Verständnis statt Führerschaft: Dominanz sollte nicht Teil des Pferdetrainings sein 26.05.2017 / Wissen
Das Verständnis ihrer natürlichen Verhaltensweisen bringt im Pferdetraining viel mehr, als auf Konzepte wie Führerschaft oder Dominanz zu setzen – so das Positionspapier der ISES. / Symbolfoto: Archiv/Pixabay
Führende Pferdewissenschaftler haben ein Positionspapier vorgelegt, in dem sie sich gegen die Anwendung von Dominanz- oder Führerschaft-Konzepten im Pferdetraining aussprechen.
Mit Ausbildungskonzepten, die auf Hierarchie, Dominanz oder Führerschaft basieren, setze man nicht nur die Entwicklung einer harmonischen Partnerschaft aufs Spiel, sondern würde auch das Wohl des Pferdes gefährden – so lautet das wesentliche Resümee, das die Internationale Gesellschaft für Pferdewissenschaften ISES (International Society for Equitation Science) in einem Positionspapier zieht.
Noch immer glauben viele Reiter und Ausbilder, dass man bei der Ausbildung oder beim Training eines Pferdes in einer Dominanz- bzw. Führer-Position sein müsse, um erfolgreich zu sein – das sei ein Irrtum, so das ISES-Positionspapier, das unter der Leitung von Prof. Jan Ladewig von der Universität Kopenhagen erstellt wurde. Derartige Hierarchie-Konzepte seien nichts anderes als die Übertragung menschlicher bzw. zwischenmenschlicher Kategorien auf Pferde – und eine unzulässige Vermenschlichung, die mit dem tatsächlichen Sozialverhalten von Pferden nichts zu tun habe. „Pferde haben viele Talente – sie können unter widrigsten Bedingungen überleben, sie merken sich, wo sie Nahrung, Wasser und Schutz finden können und wer ihre Gruppenmitglieder sind – und noch tausend andere Dinge mehr", so Prof. Ladewig. „Aber es gibt keinerlei Hinweis, dass sie mit hochkomplexen Dingen umzugehen wissen, die kognitive Fähigkeiten, wie sie der Mensch besitzt, voraussetzen. Sie sind nicht so gut im Verallgemeinern – und auch das abstrakte Denken ist bei ihnen kaum ausgeprägt. Je besser wir verstehen, wie ihr Gehirn funktioniert und je mehr wir die Grenzen ihres Bewusstseins akzeptieren, desto besser werden wir in der Lage sein, eine harmonische Partnerschaft mit ihnen einzugehen", so Prof. Ladewig.
Das ISES-Positionspapier geht ausführlich auf das Sozialverhalten von Wildpferden und Hauspferden ein, wie es mittlerweile in einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien erforscht und analysiert wurde – und fasst diese wie folgt zusammen: „Dominanz-Hierarchien, Alpha-Positionen oder Führerschaft in sozialen Pferdegruppen sind menschliche Konzepte, die nicht die Basis der Mensch-Pferd-Interaktion bilden sollten. Pferde sind soziale Tiere, die hauptsächlich auf Basis einer zweiseitigen Beziehung interagieren, d. h. jedes Pferd hat eine individuelle Beziehung zu jedem anderen Pferd der Gruppe – und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie darüberhinaus eine übergeordnete Rangordnung kennen, die sämtliche Mitglieder der Gruppe einschließt. Während ältere oder erfahrene Pferde ihren angestammten Platz in der Gruppe kennen und häufiger als jüngere, unerfahrene Pferde ihre Kameraden zu Orten führen können, wo Nahrung, Wasser und Schutz verfügbar sind, gibt es derzeit keine soliden Beweise für eine Art ,Führerschaft', die bestimmten Individuen innerhalb der Gruppe vorbehalten wäre."
