexueller Gewalt spielen Hierarchien sowie Abhängigkeits- und Vertrauensbeziehungen eine große Rolle. Der Trainer nimmt meist eine Vorbildfunktion ein und ist eine wichtige Bezugsperson für die Kinder. Das Training ist oft mit körperlicher Nähe verbunden, und der sportliche Ehrgeiz bedingt, dass eine besondere Aufmerksamkeitszuwendung des Trainers als Bestätigung wahrgenommen wird.

(* Obwohl im Großteil der bekannt werdenden Fälle von sexuellem Missbrauch die Täter männlich sind, ist trotz des weiblich dominierten Reitsports in Verbindung mit männlichen Lehrpersonen nicht auszuschließen, dass sexuelle Grenzüberschreitungen durch Männer und Frauen an Opfern beiderlei Geschlechts geschehen können. Wenn in diesem Artikel von Tätern und Opfern die Rede ist, sind damit nicht ausschließlich männliche Täter und weibliche Opfer gemeint, da immer beide Geschlechter in Täter- sowie Opferrolle in Betracht gezogen werden sollen.)

Irgendwann verschwimmen die Grenzen, werden nicht mehr eingehalten und die Schwelle wird überschritten. Dies erfolgt meist schrittweise und zu Beginn so, dass das Opfer seine Position nicht wahrnimmt. Die zuerst gewünschte Betreuung und Aufmerksamkeit wird zu intensiv und fokussiert zu sehr die Person, Körperkontakt tritt vermehrt auf und die persönliche Nähe wird zu distanzlosem Verhalten.

Was ist Missbrauch?
Es gibt keine einheitliche Definition von sexuellem Missbrauch oder sexueller Gewalt, aber kennzeichnend ist, dass der Täter seine Macht- und Autoritätsposition ausnutzt, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Jugendlichen zu befriedigen. Missbrauch geschieht prinzipiell gegen den Willen des Opfers, und das Kind oder auch der Jugendliche kann sich aufgrund seines Entwicklungsstandes nicht wehren, der Tat nie bewusst zustimmen, die Tragweite nicht erfassen oder die Situation nicht durchschauen.

Sexueller Missbrauch findet statt, unabhängig davon, ob berührt wird oder nicht. Es gibt versteckte und offensichtliche, „leichte“ und extreme Taten, und die sexuellen Handlungen schließen auch Worte und Blicke mit ein. In der Regel ist sexueller Missbrauch kein „Ausrutscher“ sondern eine geplante Tat, die sich über einen längeren Zeitraum wiederholt.
Nicht alle Formen von sexuellen Übergriffen werden strafrechtlich geahndet. Sie überschreiten aber ethische Grenzen und begünstigen das Vorkommen missbräuchlicher Handlungen. Grenzverletzungen werden zu oft als Kavaliersdelikt gesehen und gehören teilweise schon zum „normalen“ Umgang. Wann eine Grenzverletzung vorliegt, entscheidet neben dem Gesetz, ethischen Grundlagen und psychosozialen Maßstäben auch immer das subjektive Empfinden des Opfers. Zusätzlich sollte die Intention hinter einem Verhalten genau betrachtet werden, denn eine freudige Umarmung zwischen Trainer und Schützling nach einer tollen Leistung im Wettkampf stellt, wenn sie für beide Seiten in Ordnung ist, keine Grenzüberschreitung dar. Eine Umarmung aus einer anderen Intention heraus kann durchaus schon einen sexuellen Übergriff bedeuten.

Das Täterprofil
Für den Täter gibt es keine typischen „Erkennungsmerkmale“. Meist ist er auf den ersten Blick gut in den Verein integriert, engagiert und eher unauffällig. Durch seine Beliebtheit kann er im Vorfeld eine gute Beziehung zu den Opfern aufbauen. Dies löst dann nach den Grenzüberschreitungen zentral vorkommende und typische ambivalente Gefühle und Reaktionen bei den Opfern aus, da eine Person, der vertraut wurde und die man vielleicht auch bewundert hat, etwas Unangenehmes oder Peinliches tut. Gleichzeitig verhält sich der Täter außerhalb der Missbrauchssituation weiterhin zuvorkommend und angenehm gegenüber dem Opfer – was zu einer noch stärkeren Verwirrung beim betroffenen Kind führt. Zusätzlich können Ängste entstehen, z. B. dass man nicht mehr berücksichtig wird, den Sport nicht mehr ausüben kann, nicht mehr in den Reitstall darf, sein geliebtes Schulpferd nicht mehr reiten kann etc. Oft sucht das Opfer die Schuld sogar bei sich selbst. Eine sexuelle Grenzüberschreitung wird fast ausschließlich durch eine erzwungene Geheimhaltung begleitet. Der Täter übt Druck auf das Opfer aus – mittels Bedrohungen, die auf die jeweilige Lebenssituation zugeschnitten sind.

