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Das Wunder von Wembley oder: Wie ein weißes Polizeipferd den Fußball gerettet hat
13.02.2018 / Wissen

Gemeinsam mit seinen Kollegen gelang es dem Polizisten George Scorey auf seinem Pferd Billy, die Massen Stück für Stück zurückzudrängen und das Spielfeld zu räumen.
Gemeinsam mit seinen Kollegen gelang es dem Polizisten George Scorey auf seinem Pferd Billy, die Massen Stück für Stück zurückzudrängen und das Spielfeld zu räumen. / Foto: Archiv
Dieses Bild läßt erahnen, was sich am 28. April 1923 im Wembley Stadion abspielte. Bei allem Chaos aber blieb die Masse bemerkenswert ruhig und gut gelaunt – man war schließlich gekommen, um ein Fußballspiel zu sehen …
Dieses Bild läßt erahnen, was sich am 28. April 1923 im Wembley Stadion abspielte. Bei allem Chaos aber blieb die Masse bemerkenswert ruhig und gut gelaunt – man war schließlich gekommen, um ein Fußballspiel zu sehen … / Foto: Archiv

Im Jahr 1923 ist die Fußballwelt knapp an einer historischen Katastrophe vorbeigeschlittert ist – dank der unsterblichen Heldentat eines weißen Polizeipferdes namens Billy, das gleichsam im Alleingang das FA-Cup-Finale im Londoner Wembley-Stadion gerettet hat. Es ist als „White Horse Cup Final" in die Geschichte eingegangen.

 

Am 28. April 1923 fand im damals neu erbauten Empire Stadium im Londoner Stadtteil Wembley das erste Finale um den FA-Cup in Großbritannien statt. Das Match zwischen den Bolton Wanderers und West Ham United sollte eines der herausragenden Fußball-Ereignisse des Jahres werden, entsprechend intensiv rührten die Veranstalter die Werbetrommel. Sogar König George V. ließ sich das vermeintliche Fußballfest im damals größten Stadion der Welt nicht entgehen.

Wie viele andere auch. Die riesige Arena fasste über 120.000 Zuschauer und war restlos ausverkauft – jeder wollte nicht nur das Match, sondern auch die imposante neue Spielstätte sehen. Als das Stadion voll war und die Eingangstore geschlossen wurden, warteten noch Zehntausende Fans vor den Toren auf Einlass – und verschafften sich diesen auch: Sie kletterten an mehreren Stellen des Stadions über die Absperrungen, um das Spiel sehen zu können – und zwar zu Zehntausenden. Die Ordnungskräfte und die Polizei waren heillos überfordert und konnten nur ohnmächtig zusehen, wie sich die Arena bis zum Bersten füllte und die Zuschauermassen schließlich auch das Spielfeld fluteten. Schätzungen zufolge waren weit über 200.000 Besucher im Stadion – ein Fachmagazin sprach sogar von 300.000. Die Zustände waren, wie viele Augenzeugen danach bestätigten, unbeschreiblich, es kam zu Tumulten und Schlägereien, viele Besucher wurden im Gedränge ohnmächtig und konnten nur mühsam aus den Massen geborgen werden.

Als die Spieler – die bis dahin wenig vom Ausnahmezustand im Stadion mitbekommen hatten – schließlich das Spielfeld betraten, glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen: Es gab nur Menschen – und kein Spielfeld mehr. Dick Pym, der Torwart der Bolton Wanderers, erinnerte sich: „Als wir den Innenraum des Stadions erreicht hatten, war das einzige, was wir vom Spielfeld erblicken konnten, die Torlatten!" An ein reguläres Fußballspiel war nicht zu denken. Als die Spieler an die Zuschauermassen auf dem Feld appellierten „Lasst uns doch spielen!" und sie verzweifelt anflehten, doch endlich zurückzuweichen, gab es keine Reaktion. „Wir blickten nur in benommene Gesichter, die ausschauten, als ob sie von Drogen berauscht wären. Natürlich waren sie es nicht – sie standen wohl alle unter Schock", so einer der Spieler in einem späteren Interview. Auch als König George V. um 15 Uhr in der Ehrenloge erschien und die Hymne ,God save the King" erklang, stimmten Hunderttausende wie in Trance mit ein – die Situation wurde immer unwirklicher und unhaltbarer, und es hätte wohl nur ein Funke gefehlt, um sie eskalieren zu lassen und eine Massenpanik auszulösen.

