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Zahnerkrankung EOTRH: Wenn Pferde nicht mehr zubeißen können …
10.12.2019 / Wissen

Die Extraktion der Schneidezähne – hier bei Wallach Ramazotti 6–8 Tage nach der Operation – ist in den meisten Fällen die einzige und auch wirksamste Behandlungsmethode.
Die Extraktion der Schneidezähne – hier bei Wallach Ramazotti 6–8 Tage nach der Operation – ist in den meisten Fällen die einzige und auch wirksamste Behandlungsmethode. / Foto: Conny Pikl
Auf diesem Bild sieht man Ramazotti am 6.–8. Tag nach der Zahnextraktion mit einer Tamponade in den Zahnlöchern.
Auf diesem Bild sieht man Ramazotti am 6.–8. Tag nach der Zahnextraktion mit einer Tamponade in den Zahnlöchern. / Foto: Conny Pikl
Nach ca. 14 Tagen wurde keine Tamponade mehr eingesetzt, da diese nicht mehr gehalten hat – die Zahnlöcher blieben offen und wurden nur mit Kamillentee gespült.
Nach ca. 14 Tagen wurde keine Tamponade mehr eingesetzt, da diese nicht mehr gehalten hat – die Zahnlöcher blieben offen und wurden nur mit Kamillentee gespült. / Foto: Conny Pikl
Die Spülungen mit Kamillentee gehören zur routinemäßigen Nachsorge nach der OP, um keine Entzündungen entstehen zu lassen und den Heilungsprozess zu unterstützen. Der Tee sollte jedoch immer feinst gefiltert sein, da die Kamillenblüten nicht in die Wunde kommen sollen.
Die Spülungen mit Kamillentee gehören zur routinemäßigen Nachsorge nach der OP, um keine Entzündungen entstehen zu lassen und den Heilungsprozess zu unterstützen. Der Tee sollte jedoch immer feinst gefiltert sein, da die Kamillenblüten nicht in die Wunde kommen sollen. / Foto: Martin Haller
Der Krankheitsverlauf ist auch an der Zahnform erkennbar: Ganz oben ist ein gesunder, in der Mitte ein leicht betroffener (mit beginnender Deformation) und ganz unten ein stark betroffener Schneidezahn mit deutlicher Kalkablagerung zu sehen.
Der Krankheitsverlauf ist auch an der Zahnform erkennbar: Ganz oben ist ein gesunder, in der Mitte ein leicht betroffener (mit beginnender Deformation) und ganz unten ein stark betroffener Schneidezahn mit deutlicher Kalkablagerung zu sehen. / Foto: Martin Haller
Nach einiger Zeit waren die Zahnlöcher vollkommen ausgeheilt – Ramazotti konnte wieder schmerzfrei fressen und hatte seine Lebensfreude wiedergefunden ...
Nach einiger Zeit waren die Zahnlöcher vollkommen ausgeheilt – Ramazotti konnte wieder schmerzfrei fressen und hatte seine Lebensfreude wiedergefunden ... / Foto: Conny Pikl

… dann steckt oft keine Kleinigkeit dahinter, sondern eine äußerst schmerzhafte Zahnerkrankung, die man meist nur mit einer Radikal-Behandlung in den Griff bekommt – nämlich dem Entfernen der betroffenen Zähne.

 

Heute gehört es unter Pferdebesitzern – und das ist zweifellos eine Errungenschaft – fast schon zum guten Ton, den Pferdezähnen eine gewisse Aufmerksamkeit und regelmäßige Pflege zukommen zu lassen. Das Bewusstsein für die entscheidende Bedeutung eines gesunden Zahnapparates für das Pferdewohl ist mittlerweile erfreulich groß und weit verbreitet, und es gibt sehr viel bessere Informationen in diversen Medien und vielfältige Angebote seitens der Tiermedizin, um dentale Wehwehchen frühzeitig erkennen und zielgerichtet behandeln zu können. Längst gibt es auch ausgewiesene Zahnspezialisten unter den Tierärzten und zahlreiche qualifizierte Pferdekliniken, die alles tun, damit unsere geliebten Vierbeiner wieder fröhlich und fest zubeißen können.