Und weiter heißt es: „Die Mensch-Pferd-Beziehungen auf einem Dominanz-Konzept aufzubauen, kann überdies mit dem Pferdewohl unvereinbar sein. Es gibt leider Beispiele von Reitern, Trainern und Haltern von Pferden, die glauben, sich selbst in eine ,Alpha-Position' gegenüber ihrem Pferd setzen zu müssen – und die auf Ausbildungsmethoden und -praktiken zurückgreifen, die Angst auslösen und in einigen Fällen sogar zu Missbrauch führen. In der Natur werden Pferde hingegen Konflikte viel eher vermeiden als sie zu provozieren. Wenn sie von einem aggressiven Artgenossen bedrängt werden, werden sie meist flüchten oder dem Aggressor ausweichen. Trainer, Reiter und Halter müssen daher anstreben, zu ihren Pferden eine eindeutige und konsistente Beziehung aufzubauen, um deren Wohl sicherzustellen. Sie sollten sich stets der möglichen Auswirkungen jenes Konzepts bewusst sein, auf dessen Basis sie ihr Training und ihre Beziehung zum Pferd gestalten."
Das Konzept einer „Dominanz" oder „Führerschaft" im menschlichen Sinn ist Pferden grundsätzlich fremd: Pferde sind äußerst soziale Tiere – und das Zusammenleben in einer sozialen Gruppe ist essentiell für ihr Überleben. Konkurrenz hinsichtlich bestimmter Ressourcen (z. B. Nahrung, Schutz etc.), die bei domestizierten Hauspferden häufiger als unter Wildpferden anzutreffen ist, kann zu agonistischem (also aggressiven oder unterwürfigen) Verhalten zwischen zwei oder mehr Gruppenmitgliedern führen. In den meisten Fällen scheint dies aber mehr eine Drohgebärde als eine tatsächliche physische Aggression zu sein. Innerhalb der Gruppe können Pferde zwar um Ressourcen konkurrieren – aber sie zeigen keinerlei Ehrgeiz, andere Gruppenmitglieder per se dominieren zu wollen. Stattdessen versuchen sie, Konflikte zu vermeiden. In bestehenden sozialen Gruppen haben die Mitglieder gelernt, welche Pferde sie vertreiben und welche sie vermeiden sollten, wenn es bei Begegnungen zu Konkurrenzen kommt. Dieses Wissen ist wahrscheinlich auf einer Vielzahl individueller Beziehungen aufgebaut – und nicht auf eine Art ,Rangordnung' zwischen allen Gruppenmitgliedern.
Was dies alles für die Ausbildung und das Training von Pferden bedeutet, fasst das ISES-Positionspapier so zusammen: „Einige Pferdeleute glauben, dass man – um den Respekt und den Gehorsam eines Pferdes zu bekommen – das ,Alphatier' sein müsse, also in der sozialen Hierarchie die Spitzenposition einnehmen müsse. Der Trainer bzw. Reiter müsse der dominierende Teil der Beziehung sein – und das Pferd der unterwürfige, gehorchende Teil. Sogar wenn Pferde tatsächlich ein derartiges Konzept mit einer ,Top-Position' in ihrer Hierachie hätten, wäre es höchst fragwürdig, ob diese Hierarchie auch Menschen einschließen würde. Zweifellos liegt derartigen Vorstellungen eine Vermenschlichung zugrunde – also unser Bestreben, menschlichen Eigenschaften wie Respekt oder Autorität auf das Pferd zu projizieren. Diese Haltung bringt aber oft mehr Schaden als Nutzen."
Und weiter: „Versuche, das Pferd zu dominieren, führen im Pferdetraining oft dazu, dass Bestrafung ermutigt und gerechtfertigt wird. Abgesehen vom möglichen negativen Auswirkungen auf das Pferdewohl leidet darunter auch die gesamte Beziehung zum Pferd. Die natürliche Reaktion eines Pferdes gegenüber einem aggressiven Individuuum wird es sein, ihm auszuweichen und weitere Begegnungen zu vermeiden. Wenn das Pferd den Trainer als Aggressor wahrnimmt, dann wird seine vorwiegende Motivation darin bestehen, den Trainer zu vermeiden. Deshalb ist es von überragender Bedeutung, dass Trainer, Reiter und Halter nicht aggressiv auftreten, weil dies Angst und Ausweich- bzw. Fluchtverhalten beim Pferd verstärken könnte."
Zusammenfassend hält das Positionspapier fest:
– Die Beziehung des Menschen zu seinem Pferd sollte auf dem Verständnis der natürlichen Verhaltensweisen von Pferden beruhen und deren kognitive Fähigkeiten berücksichtigen bzw. verstehen;
– Das Pferdetraining sollte auf ruhige, klare und konsistente Weise durchgeführt werden und den modernen Trainingsprinzipien folgen, die in einem eigenen ISES-Positionspapier zusammengestellt wurden.