Wie erkennt man Missbrauch?
Es gibt keine eindeutigen Symptome für das Vorliegen von sexuellem Missbrauch; der einzige Hinweis ist, dass sich im Verhalten des Kindes etwas verändert. Diese Veränderungen können sich im Sozialverhalten, bei den emotionalen Reaktionen, den kognitiven Leistungen oder auch durch psychosomatische Symptome zeigen. Die besondere Situation eines sexuellen Missbrauchs bedingt, dass die Opfer meist auf andere Mittel als die Sprache zurückgreifen müssen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Es kommt zu unspezifischen Signalen, die sich im Laufe der Zeit zu Symptomen manifestieren können. Prinzipiell ist beim Auftreten von Veränderungen im Verhalten des Kindes, oder wenn das Kind plötzlich nicht mehr in den Reitstall möchte (und das nicht auf seine normale Entwicklung oder sonstige veränderte Lebensumstände zurückzuführen ist) die Ursache abzuklären. Auch die Möglichkeit einer sexuellen Grenzüberschreitung sollte in Betracht gezogen werden.

Was kann man tun?
Wenn ein Verdacht von sexuellem Missbrauch an Jugendlichen aufkommt, entstehen bei den Beteiligten oft Ohnmacht, Verunsicherung und eine große Anspannung. Beteiligte schwanken zwischen Herunterspielen und Dramatisieren, in Kombination mit dem Bedürfnis nach Sofortmaßnahmen, um das Kind zu schützen und den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen. Trotzdem ist das oberste Gebot, Ruhe zu bewahren, denn ein übereiltes Eingreifen schadet oft und kann eine wirkungsvolle Hilfe für das Opfer verhindern. Dies bedeutet auch, dass ein vorschnelles Einbeziehen der Erziehungsberechtigten und eine Konfrontation des vermeintlichen Täters vermieden werden soll. Zur Aufdeckung und Beendigung eines sexuellen Missbrauchsfalls bedarf es eines Netzwerks und multiprofessioneller Zusammenarbeit. Als Betroffener sollte man Hilfe suchen (kontaktieren einer Fachstelle) und innerhalb des bestehenden Netzwerkes beurteilen, wer mit einbezogen werden kann, ohne, dass dadurch ein vorschnelles Agieren ausgelöst wird.

Das Kind unterstützen und stärken
Sollte der Verdacht nicht durch Beobachtungen oder vage Andeutungen entstehen, sondern das Kind von der Missbrauchssituation erzählen, ist es wichtig, die Rolle als gewählte Vertrauensperson des Kindes anzunehmen und ein panikartiges Weiterverweisen des Kindes zu vermeiden. Kinder brauchen Zeit, Mut und viel Vertrauen, um sich in einer Missbrauchssituation jemandem zu öffnen. Den Erzählungen der Kinder soll Glauben geschenkt werden, sie sollen für ihren Mut gelobt und darin bestärkt werden, dass die Verantwortung für die Situation allein beim Täter liegt. Schuldgefühle und Selbstanklage entstehen beim Opfer durch das Gefühl, die Aufmerksamkeit des Täters auf sich gelenkt zu haben, aktiv beteiligt oder verführerisch gewesen zu sein. Wenn das Opfer während der Missbrauchssituation (ungewollt) angenehme Gefühle empfindet, so stärkt das die Schuldgefühle. Oft wird den Opfern bei der Aufdeckung eines Missbrauchsfalles vorgeworfen, dass sie nicht sofort reagiert oder sich aufreizend verhalten hätten, was die Selbstanklage noch verstärkt. Schuld an einer Missbrauchssituation hat jedoch in allen Fällen und unter allen Umständen ausschließlich und alleinig der Täter.