EOTRH – eine Modekrankheit?
Bei einer bestimmten, recht mysteriösen und äußerst schmerzhaften Zahnerkrankung ist aber genau das nicht mehr möglich, und leider Gottes ist eine ständig wachsende Zahl von Pferden davon betroffen: EOTRH heißt das sperrige Kürzel dieser Erkrankung, abgeleitet von der englischen Bezeichnung ,Equine Odontoclastic Tooth Resorption and Hypercementosis‘, was übersetzt etwa ,Zahnresorption und Zementwucherung bei Pferden‘ heißt. Das mag im ersten Moment nicht allzu schlimm klingen, ist es aber – denn Verlauf, Symptome und Schmerzhaftigkeit sind wirklich übel und an leidvoller Dramatik kaum zu überbieten. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, mit einem befallenen Pferd im Stall gesegnet ist, wird ihnen das aus ganzem Herzen bestätigen. Die Pferde leiden Höllenqualen, magern mitunter deutlich ab, weil sie vor Schmerzen nicht mehr fressen können – und man muss als Besitzer viel Zeit, Mühe und Geld einsetzen, um das Problem wieder in den Griff zu kriegen. Allerdings, so Zahnspezialistin TA Silke Stolz (Stmk.), gibt es eine erfreulich effiziente Behandlungsmethode, die mit quasi 100-prozentiger Sicherheit wirkt: „Wenn man die befallenen Zähne zieht und alles gut verheilt, ist die Krankheit besiegt. Es gibt keine Rückfälle, und Pferde können auch ohne Schneidezähne gut leben. Lediglich die Fütterung muss darauf abgestellt werden.“

Experten vermuten, dass die steigende Häufigkeit der Krankheit neben anderen Gründen auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass Pferde heute schlicht älter werden als je zuvor: Pferde jenseits der 20 oder 25 Jahre sind in heutigen Reitställen keine Seltenheit mehr, sondern gehören zum Alltagsbild. Zudem ist die Fütterung weniger Raufutter-betont als früher, was die Abnützung der Zähne reduziert und zu nachteiligen Druckverhältnissen im Maul führen kann. Als weitere Erklärungs-Ansätze kursieren u. a. genetische Anlage, Stoffwechsel-Probleme, Leber- und Nierenschwächen, Vitamin- und Mineralmängel bzw. -überschüsse, zu wenig Raufutter, falsches Futter generell, schlampige Zahnpflege, zu enge Zahnabstände und ungünstige bakterielle Flora im Maul, um nur einige Experten-Favoriten anzuführen. Endgültige Gewissheit über die Ursachen von EOTRH gibt es aber nach wie vor nicht, dazu ist die Erkrankung schlicht und einfach zu wenig erforscht.

Dramatischer Verlauf
Deutlich präziser sind die Beschreibungen des – durchaus dramatischen – Krankheitsbildes und -verlaufes: EOTRH ist schwer zu behandeln und progressiv, sie lässt sich im besten Falle verzögern, aber nicht stoppen oder rückgängig machen. Der Verlauf ist relativ rasant, bedenkt man die massiven Veränderungen am Gebiss der Pferde. Manche Tiere durchlaufen die Anfangsstadien in wenigen Monaten und erreichen ein unheilbares Stadium binnen eines Jahres. Andere brauchen etwas länger, aber die Bedeutung einer jährlichen, genauen Zahnkontrolle durch den TA und einer monatlichen Selbstkontrolle ist unbestreitbar. Es sind fast ausschließlich die Schneidezähne und eventuell die Hakenzähne betroffen – also dem Pferd öfter mal ins Maul zu schauen ist sehr ratsam…! Am meisten sind ältere Tiere ab ca. 15 Jahren betroffen, vornehmlich Wallache und angeblich besonders die Robustrassen, aber sonst macht EOTRH vor nichts und niemand Halt. Damit wird klar: Die eher nicht so „kostbaren“ Pferde von weniger betuchten Eigentümern erkranken am häufigsten bzw. erfordern die größten Aufwendungen.