– Konzepte von Dominanz-Hierarchien, Alpha-Positionen und Führerschaft sind nichts anderes als der Versuch des Menschen, das komplexe und sehr dynamische soziale Zusammenleben von Pferden in Gruppen zu beschreiben bzw. zu interpretieren;
– Pferde interagieren miteinander hauptsächlich auf Basis einer zweiseitigen, individuellen Beziehung und nicht auf der Basis einer Rangordnung, welche alle Gruppenmitglieder umfasst;
– Wenn Pferde um eine bestimmte Ressource miteinander konkurrieren, kann eines das andere verdrängen. Das verdrängte Pferd wird daraufhin das andere vermeiden. Das vorherrschende unterwürfige Verhalten eines Pferdes ist das Vermeiden.
– Die fälschliche Ansicht, dass ein Trainer bzw. Reiter gegenüber dem Pferd in einer hierarchischen Spitzenposition (einer Alpha-Position) bzw. ein Anführer sein muss, kann einen negativen, beschädigenden Effekt auf das Pferd haben und zu Vermeidungsverhalten führen, was im Training absolut schädlich und kontraproduktiv ist;
– Dem Trainingsprozess und der gesamten Beziehung zum Pferd das Konzept einer hierarchischen Dominanz zu Grunde zu legen, gefährdet die Entwicklung einer harmonischen Partnerschaft und letztlich das Wohl des Pferdes.
Das vollständige Positionspapier der Internationalen Gesellschaft für Pferdewissenschaft (ISES) mit dem Titel „Position statement on the use/misuse of leadership and dominance concepts in horse training" kann in englischer Sprache hier nachgelesen werden.
KommentareBevor Sie selbst Beiträge posten können, müssen Sie sich anmelden...Weitere Artikel zu diesem Thema:13.02.2017 - Funktioniert Dominanz im Pferdetraining? Forscher hegen Zweifel
Funktioniert Dominanz im Pferdetraining? Forscher hegen Zweifel 13.02.2017 / News
Wenn Pferde bestimmte Menschen tatsächlich als Führer betrachten, sollten sie ihnen freiwillig und ganz von selbst folgen, so die Wissenschaftler. Doch die Realität sieht vielfach anders aus ... / Foto: Simone Aumair
Viele Trainer glauben, sie müssten der Boss eines Pferdes sein, um es effektiv ausbilden zu können. Ein prominentes Forscher-Trio kommt zu einem anderen Ergebnis.
Viele Reitlehren und Trainingsanleitungen gehen davon aus, dass der Mensch gleichsam die Rolle eines Alpha- oder Leittieres bei Pferden übernehmen müsse, um sie erfolgreich trainieren und ausbilden zu können. An diesem Konzept hegen Wissenschaftler nun erhebliche Zweifel: Elke Hartmann, Janne Christensen und Paul McGreevy führten eine vergleichende Meta-Studie durch und untersuchten rund 100 wissenschaftliche Arbeiten im Hinblick darauf, ob das Konzept von Dominanz und Führerschaft zwischen Mensch und Pferd zu brauchbaren Trainingsresultaten führt. Sie kamen dabei zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Das tut es eher nicht.
„Die Reaktionen von Pferden auf bestimmte Trainingsschritte sind viel wahrscheinlicher ein Ergebnis von Verstärkung – und nicht das Ergebnis einer Führungsrolle des Menschen oder eines hohen sozialen Status, den er vermeintlich erlangt hat", so das Resümee der Wissenschaftler. Demnach sei es im Training erheblich effektiver, Wissen über die natürlichen Verhaltensweisen und die Lernfähigkeit von Pferden anzuwenden, als mit Dominanz und Führerschaft zu arbeiten. Pferde haben eine natürliche Tendenz, ihre Aktivitäten aufeinander abzustimmen, um den Zusammenhalt der Gruppe zu stärken. In diesem gruppendynamischen Prozess ist die Führungsrolle aber nicht auf ein einziges Pferd mit dem höchsten sozialen Status oder das älteste, erfahrenste Pferd beschränkt: Wie die Wissenschaftler herausfanden, kann nahezu jedes Pferd in der Gruppe Führungsaufgaben übernehmen.
