Vor 40 Jahren – im Juli 1980 – begannen in Moskau die 22. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit – ohne viele westliche Nationen. Wegen des Einmarsches der Roten Armee im Dezember 1979 in Afghanistan hatten bis auf ganz wenige Ausnahmen – etwa Österreich, Finnland mit Einzelstartern – die westlichen Reiterverbände keine Teams benannt. Eine entscheidende, denkwürdige Rede hielt am 15. Mai 1980 der damalige FN-Präsident Dieter Graf Landsberg-Velen.
„Sein Wort hatte Gewicht, er stand dem bedeutendsten nationalen Verband in der Welt vor, er hätte das Image der FEI aufpoliert – er wäre wirklich ein würdiger Präsident des Weltverbandes gewesen.“ Das sagte einer, der hautnah jahrelang mit ihm zusammen arbeitete und kannte, nämlich Fritz Widmer, der ehemalige Generalsekretär des Weltverbandes (FEI). Widmer, gestorben 2015 mit 93 Jahren, meinte Dieter Graf Landsberg-Velen. Der Jurist, Forst- und Landwirt, so seine Berufsangaben, war 18 Jahre lang FEI-Vize und wurde nicht Erster, weil ihn Prinz Philip als FEI-Präsident ablehnte. Allein schon deshalb, weil der deutsche Graf 1974 nicht dem Beispiel des Königin-Gemahls folgte, nämlich auch in Deutschland verschiedene Springreiter zu Profis zu erklären und somit nach den damaligen Amateurstatuten von Olympia auszuschließen. Prinz Philip, der von 1964 bis 1986 die FEI selbstherrlich führte, erklärte dann in seiner Abschiedsrede, sollte seine Tochter Anne nicht seine Nachfolgerin werden, „dann mache ich eben weiter.“ Prinzessin Anne wurde die Nachfolgerin, der Deutsche zum Ehren-Vize ernannt. Landsberg-Velen, der im April 2012 mit 86 Jahren starb, gehört dennoch zu den ganz großen Sportführern, nicht nur in Deutschland.
Ihn zeichnete immer eine gewisse distinguierte Zurückhaltung aus, er hatte einige Ecken, an denen man sich reiben konnte. Er übernahm jedoch stets Verantwortung. Seit 1950 bis zum Tode arbeitete er im Malteser Hilfsdienst und engagierte sich stark für die Opfer des Vietnamkrieges, zwischen 1980 und 1992 war er Präsident der Hilfsorganisation, er war ab 1973 auch Mitglied im Präsidium des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), Einmal wenigstens im Jahr steuerte der leidenschaftliche Autofahrer und überzeugte Katholik seinen PKW in den südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes. Dort schob er Kranke zur Heilung versprechenden Grotte, daraus schöpfte er selbst Kraft und Zuversicht.
Rede vor dem NOK in Düsseldorf
Seinen ganz großen öffentlichen Auftritt hatte Landsberg-Velen am 15. Mai 1980 in Düsseldorf vor dem Nationalen Olympischen Komitee, als über die Teilnahme einer deutschen Mannschaft bei Olympia in Moskau abgestimmt wurde. Die Position der deutschen Reiterlichen Vereinigung sei absolut frei und unbeeinflusst durch parteipolitische oder sonstige Orientierungen, sagte er am Anfang. „Wir haben unsere Position bereits vor einigen Wochen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, nachdem die Informationen aus den Medien, auf die wir ausschließlich angewiesen waren, uns nicht nur die erschütternde Unfähigkeit des Internationalen Olympischen Komitees offenbarten, auf die Afghanistan-Krise in der gebotenen Weise zu reagieren, sondern überdies den Eindruck erwecken mussten, dass das Nationale Olympische Komitee, das NOK für Deutschland, die Teilnahme in Moskau um jeden Preis verfolge, auch um den Preis des Verzichts auf eine angemessene Berücksichtigung der gegebenen politischen Verantwortung sowie des Verzichts auf die Schaffung der Voraussetzungen für eine Teilnahme, wie sie von Moskau gefordert worden sind.“ Die aufgezeigte Tendenz des NOK sei in krassem Widerspruch „zu unserer Auffassung“ gestanden, „das konnten wir nicht länger stillschweigend hinnehmen“.
Das gemeinsame Ziel müsse doch sein, „die Olympischen Spiele zu erhalten und ihre geistige Substanz zu retten“, den Begriff Boykott der Olympischen Spiele lehne er ab, sagte Landsberg-Velen, „es geht doch um die Einladung eines Organisators Olympischer Spiele, der in Afghanistan den Frieden gebrochen, die Menschenrechte verletzt und damit seinerseits die ideellen Grundlagen der Spiele boykottiert hat, und wollte man hier zwischen Organisator und zuständiger Regierung unterscheiden, so wäre das nun wirklich sophistisch“, allein diese von den Sowjets gesetzten Tatbestände hätten unsere Teilnahme in Moskau zur Frage werden lassen. „Eine Frage, die ohne Zweifel direkt an uns gerichtet ist, solange Frieden und Freiheit, Menschenwürde und Menschenrecht zu den Grundwerten unserer politischen Selbstverständlichkeit gehören…“
Das politische Bewusstsein eines Staatsbürgers sei gefordert, für einzelne Lebensbereiche gebe es keine Spaltung des politischen Bewusstseins, „gefordert ist jedoch eine klare und ungeteilte Meinung“ für Sportler und Funktionsträger.