Unauffällige Symptome
Die Symptome können anfangs tückisch unauffällig sein und werden daher gern übersehen – bis es zu spät ist. Anfangs können kleine Fisteln oder rote Punkte am Zahnfleisch auftreten; später m. o. w. deutliche Rötungen um die Zahnhälse und beginnende Auftreibungen (Parodontose). Abbau der Zähne, Gestank aus dem Maul, Futterreste zwischen den Zähnen und Probleme mit dem Aufzäumen folgen meistens nach. Diese Symptome steigern sich recht flott, aber immer noch leicht übersehbar zu einem schmerzhaften Unwillen, hartes Futter abzubeißen (der Test-Klassiker ist eine dicke Karotte!) und sich im Maul berühren zu lassen; auch das Saufen von kaltem Wasser wird abgelehnt. Sind an den Zahnhälsen ungewöhnliche Ablagerungen von Zahnstein und Schwellungen zu bemerken, ist es bereits für erhaltende Maßnahmen zu spät, denn dann hat das Endstadium meist eingesetzt. Enorme Schmerzen beim Fressen und Saufen führen letztlich zum Abmagern und Leistungsverlust bis zum völligen Verfall des Tieres. Die Zahnfächer sind dann oft abnorm aufgetrieben, entzündet, extrem schmerzhaft, die Zähne locker und fallen letztlich aus oder zerbrechen. Das Pferd leidet unter allen Symptomen einer schweren Entzündung und vor allem unter starken Schmerzen, was auch in eine Depression führen kann.

Behandlungs-Ansätze
Die Behandlungsmöglichkeiten sind limitiert. Im Anfangsstadium kann ein versierter „Pferde-Zahnarzt“ durch Kürzen der Schneidezähne, Reinigen der Zwischenräume, Abtragen von Zahnstein und Sanieren der Maulflora etwas Linderung verschaffen. Die Analyse und Sanierung des Stoffwechsels erscheint sinnvoll, zumal es Hinweise gibt, dass EOTRH entweder mit Stoffwechselproblemen gekoppelt auftritt oder ursächlich auf solche zurückzuführen ist. Die häufige Kombination mit Cushing, Hufrehe, Hautproblemen, Niereninsuffizienz und Übersäuerung legt nahe, dass es sich auch bei EOTRH um eine Krankheit aus diesem Komplex handeln könnte – die sich eben „nur“ über die Zähne auswirkt.

Die letzte Konsequenz und einzige „Heilung“ ist das Ziehen der befallenen Zähne. Dem geht eine röntgenologische Befundung voraus, die unter einer Sedierung stattfindet, denn dazu muss dem Pferd eine Röntgenplatte ins Maul geschoben werden. So wird der Grad der Erkrankung sichtbar, was wiederum die Zahl der zu extrahierenden Zähne und die Dringlichkeit aufzeigt. Hat der TA eine konkrete Diagnose, können die befallenen Zähne entweder daheim ambulant gezogen werden, was unter Lokalanästhesie geschieht, oder aber in einer Klinik, wo man in der Regel auch auf eine Vollnarkose zurückgreifen kann, wenn diese erforderlich wird. Die Zahl der zu ziehenden Zähne, das Alter des Pferdes, seine Verfassung, die Schwere des Befalls und etwaige zu erwartende Komplikationen (Zustand der Zähne…) entscheiden, welchen Weg der TA einzuschlagen empfiehlt.

Die Kosten
Die veranschlagten Kosten für diese Behandlung lassen die Besitzer des Pferdes meist kurz nach Luft schnappen: eine ambulante Extraktion der Schneidezähne zuzüglich Röntgen, Medikamente und Nachsorge zieht in der Regel einen vierstelligen Betrag nach sich. Zu überlegen gibt es aber nicht viel –  das Wohl des Pferdes und letztlich sein Überleben müssen einem das allemal wert sein.
Mein eigenes Pferd wurde komplett an der Vet. Uni. Wien behandelt, wobei ein Aufenthalt von ca. einer Woche und die Extraktion aller Schneidezähne sowie eine Sanierung der Backenzähne nötig waren. Inklusive aller Medikamente schlug sich das mit ca. 1.700 € zu Buche, noch ohne die häusliche Nachsorge, die einige 100 Euro dazukommen lässt.