Experten hinzuziehen
Als Vertrauensperson soll man dem Kind zur Seite stehen, jedoch nichts versprechen, was man nicht einhalten kann und alle weiteren Schritte und die weitere Strategie mit dem Kind besprechen und abklären. Wichtig sind die Dokumentation der Gespräche mittels Gedächtnisprotokollen und die Zuziehung einer Fachstelle zur eigenen Unterstützung.
Wird man als Vereinsvorstand durch Erzählungen von Eltern, Trainern oder anderen Beteiligten mit dem Verdacht des Vorkommens von sexuellem Missbrauch im Verein konfrontiert, sind diese Berichte unbedingt ernst zu nehmen und Unterstützung durch eine Fachstelle hinzuzuziehen.

Sollte sich der Verdacht erhärten, die Grenzüberschreitungen jedoch strafrechtlich nicht relevant, aber ethisch nicht vertretbar sein, sind unbedingt Konsequenzen auf Vereinsebene zu ziehen. Bei einer strafrechtlichen Relevanz kann es in Erwägung gezogen werden, eine Anzeige zu erstatten. Die Vor- und Nachteile eines Strafprozesses und die Zumutbarkeit an das Opfer sind jedoch unbedingt im Vorfeld zu klären. Zentral ist dabei eine Unterstützung des Opfers durch eine Prozessbegleitung (Infos: www.prozessbegleitung.co.at).

Vorbeugen ist besser…
Man kann durch entsprechende präventive Maßnahmen, durch Aufklärung, Aufmerksamkeit usw. zweifellos Risiken minimieren – gänzlich verhindern können sie sexuelle Übergriffe aber nicht. Die derzeit stattfindende Bewusstseinsbildung und Enttabuisierung sowie die Tatsache, dass ein großer Teil der Trainer in Reitvereinen verantwortungsvoll und Grenzen respektierend agiert, tragen zweifellos dazu bei, dass Kinder in vielen Reitvereinen gut aufgehoben sind und ihren Sport – der durch die Stärkung der Persönlichkeit per se präventiv wirkt – sicher ausüben können.
Mag. Julia Nöbauer

 

KASTEN
Tipps für Eltern
Was die Eltern von jungen ReiterInnen tun können, um sexuellen Übergriffen vorzubeugen

– Fördern Sie die Selbstständigkeit Ihres Kindes und stärken Sie sein Selbst- und Körperbewusstsein. Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass es über seinen Körper selbst bestimmt und dass es in bestimmten Situationen ,Nein’ sagen und anderen – auch erwachsenen Personen gegenüber – Grenzen setzen darf und soll.

– Bringen Sie Ihrem Kind bei, zwischen „guten“ und „schlechten“ Geheimnissen zu unterscheiden – sorgen Sie in der Familie für ein Klima von Offenheit, Respekt und Akzeptanz. Ihr Kind soll mit Ihnen auch über unangenehme Dinge und Erfahrungen reden können und dürfen.

– Seien Sie besonders sensibel, wenn Sie Veränderungen im Verhalten Ihrer Kinder bemerken, wenn diese z. B. plötzlich nicht mehr so gerne in die Reitschule oder den Reitverein fahren, nicht mehr von ihren Erlebnissen im Verein erzählen etc.

– Nehmen Sie Anteil am Hobby Ihrer Kinder – geben Sie diese nicht in der Reitschule „ab“. Begleiten Sie Ihre Kinder so oft es möglich ist zu den Reitstunden, das gibt auch Ihrem Kind größeren Rückhalt, insbesondere am Anfang der Reitausbildung.

– Überzeugen Sie sich persönlich vor Ort, dass das Verhältnis zwischen Unterrichtspersonal und Kindern von Respekt und Wertschätzung getragen ist.

– Beobachten Sie aufmerksam die Umgangsformen sowie den Umgangston des Lehrpersonals gegenüber Ihrem Kind – beides sollte zu jedem Zeitpunkt korrekt und respektvoll sein.

– Informieren Sie sich über den Ruf des Reitvereins, selbstverständlich unter Wahrung aller Formen.


Wo man Hilfe bekommt

Notrufe
Kindernotruf: 0800-567567
Rat auf Draht: 147
Kinderschutzzentren Kinder- und Jugendanwaltschaften

Broschüre
– Der Verein „Selbstlaut“ hat gemeinsam mit der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft, der Männerberatung und dem Verein Call4Girls & Boys ein Konzept zum Thema „Sexuelle Übergriffe – Bei uns doch nicht!? Prävention sexueller Grenzverletzungen an Kindern und Jugendlichen in Sportvereinen und Freizeiteinrichtungen” ausgearbeitet. http://www.selbstlaut.org

 

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