Doch dann geschah etwas Unglaubliches: Ein weißes Polizeipferd namens Billy, geritten vom Polizisten George Scorey, betrat das Spielfeld – und veränderte alles. In einem BBC-Interview meinte George Scorey später: „Als ich auf meinem Pferd das Spielfeld erreichte, sah ich nichts. Ich sah nichts! Außer ein Meer von Menschenköpfen. Wir werden es nie schaffen, es zu räumen. Es ist unmöglich", dachte sich der Constable – und wollte fast schon aufgeben. Doch dann sah er plötzlich in der Nähe eines Tores eine Lücke in der Menschenmauer. Angefangen von dieser Stelle fingen Scorey und Billy an, die Massen Schritt für Schritt hinter die Torlinie zu schieben. „Mein Pferd war wunderbar. Es hat die Leute sanft mit der Nase und seinem Schweif über die Torlinie gedrängt. Er schien ganz selbstverständlich zu verstehen, was von ihm verlangt wurde", so Scorey.

Unterstützt wurden sie von rund einem Dutzend weiterer berittener Kollegen – und gemeinsam gelang schließlich ein kleines Wunder: Innerhalb von rund 40 Minuten war das Spielfeld mit Hilfe von Billy und seinen vierbeinigen Kollegen friedlich und ohne jegliche Gewaltanwendung geräumt. Polizisten bildeten mit Zuschauern an der Outlinie eine Menschenkette, die die Massen zurückhalten und ein freies Spielfeld gewährleisten sollte. Und tatsächlich konnte – mit lediglich 45 Minuten Verspätung – das erste F.A.-Pokalfinale angepfiffen werden. Ein normales Spiel war es auch in fußballerischer Hinsicht nicht – es gab mehrere Unterbrechungen, und bei Eckbällen und Einwürfen mussten sich die Spieler immer wieder zurück aufs Spielfeld kämpfen. Aber es wurde gespielt – und es brach keine Panik aus, die wohl unabsehbare Folgen gehabt hätte.

Das Cup-Finale endete 2 : 0 für die Bolton Wanderers – doch das war an diesem Tag nebensächlich. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete am nächsten Tag von 1.000 Verletzten – wie durch ein Wunder gab aber es keinen einzigen Toten. Dafür gab es einen vierbeinigen Helden – den mutigen Billy, der sich selbst von 200.000 Fußballfans nicht beeindrucken ließ und seinen Job gemacht hat – und damit eine Katastrophe riesigen Ausmasses verhinderte. Natürlich hat es Billy nicht allein geschafft, 200.000 Menschen in Schach zu halten – aber wie Fotos und Filmaufnahmen beweisen, war er das Pferd, das sich als erstes den Weg durch die Massen gebahnt und die anderen Pferde geführt hat. „Er ist wahrscheinlich das berühmteste Pferd in der Geschichte der Metropolitan Police", heißt es in einer Notiz auf der Website der berittenen Londoner Polizei.

Heute kennt in Großbritannien jeder – nicht nur jeder Fußballfan – den Namen des unerschrockenen weißen Polizeipferdes, das den Fußball vor einer Tragödie bewahrt hat. Das F.A. Cup-Finale von 1923 ging als das „White Horse Cup Final" in die Geschichte ein – ebenso wie Billy, der 1930 verstarb. Anläßlich der Eröffnung des neu errichteten Wembley-Stadions im Jahr 2007 wurde auch ein Fußgängerübergang errichtet, der das Ortszentrum des Stadtteils Wembley mit der neuen Arena verbinden sollte. Als das Architekturbüro mittels einer Online-Umfrage nach einem geeigneten Namen dafür suchte, war dieser rasch gefunden: Die Brücke heißt nun offiziell „White Horse Bridge", benannt nach Billy, dem furchtlosen weißen Polizeipferd, das in den Herzen und den Gedanken einer ganzen Nation weiterlebt.

In diesem Video erinnert sich der 92-jährige Denis Higham an das denkwürdige ,White Horse Cup Final', das er im Alter von acht Jahren mit seinem Vater besuchte. Es enthält auch seltene Filmaufnahmen, die einen Eindruck von den Menschenmassen und dem unbeschreiblichen Chaos bei diesem Spiel geben – und vom tapferen Einsatz des weißen Polizeipferdes Billy ...

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