Die Forscher weiter: „Angesichts dieser flexiblen und komplexen Sozialstruktur und der Vielzahl von Faktoren, die innerhalb einer Herde oder Gruppe die Hierarchie bestimmen, ist die Bedeutung von Dominanz in der Mensch-Pferd-Beziehung vermutlich nur gering." Ein wichtiges Element, das ganz maßgeblich mitbestimmt, wie sich Pferde einem Menschen gegenüber verhalten, ist jedoch die Beziehung zwischen ihnen. Eine ,Beziehung' entsteht durch eine Abfolge von Interaktionen über einen bestimmten Zeitraum zwischen zwei oder mehr Individuen – und sie wird wesentlich geprägt durch die Erwartungen, die sich auf der Basis vorangegangener Interaktionen geformt haben. Bisherige Forschungen weisen darauf hin, daß Pferde einzelne Personen oder Trainer erkennen und sich an sie erinnern können – und ob die zurückliegenden Interaktionen mit ihnen angenehm oder unangenehm waren. Daraus lässt sich in den meisten Fällen die Reaktion von Pferden auf Menschen gut erklären und sogar aus vorherigen Begegnungen ableiten. „Gutes Training hat das Ziel, angstvolle Reaktionen von Pferden dem Menschen gegenüber zu minimieren, um die Lernleistung zu steigern. Die Qualität der Mensch-Pferd-Beziehung hängt wesentlich davon ab, ob darin Angst und Furcht weitgehend reduziert werden können."
Hierarchien hingegen werden innerhalb einer Pferdegruppe oft erst im Kampf um Nahrung relevant – die im Training üblicherweise keine Rolle spielen. „Wie jüngste Forschungsergebnisse gezeigt haben, varriert die Führungsrolle innerhalb der Pferdegruppe – und jene Tiere, die als Führer agieren, sind nicht zwangsläufig auch jene, die bei Streitigkeiten um Nahrung an oberster Stelle stehen. Pferde lernen, wie auch andere Spezies, im Wesentlichen durch Verstärkung, die auf ein bestimmtes Verhalten folgt – und nicht, weil sie den Sozialstatus eines Menschen oder dessen Führungsstärke erkennen. Deshalb ist es – aus der Perspektive des Pferdes – vermutlich nur von geringer Relevanz, ob man als Mensch der quasi-dominante Führer eines Pferdes wird. Zudem ist es fraglich, ob Pferde überhaupt Menschen in ihre soziale Hierarchie einschließen", so die Wissenschaftler.
Derartige Konzepte basieren vermutlich auf einer „Vermenschlichung", also auf der Tendenz, menschliche Eigenschaften wie Respekt und Autorität auf Pferde zu übertragen. Die meisten Pferdebesitzer wünschen sich eine Beziehung zu ihrem Pferd, die auf gegenseitigem Vertrauen und auf Zusammenarbeit basiert. Dennoch, so die Forscher weiter, haben Pferde bei der Arbeit und beim Training vom Boden aus meist nur eine sehr geringe Eigenständigkeit – weil der Mensch schon aus Sicherheitsgründen die Kontrolle behalten möchte: „Der Versuch, das Pferd zu dominieren, um darüber Kontrolle zu behalten, ist häufig die Rechtfertigung für die Anwendung harscher Trainingsmethoden und von Bestrafung."
Als Folge davon würden die meisten Pferde versuchen, dem Trainer auszuweichen, Fluchtreaktionen oder Verteidigungsverhalten zu zeigen – allesamt unerwünschte Verhaltensweise in einer Trainingssituation, die sowohl das Wohl des Pferdes als auch die Sicherheit des Menschen gefährden.
Die Forscher stellten sich daher die Frage, ob Pferde während des Trainings eine aktivere Rolle einnehmen können – oder sind sie letztlich doch nur ,Befolger' mit geringer Autonomie sind, wenn dem Training das Konzept einer „Führerschaft" des Menschen zugrundeliegt? Sie fanden eine überraschende Antwort: „Wenn Pferde selbst entscheiden könnten, ob sie an einem Training teilnehmen oder nicht – dann wäre die Anwesenheit von anderen Pferden aus der Gruppe viel wichtiger als menschliche Gesellschaft."