Der Fall Ramazotti
Die Grazerin Conny Pickl, vielfache Meisterin im Voltigieren, musste ihr Pferd Ramazotti umfangreich sanieren lassen und dafür mit diversen Vorbehandlungen und Extras runde 2.500 € hinblättern. Ihr Fall zeigt, wie unterschiedlich der Verlauf von EOTRH sein kann – und dass scheinbar unbedeutende Anzeichen erste Hinweise auf diese Erkrankung sein können, etwa der Umstand, dass Ramazotti jahrelang nicht von Karotten abgebissen und immer sehr langsam Heu gefressen hat. Hier ihre Schilderung:

„Mein über alles geliebter Ramazotti wurde dieses Jahr 17 Jahre alt! Am Ostersonntag 2017 – es war der 21. April – war Ramazotti plötzlich ein anderes Pferd! Als er einen Bissen Heu fressen wollte, ist er komplett ausgezuckt, am Paddock panisch im Kreis rotiert, bis er sich nach einigen Minuten beruhigte - und sind das ganze wiederholte! Ein Tierarzt hat uns wegen Verdachts auf eventuelle neurologische Schäden nach Wien überwiesen! Das Aufhalftern und Verladen hat sich äußerst schwierig gestaltet, da er dem Schmerz entfliehen wollte und wie wild im Kreis galoppiert ist! In Wien ausgeladen, zeigte sich zuerst ein entspanntes Pferd, einen Moment später ein steigendes Pferd! Es stellte sich heraus, dass seine „Aussetzer“ reproduzierbar waren, und zwar vom Druck des Halfters bzw. ganz einfach beim Fressen (in unserem Fall schon gepflücktes Gras). Neurologische Schäden haben sie damit aber direkt ausgeschlossen!

Am Dienstag nach Ostern wurde von Dr. Simhofer die Diagnose EOTRH gestellt! Trotz der Diagnose war noch immer nicht klar, ob die Schmerzen tatsächlich von den Zähnen kommen. Trotz Schmerzmittel ließ er sich nicht mehr am Kopf angreifen, er hatte zwar keine Panikattacken vor Heu, aber kopfscheu war er von einem auf den anderen Tag komplett! Am 2. Mai war erstmals die Rede von „Zähne entfernen lassen“. Am 12.5. wurde Ramazotti wieder in die Klinik gebracht, um am 13.5. und 15.5. je sechs Zähne gezogen zu bekommen. Nach Vollendung der Zahnextraktion war sofort klar, das ist der richtige Weg! Ramazotti hat noch am Mittwoch (15. 05.) Abend begonnen, Heu zu fressen und wurde nur mit dem normalen Schmerzmittel schmerzfrei gestellt. Wir haben immer mit einem großen Kübel und lauwarmem Kamillentee, in den wir kleine Stücke Äpfel oder Karotte geschnitten haben, gespült. (Den Kamillentee immer feinst filtern, da die Kamillenblüten nicht in die Wunde kommen dürfen.)

Heute weiß ich, dass er die Krankheit wohl schon Jahre mitgeschleppt hatte! Er hat noch nie in den letzten Jahren, in denen ich ihn habe, von Karotten abgebissen und immer sehr langsam Heu gefressen! Spannend aber, dass die Röntgen erst die letzten 12 Monate vor der Diagnose eine Veränderung gezeigt haben müssen! Nachdem die Zähne entfernt wurde, hat er das Fresstempo bei Heu ungefähr um 2/3 gesteigert! Das hat sich bis heute zwar wieder gelegt, aber die ersten Wochen hat es beim Fressen kein halten gegeben – er war ein wohl so fasziniert, dass man schmerzfrei fressen kann, dass er gar nicht genug bekommen konnte!“

Martin Haller/Conny Pickl

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