Landsberg zitierte auch den Beschluss des Verbandes der Schweiz: „Der Schweizerische Reitsportverband hat die Nichtteilnahme seiner Reiter an den Spielen in Moskau gegenüber seinem NOK unter anderem mit diesen Worten erklärt: Langfristig ist die Ausübung jedes Sports in Frage gestellt, wenn die Menschenrechte und die persönliche Freiheit nicht gewährleistet sind. Es wird immer wieder gesagt, der Sport sei von der Politik zu trennen. Damit sind wir prinzipiell einverstanden, jedoch nur solange die Politik nicht unsere elementaren Rechte als Bürger eines freien Staates gefährdet. In einer freien Demokratie sind wir eben auch alle Politiker. Da nun die Kompetenzen in sportlichen Angelegenheiten nicht bei unseren Politikern liegen, ist es an uns den Entscheid zu treffen.“
Verzicht auf Olympia in Moskau
Den Verzicht der Entsendung von Reiter-Equipen nach Moskau begründete Graf Landsberg-Velen so: „Die Entscheidung über Teilnahme oder Nichtteilnahme unterliegt infolge des vorgetragenen Sachverhalts nicht mehr nur sportlichen, sondern auch politischen Kriterien. Das ist zwar ein äußerst bedrückendes, aber unbestreitbares Faktum, das uns die Gesamtszene der Politik drastisch genug darbietet.“ Dagegen helfe kein Hinweis auf ähnliche Fälle früherer Olympischer Spiele, „es gibt nämlich keinen vergleichbaren Fall. Der politische Boykott der olympischen Charta durch den Ausrichter der Spiele ist bislang einmalig“. Politik und Sport hätten von der UdSSR seit Ausbruch der Afghanistan-Krise unaufhörlich und eindringlich die Schaffung der Voraussetzungen für eine Teilnahme aller Sportler verlangt, was der UdSSR jedoch nicht gelungen wäre. Die Konsequenz daraus könne nur lauten: „Verzicht auf unsere Teilnahme an den Spielen in Moskau“.
Der Reiter-Präsident widersprach auch dem damaligen NOK-Präsidenten Willi Daume, der von Gratwanderung und Hörigkeit gegenüber der Politik redete. Landsberg-Velen: „Was hat es denn mit Hörigkeit zu tun, wenn wir aus eigener Überzeugung unseren Konsenz mit Parlament und Regierung bekunden, wenn wir uns aus Selbstdisziplin in unsere staatsbürgerliche Pflicht nehmen? Die Willenstärke, eigene Wünsche der besseren Einsicht und dem übergeordneten Verlangen zu opfern, beziehen wir doch nicht etwa aus Hörigkeit, sondern aus dem Besitz an innerer Freiheit. Die Gefahr der Hörigkeit beginnt nämlich gerade dort, wo solche innere Freiheit nicht besteht.“
Weiter sagte der Graf von Schloss Wocklum in Balve im Sauerland, der Sport dürfe seine so gerne oft hingenommene moralische Leitbildfunktion in unserer Gesellschaft nicht dann verleugnen, wenn sie mal zur Last werden könnte. Mit Fug und Recht habe Bundeskanzler Helmut Schmidt in seinem Gespräch mit Vertretern des Sports einige Wochen davor die Frage aufgeworfen, ginge es diesmal nicht um die Ereignisse in einem viele Tausend Kilometer entfernten und uns fremden land, sondern um das vergleichbare Geschehen des Jahres 1968 und das Niederschlagen des Aufstandes durch Panzer der UdSSR in der damaligen Tschechoslowakei.
Er halte es für müßig, darüber zu spekulieren, ob mit einem Verzicht auf eine Teilnahme in Moskau nun auch bereits das Ende der Olympischen Spiele oder des Weltsportverkehrs einherginge, „entweder verfügt die Olympische Bewegung noch über ideelle Lebenswerte und Ausstrahlungskraft, dann wird sie selbst Moskau überdauern, oder es wären wirklich alle Bemühungen vergebens. Wir glauben an ihre überdauernde Lebenskraft und wollen uns gerade deshalb nicht mit Spielen identifizieren, deren Gastgeber den Olympischen Geist verhöhnen“.
Der Entschluss treffe die Aktiven hart, schmerzlich, die deutschen Reiter, die olympisch zu den erfolgreichsten Sportlern zählen und auch in Moskau sicher chancenreich gewesen wären, „sind sich bewusst, worauf sie zu verzichten haben“. Der Preis, den die Reiterei für ihre Position erbringe, „ist nicht gering. Der Preis für die Preisgabe unserer Grundwerte läge jedoch unvergleichbar höher, denn er kostete nicht zuletzt unsere Glaubwürdigkeit. Seien wir vielmehr gewillt, gemeinsam unsere Verantwortung zu tragen und zwar mit jenem Mut, der uns bestimmt nicht verlässt, solange wir unserer Überzeugung und damit uns selbst treu bleiben.“
Dieter Ludwig/www.ludwigs-pferdewelten.de
PS: Bei der Abstimmung des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland in Düsseldorf um eine Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen in Moskau (19. Juli bis 3. August 1980) waren 99 Stimmen zu vergeben, 59 Mitglieder stimmten für einen Verzicht, 40 waren dafür. Insgesamt nahmen in Moskau Sportler aus 81 Ländern teil – teilnahmeberechtigt wären über 140 Länder gewesen. 42 Nationen – neben den USA auch sportliche Schwergewichte wie Japan, Kanada, die Volksrepublik China sowie die BRD – schlossen sich dem Boykott-Aufruf der Vereinigten Staaten an, 23 verzichteten aus sonstigen Gründen auf eine Teilnahme.