Tatsächlich wirft das Konzept, dass Menschen als „Führer" von Pferden auftreten sollen, eine Reihe von Fragen auf: „Was ist, wenn das Pferd beispielsweise dem Menschen nicht in den Anhänger folgt? Spricht das für einen Mangel von Vertrauen in den Menschen und ein Versagen des Menschen als Führungskraft? Und welcher bestimmte Aspekt der Führungsqualität funktioniert nicht? Ein anderes Beispiel ist das Einfangen von Pferden auf der Weide. Wenn Pferde bestimmte Menschen tatsächlich als Führer betrachten – dann würden wir doch erwarten, dass sie ihnen freiwillig und ganz selbstverständlich folgen und die Artgenossen einfach zurücklassen, oder nicht?"
Es gibt nur unzureichende Beweise dafür, dass Pferde aus anderen Gründen auf Menschen zugehen als aus Neugierde oder weil sie dazu trainiert worden sind, so die Wissenschaftler. Insgesamt gebe es jedenfalls deutlich mehr Hinweise, dass die Reaktionen der Pferde auf die Ausbildung viel eher ein Ergebnis von positiver Verstärkung waren, bei dem die erwünschten Antworten klar und konsequent belohnt wurden – und nicht das Ergebnis einer Führungsrolle oder eines hohen sozialen Status des Trainers, so das Resümee der Forscher: „Das Wissen über das natürliche Verhalten und die Lernfähigkeiten von Pferden erklären die erzielten Trainingsergebnisse erheblich besser und zuverlässiger als ,vermenschlichende' Erklärungen und die Anwendung von Dominanz- und Führungskonzepten, die das Pferdewohl und die menschliche Sicherheit gefährden können."
Die Studie „Dominance and leadership: Useful concepts in human-horse interactions?" von Elke Hartmann, Janne W. Christensen und Paul D. McGreevy wurde im ,Journal of Equine Veterinary Science' veröffentlicht und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden.
27.05.2015 - Konsens statt Dominanz – Pferde treffen Entscheidungen gemeinsam
Konsens statt Dominanz – Pferde treffen Entscheidungen gemeinsam 27.05.2015 / News
Die französischen Forscher untersuchten die Bewegungsdynamik von Pferden anhand von zwei Przewalski-Gruppen. / Foto: Martin Haller
Die Führerschaft innerhalb einer Herde wird oft einem Hengst oder einer älteren Stute zugeschrieben – aber ist das auch tatsächlich so? Französische Forscher äußern in einer aktuellen Studie Zweifel an dieser traditionellen Sichtweise.
Französische Forscher um Marie Bourjade haben die Bewegungsdynamik von Pferdeherden anhand von zwei verschiedenen Gruppen untersucht und konnten kaum Verhaltensweisen nachweisen, die auf einen klaren Anführer bzw. eine Anführerin innerhalb einer Gruppe hindeuten. Was sie jedoch entdeckten waren deutliche Hinweise von Konsens bei der Entscheidungsfindung.
Marie Bourjade und ihre Kollegen leiteten ihre Erkenntnisse aus der Beobachtung des Bewegungs- und Wanderverhaltens von zwei Gruppen Przewalski-Pferde ab, die in einem 380 Hektar großen Gebiet in Le Villaret lebten. Die größere Gruppe umfasste einen acht Jahre alten Hengst, fünf erwachsene Stuten, zwei zweijährige Stuten and vier Fohlen. Die zweite, kleinere Gruppe, die insgesamt zwei Jahre lang beobachtet wurde, bestand aus einem zwölf Jahre alten Hengst, drei erwachsenen Stuten und zwei Fohlen. Die Gruppen lebten weitgehend frei, wurden nicht von Menschen betreut und erhielten auch kein zusätzliches Futter.
Bourjade und ihre Kollegen gingen davon aus, daß Führerschaft vor allem dadurch gekennzeichnet ist, die Verantwortung bei der Koordinierung von Gruppenbewegungen zu übernehmen, aber das scheint nur sehr eingeschränkt der Fall zu sein. Parallel dazu gab es immer mehr Hinweise darauf, daß Entscheidungen bei Gruppenbewegungen gemeinsam getroffen werden.
Sie untersuchten im Rahmen ihrer Studie die Bedeutung von drei zentralen Kennzeichen von Führerschaft – nämlich sich als Erster in Bewegung zu setzen, an der Spitze der Gruppe zu gehen und andere Gruppenmitglieder dazu zu bewegen, sich anzuschließen. Das Resümee war erstaunlich: „Wir konnten keinen einzigen ,Anführer' entdecken, der fähig gewesen wäre, die meisten Gruppenbewegungen auszulösen oder Gruppenmitglieder rascher als andere zum Aufbruch zu motivieren. Sehr häufig zeigten mehrere Gruppenmitglieder Anzeichen eines Aufbruchs zur selben Zeit – und der gleichzeitige Aufbruch mehrerer Tiere war die Regel. Wir schließen daraus, daß die Entscheidung über eine Gruppenbewegung von mehreren Gruppenmitgliedern gemeinsam getroffen wird", so die Forscher – ein Verhalten, das sie als ,partiell geteilten Konsens' beschrieben. Dies widerspricht der lang geglaubten Weisheit, dass die Führungsrolle in einer Gruppe von einem Hengst oder einer älteren Stute eingenommen wird – auch wenn es schon in der Vergangenheit mehrere Untersuchungen gab, die zu anderen Schlußfolgerungen gekommen waren.
Wenn sich zwei oder drei Pferde zur gleichen Zeit in Bewegung gesetzt haben, wurde dies als ,gleichzeitiges Aufbrechen' verzeichnet. Dies war bei 33 Prozent aller Bewegungen der größeren Gruppe der Fall – und bei 19 Prozent aller Bewegungen der kleineren Gruppe. „Wir fanden in beiden Gruppen kein Pferd, das man als ,Leitpferd' bzw. ,Anführer' hätte qualifizieren können – ganz gleich, welche Definition man anwendet, um Führerschaft zu beschreiben. Kein einziges Tier hat sich ständig als Erstes in Bewegung gesetzt, konnte – mehr als andere Pferde, die sich zuerst in Bewegung gesetzt haben – mehr Gruppenmitglieder zum Anschließen motivieren oder ist konsequent an der Spitze der Gruppe gelaufen", so die Forscher.
Die Wissenschaftler gaben jedoch zu, daß die kleine Anzahl der beobachteten Pferdegruppen nur begrenzte Schlussfolgerungen zuließ: „Beispielsweise schien es so zu sein, daß es in der größeren Gruppe öfter ältere Pferde waren, die sich als Erste in Bewegung setzten oder an der Spitze der Gruppe liefen – aber bei der kleineren Gruppe war dies nicht der Fall. Es ist aber wichtig festzuhalten, daß Alter und Dominanz statistisch nicht unterscheidbar waren, weil vor allem das Alter über die soziale Rangordnung bei Pferden bestimmt. Doch weder die älteste Stute, noch der älteste Hengst haben mehr zur Bewegungs-Koordination der Gruppe beigetragen als andere Pferde. Auch wenn es mancher traditioneller Pferde-Weisheit widerspricht: Alter, Geschlecht und Dominanz scheinen bei der Koordination von Gruppenbewegungen bei Pferden nur eine sehr begrenzte Bedeutung zu haben."
Jene Pferde, die sich als erste in Bewegung gesetzt haben, zeigten im Moment des Aufbrechens keine spezifischen Verhaltens-Signale – und sie haben auch nicht versucht, auf die anderen Gruppenmitglieder in irgendeiner Weise Druck auszuüben. Vielmehr schien ein unausgesprochener Konsens über die Bewegung der Gruppe zu herrschen – zum Zeitpunkt des Loslaufens konnten keine Unstimmigkeiten oder Konflikte beobachtet werden, vielfach liefen mehrere Pferde gleichzeitig los. Das alles spricht dafür, daß Pferde ihre Entscheidungsfindung bereits unmittelbar vor einer Herdenbewegung abgeschlossen hatten – und daß diese Entscheidung nicht von einem einzelnen Leitpferd, sei es Hengst oder Stute, sondern unter Beteiligung mehrerer Gruppenmitglieder gemeinsam getroffen wird.
Die Studie ,Is Leadership a Reliable Concept in Animals? An Empirical Study in the Horse' von Marie Bourjade, Bernard Thierry, Martine Hausberger und Odile Petit ist Journal PLOS ONE erschienen und kann hier nachgelesen werden.
|